19.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

Cannes on Speed

Plakat Cannes
Offizielles Plakat der 75. Internationalen Filmfestspiele von Cannes
(Foto: Cannes 2022 Media Library)

Kurzkritiken zu den 75. Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2022

Von Redaktion

23.05.2022

Chronique d’une liaison passagère (Diary of a Fleeting Affair) (F 2022, R: Emmanuel Mouret) (Cannes Premiere)
Liebes­komödie der Stadt­neu­ro­tiker. Charlotte (Sandrine Kiberlain) und Simon (Vincent Macaigne) gehen eine Affaire ein, die sich bewusst unver­bind­lich will. Simon ist Fami­li­en­vater, Charlotte ist allein­er­zie­hend und liebt ihre Freiheit. Ihre Unab­hän­gig­keit vonein­ander thema­ti­sieren beide uner­müd­lich, wenn sie sich treffen, eigent­lich kommen sie, außer im Bett, nie richtig zu Potte, aus lauter Selbst­re­fle­xion und Meta-Geplau­dere. Das kann an Woody Allens Stadt­neu­ro­tiker erinnern, gehorcht aber auch der schönen fran­zö­si­schen Tradition der Liebes­ver­hand­lungen unter dem Zeichen des Liber­ti­nage, ist rasant insze­niert, fast schon Screwball. Mouret ist nach Les choses qu’on dit, les choses qu‘on fait (2020) zum zweiten Mal in Cannes, und ein Autor, der die hohe Kunst der Komödie beherrscht. Unbedingt zu entdecken. (Dunja Bialas)

22.05.2022

Triangle of Sadness (Schweden 2022, R: Ruben Östlund) (Compe­ti­tion)
»In den Wolken!« Das ist die einzige Zeile, die Iris Berben im neuen Film des Provo­ka­teurs Ruben Östlund bekommt. Immer wieder darf sie nur das sagen, wenn sie scheinbar unge­schminkt alt in ihrem Rettungs­boot auf einer Insel sitzt, zusammen mit anderen Gestran­deten, die sich in einer Robin­so­nade à la »Herr der Fliegen« mit deut­li­cher Botschaft hingeben: Wenn das System zusam­men­bricht, sind andere Trophäen als Rolex-Uhren gefragt. Nämlich: eigen­händig gefangene Fische. Die Episode davor spielt in einer Yacht, deren Höhepunkt ist, als beim Kapi­täns­dinner Austern und Cham­pa­gner gereicht werden. Weil der Kapitän aber ein Marxist und Säufer ist und nichts auf die Reichen gibt, findet das Dinner bei hohem Wellen­gang statt. Alles zuvor Geschlürfte erbricht sich in einer unbedingt als Kurzfilm auszu­kop­pelnden lang­ge­zo­genen Sequenz auf die Tische, in die als Kotzeimer gereichten Cham­pa­gner-Kübel und in die weißen Panama-Hüte. Sunnyi Melles performt als reiche Russin im fleisch­far­benen Body die Tour de Force ihres Lebens: als glit­schige Beute des wild­ge­wor­denen Schiffes schlit­tert sie im Kabi­nenklo hin- und her, erbricht und entlädt sich, den Hintern voran, in die Kloschüssel. Das ist maximal eklig und maximal anar­chisch. Was für ein Fest!
Zu Beginn dieses in jeder Hinsicht maßlosen Films führt uns Östlund in seine Lieb­lings­themen von Schönheit, Reichtum und als Attitüde vorge­tra­gene Kapi­ta­lis­mus­kritik auf eine Weise ein, dass sogar Heidi Klum ihre Freude gehabt hätte. Der titel­ge­bende »triangle of sadness« befindet sich an der Nasen­wurzel des Male-Models. Viel­leicht hilft Botox, damit er verschwindet? Östlund schmeißt sich nach The Square mit Triangle of Sadness wieder lautstark in das Paradox, angeblich das zu kriti­sieren, was er selbst insze­niert. Der Film ist voller Attrak­ti­ons­si­gnale, und niemals wirklich schmutzig oder hässlich, und keines­falls jemals revo­lu­ti­onär. Ob ich ein Foto für Östlund habe? Er wackelt leider. (Dunja Bialas)

Frère et soeur (F 2022, R: Arnaud Desplechin) (Compe­ti­tion)
Die uner­gründ­liche Seite des Hasses. Alice (Marion Cotillard) und Louis (Melvil Poupaud) sind Bruder und Schwester, die eine glück­liche Kindheit zusammen hatten. Ja, es war richtige Geschwis­ter­liebe, aber ohne Trans­gres­sion. Im Erwach­se­nen­alter haben sie sich aus unbe­kannten Gründen entzweit, hassen sich abgrund­tief. Keiner von ihnen weiß, warum, auch die Zuschauer nicht. In einer Versöh­nung­szene wird mit einer Geste der Hass vom Tisch gefegt, man landet zusammen im Bett, geschwis­ter­lich natürlich, auch wenn Louis nackt unters Laken schlüpft. Das sind halt exal­tierte Künst­ler­per­sön­lich­keiten, die uns Desplechin auftischt. Sie: Schau­spie­lerin, die in Ohnmacht fällt, wenn sie ihren Bruder in der Nähe wittert. Er: Schrift­steller in Schaf­fens­krise, der sich dem Opium und Alkohol hingibt und in einem seiner Trips schon mal fliegen kann und Lille von oben sieht. Als er plötzlich einen kreativen Schub erfährt, klebt er weißes Papier ans Fenster, auf das er im Furor schreibt, bis der Morgen naht. Das sind bis überaus klischee­hafte Kreations- und Genie-und-Wahnsinns-Fantasien. Davor, dazwi­schen und danach wird gestorben: der Sohn von Louis, die boden­s­tän­digen Eltern der Geschwister, die der Kontin­genz zum Opfer fallen: Als sie einer jungen Frau helfen wollen, die ihr Auto gegen einen Baum gelenkt hat, werden sie von einem Laster überrollt.
Vergeb­lich wartet man ange­sichts des aufget­unten Plots auf die Einladung, das alles als ironische Über­spit­zungen zu lesen. Nein, das ist ernst gemeint, reiht sich ein in die zwar immer seltsamen, aber doch reiz­vollen Filme Desplechins wie Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle) (1996) und Rois et reines (2004). Lehrstück über den Exis­ten­zia­lismus? Das wäre schon sehr wohl­wol­lend. Viel­leicht zu viel Opium? (Dunja Bialas)

20.05.2022

Top Gun: Maverick (USA 2022, R: Joseph Kosinski) (Out of Compe­ti­tion)
Joseph Kosinskis Film reist in diese Vergan­gen­heit, richtet seinen Blick aber in die Zukunft. Mit gran­diosen Action­szenen ist Top Gun: Maverick perfekt ausba­lan­ciert zwischen Nostalgie und der Notwen­dig­keit, sich der Gegenwart zu stellen. Das unver­gleich­liche Grinsen von Tom Cruise dient dazu als Klebstoff. Dieser Film ist voll­kommen old school, gutes Spek­ta­kel­kino, mit Krach-Zack-Bumm und Kitsch­musik. Boomer­kino total, nicht nur wegen dem Kuss von Cruise und Jennifer Connelly (in die wir alle mit 13 verliebt waren, als sie in Once Upon a Time in America debü­tierte), also genau das Richtige für Cannes zwischen all den sensiblen Autoren­filmen. Kosinski erfindet überhaupt nichts neu, will es auch gar nicht, und das ist ja alles in unseren Zeiten eher eine gute Nachricht. (Rüdiger Suchsland)

19.05.2022

Coupez! (Frank­reich 2022, R: Michel Hazana­vicius) (Out of Competion)
Man glaubt es kaum: Elf Jahre bereits ist es schon her, dass der fran­zö­si­sche Regisseur Michel Hazana­vicius mit dem nost­al­gi­schen Stummfilm The Artist bei den Film­fest­spielen von Cannes seine Premiere erlebte – der Beginn eines Welt­erfolgs, der mit dem Oscar gekrönt wurde. Jetzt ist Hazana­vicius zurück an der Croisette – mit Coupez!, dem Eröff­nungs­film der 75. Jubiläums­aus­gabe des wich­tigsten Film­fes­ti­vals der Welt. Eine Komödie und ein Zombie­film, sehr sehr schräg, irgendwo zwischen »nicht auszu­halten« und »uner­wartet spek­ta­kulär«. Und ein Film im Film im Film.  Coupez! ist ein Thriller und eine in Rück­blenden erzählte dunkle Komödie über das Filme­ma­chen. Aber was ist der Sinn eines Films, der sich über das Filme­ma­chen und das Kino lustig macht? Ist das Selbst­ironie? Oder Defä­tismus und Selbst­auf­gabe des Film­fes­ti­vals? Selbst­auf­gabe oder Selbst­ironie? Diese Frage muss sich auch Hazana­vicius selber stellen. (Rüdiger Suchsland)