75. Filmfestspiele Cannes 2022
Cannes on Speed |
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Offizielles Plakat der 75. Internationalen Filmfestspiele von Cannes | ||
(Foto: Cannes 2022 Media Library) |
Von Redaktion
Chronique d’une liaison passagère (Diary of a Fleeting Affair) (F 2022, R: Emmanuel Mouret) (Cannes Premiere)
Liebeskomödie der Stadtneurotiker. Charlotte (Sandrine Kiberlain) und Simon (Vincent Macaigne) gehen eine Affaire ein, die sich bewusst unverbindlich will. Simon ist Familienvater, Charlotte ist alleinerziehend und liebt ihre Freiheit. Ihre Unabhängigkeit voneinander thematisieren beide unermüdlich,
wenn sie sich treffen, eigentlich kommen sie, außer im Bett, nie richtig zu Potte, aus lauter Selbstreflexion und Meta-Geplaudere. Das kann an Woody Allens Stadtneurotiker erinnern, gehorcht aber auch der schönen französischen Tradition der Liebesverhandlungen unter dem Zeichen des Libertinage, ist rasant inszeniert, fast schon Screwball. Mouret ist nach Les choses qu’on dit, les choses qu‘on fait (2020) zum zweiten Mal in Cannes, und ein
Autor, der die hohe Kunst der Komödie beherrscht. Unbedingt zu entdecken. (Dunja Bialas)
Triangle of Sadness (Schweden 2022, R: Ruben Östlund) (Competition)
»In den Wolken!« Das ist die einzige Zeile, die Iris Berben im neuen Film des Provokateurs Ruben Östlund bekommt. Immer wieder darf sie nur das sagen, wenn sie scheinbar ungeschminkt alt in ihrem Rettungsboot auf einer Insel sitzt, zusammen mit anderen Gestrandeten, die sich in einer Robinsonade à la »Herr der Fliegen« mit deutlicher Botschaft hingeben: Wenn das System
zusammenbricht, sind andere Trophäen als Rolex-Uhren gefragt. Nämlich: eigenhändig gefangene Fische. Die Episode davor spielt in einer Yacht, deren Höhepunkt ist, als beim Kapitänsdinner Austern und Champagner gereicht werden. Weil der Kapitän aber ein Marxist und Säufer ist und nichts auf die Reichen gibt, findet das Dinner bei hohem Wellengang statt. Alles zuvor Geschlürfte erbricht sich in einer unbedingt als Kurzfilm auszukoppelnden langgezogenen Sequenz auf die Tische, in die
als Kotzeimer gereichten Champagner-Kübel und in die weißen Panama-Hüte. Sunnyi Melles performt als reiche Russin im fleischfarbenen Body die Tour de Force ihres Lebens: als glitschige Beute des wildgewordenen Schiffes schlittert sie im Kabinenklo hin- und her, erbricht und entlädt sich, den Hintern voran, in die Kloschüssel. Das ist maximal eklig und maximal anarchisch. Was für ein Fest!
Zu Beginn dieses in jeder Hinsicht maßlosen Films führt uns Östlund in seine
Lieblingsthemen von Schönheit, Reichtum und als Attitüde vorgetragene Kapitalismuskritik auf eine Weise ein, dass sogar Heidi Klum ihre Freude gehabt hätte. Der titelgebende »triangle of sadness« befindet sich an der Nasenwurzel des Male-Models. Vielleicht hilft Botox, damit er verschwindet? Östlund schmeißt sich nach The Square mit Triangle of Sadness wieder
lautstark in das Paradox, angeblich das zu kritisieren, was er selbst inszeniert. Der Film ist voller Attraktionssignale, und niemals wirklich schmutzig oder hässlich, und keinesfalls jemals revolutionär. Ob ich ein Foto für Östlund habe? Er wackelt leider. (Dunja Bialas)
Frère et soeur (F 2022, R: Arnaud Desplechin) (Competition)
Die unergründliche Seite des Hasses. Alice (Marion Cotillard) und Louis (Melvil Poupaud) sind Bruder und Schwester, die eine glückliche Kindheit zusammen hatten. Ja, es war richtige Geschwisterliebe, aber ohne Transgression. Im Erwachsenenalter haben sie sich aus unbekannten Gründen entzweit, hassen sich abgrundtief. Keiner von ihnen weiß, warum, auch die Zuschauer nicht. In einer
Versöhnungszene wird mit einer Geste der Hass vom Tisch gefegt, man landet zusammen im Bett, geschwisterlich natürlich, auch wenn Louis nackt unters Laken schlüpft. Das sind halt exaltierte Künstlerpersönlichkeiten, die uns Desplechin auftischt. Sie: Schauspielerin, die in Ohnmacht fällt, wenn sie ihren Bruder in der Nähe wittert. Er: Schriftsteller in Schaffenskrise, der sich dem Opium und Alkohol hingibt und in einem seiner Trips schon mal fliegen kann und Lille von oben sieht.
Als er plötzlich einen kreativen Schub erfährt, klebt er weißes Papier ans Fenster, auf das er im Furor schreibt, bis der Morgen naht. Das sind bis überaus klischeehafte Kreations- und Genie-und-Wahnsinns-Fantasien. Davor, dazwischen und danach wird gestorben: der Sohn von Louis, die bodenständigen Eltern der Geschwister, die der Kontingenz zum Opfer fallen: Als sie einer jungen Frau helfen wollen, die ihr Auto gegen einen Baum gelenkt hat, werden sie von einem Laster
überrollt.
Vergeblich wartet man angesichts des aufgetunten Plots auf die Einladung, das alles als ironische Überspitzungen zu lesen. Nein, das ist ernst gemeint, reiht sich ein in die zwar immer seltsamen, aber doch reizvollen Filme Desplechins wie Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle) (1996) und Rois et reines (2004). Lehrstück über den Existenzialismus? Das wäre schon sehr wohlwollend. Vielleicht zu viel Opium?
(Dunja Bialas)
Top Gun: Maverick (USA 2022, R: Joseph Kosinski) (Out of Competition)
Joseph Kosinskis Film reist in diese Vergangenheit, richtet seinen Blick aber in die Zukunft. Mit grandiosen Actionszenen ist Top Gun: Maverick perfekt ausbalanciert zwischen Nostalgie und der
Notwendigkeit, sich der Gegenwart zu stellen. Das unvergleichliche Grinsen von Tom Cruise dient dazu als Klebstoff. Dieser Film ist vollkommen old school, gutes Spektakelkino, mit Krach-Zack-Bumm und Kitschmusik. Boomerkino total, nicht nur wegen dem Kuss von Cruise und Jennifer Connelly (in die wir alle mit 13 verliebt waren, als sie in Once Upon a Time in America debütierte), also genau
das Richtige für Cannes zwischen all den sensiblen Autorenfilmen. Kosinski erfindet überhaupt nichts neu, will es auch gar nicht, und das ist ja alles in unseren Zeiten eher eine gute Nachricht. (Rüdiger Suchsland)
Coupez! (Frankreich 2022, R: Michel Hazanavicius) (Out of Competion)
Man glaubt es kaum: Elf Jahre bereits ist es schon her, dass der französische Regisseur Michel Hazanavicius mit dem nostalgischen Stummfilm The Artist bei den
Filmfestspielen von Cannes seine Premiere erlebte – der Beginn eines Welterfolgs, der mit dem Oscar gekrönt wurde. Jetzt ist Hazanavicius zurück an der Croisette – mit Coupez!, dem Eröffnungsfilm der 75. Jubiläumsausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt. Eine Komödie und ein Zombiefilm, sehr sehr schräg, irgendwo zwischen »nicht auszuhalten« und »unerwartet spektakulär«. Und ein Film im Film im Film. Coupez! ist ein Thriller und eine in Rückblenden erzählte dunkle Komödie über das Filmemachen. Aber was ist der Sinn eines Films, der sich über das Filmemachen und das Kino lustig macht? Ist das Selbstironie? Oder Defätismus und Selbstaufgabe des Filmfestivals? Selbstaufgabe oder Selbstironie? Diese Frage muss sich auch Hazanavicius selber stellen. (Rüdiger Suchsland)