Von Töchtern, Blumen und Gefängnissen |
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Den Kontakt mit der Welt draußen halten: Peter Kerkeres hat in 107 Mothers ein Frauengefängnis in Odessa inszeniert | ||
(Foto: Peter Kerkeres / Mittel Punkt Europa Filmfest) |
Von Dunja Bialas
Was für ein Auftakt des diesjährigen Mittel Punkt Europa Filmfests! Die Kunst der Animation zeigt die tschechische Animationsregisseurin Michaela Pavlátová im Eröffnungsfilm My Sunny Maad (2021). Die junge Tschechin Helena verliebt sich in dem für die Golden Globes 2022 nominierten Film in den Afghanen Nazir und zieht nichtsahnend mit ihm nach Afghanistan, direkt in den Schoß des Patriarchats, aber auch ungewohnter Frauensolidarität. Obwohl sie ihre Identität wechselt – sie heißt jetzt Heera –, kann noch nicht einmal die körperverhüllende Burka verschleiern, dass sie eine – Achtung, Perspektivwechsel! – aus dem Westen ist. Sie wird sexuell belästigt und von den US-amerikanischen Militärs für eine gehalten, die beruflich in Afghanistan ist. Ihr Mann Nazir wird in einer Szene als ihr vermeintlicher Fahrer buchstäblich in die Wüste geschickt. (Projektor im Gasteig HP 8, 23.05., 19:00 Uhr)
Der Perspektivwechsel der Blickrichtung ist entscheidend. Das Mittel Punkt Europa Festival suggeriert nicht ohne Grund das Zentrum eines Kreises, zu dem es viele Zugänge gibt: von Westen, von Osten, von Süden, von Norden. Und dort, in Afghanistan, liegt Tschechien nun mal im Westen. Geradezu ein Coup ist es, dass die Macher des Mittel Punkt Europa Festivals mit der Wahl ihres Eröffnungsfilms an den Krisenherd erinnern, der die Weltöffentlichkeit Ende letzten Jahres beschäftigt hat: die Rückkehr der Taliban und mit ihnen die Rückkehr der absoluten Repression der Frauen.
Die aktuellen Krisen, die sich, jetzt aus unserer Sicht, in der östlichen Sphäre von Europa abspielen, gelangen in der Festivalwoche mit sehr kraftvollen Filmen zur Darstellung, die das Dysphorische vieler Filme – die ich selbst in den letzten Wochen sehen konnte, beispielsweise beim GoEast-Festival in Wiesbaden – nicht oder nur kaum bespielen. So glimmt zarte Hoffnung zwischen den Liedzeilen der gutgelaunten Band-Aktivistinnen in Irena Stetsenkos Roses. Die Ukrainerin hat ihrem Dokumentarfilm über die Dakh Daughters »Film-Cabaret« genannt, was schon verrät, dass trotz des Ernstes, der bei den Auftritten und Aktionen der avantgardistischen Performancegruppe herrscht, auch viel Lust dabei ist, die Dinge auf die Spitze zu treiben. Stellenweise erinnern die Bühnenauftritte an die berühmten russischen Pussy Riot, und auch die Dakh Daughters stellten sich gegen das undemokratische System eines Herrschers: Wiktor Janukowytsch wollte 2014 die Absichtserklärung zum EU-Beitritt nicht unterzeichnen, in der Folge kam es zu starken Formen des Widerstands und des Protests von der Bevölkerung in Kyev, die nur durch die Waffengewalt des Regimes niedergeschlagen werden konnten. Der Bürgerkrieg war da, so sieht man es in dem Film Maidan von Sergei Losnitza. In Roses kehren wir noch einmal auf den Maidan von 2014 zurück, mitten in die Proteste, wo die Dakh Daughters performen. Auch sie lassen sich nicht unterkriegen. Der Gedanke beschleicht einen angesichts der Frauen-Power, dass die Frauen doch das friedlichere Geschlecht sein müssen und dass der Putin-Angriffskrieg überwiegend von Männern gemacht wird. Natürlich aber nicht von den Männern. (Projektor im Gasteig HP 8, 27. 05., 20:30 Uhr)
Frauen stehen ebenfalls im Zentrum des Dokumentarfilms, der sich mit einem Nachbarland der Ukraine befasst, das gerade erlitten hat, wogegen sich die Ukraine nun verzweifelt versucht zu wehren: Belarus. When Flowers Are Not Silent (2021) des polnischen Regisseurs Andrei Kutsila, der in Belarus auf der Kunstakademie studiert hat, enthält bereits viel Poesie, auch dort, wo einem nicht mehr zum Träumen zumute ist. Der Film setzt ein nach der Zerschlagung der Demokratiebewegung. Männer und Frauen kamen gleichermaßen ohne Grund ins Gefängnis, man sieht zu Beginn, wie sie von den Milizen geradezu von der Straße weggepflückt und eingesackt werden – wie Blumen am Wegesrand. Blumen, die man in der Folge nicht mehr gegossen hat. Eine Frau sagt einmal, dass sie im Gefängnis das Essen verlernt habe, nachdem sie zwei Tage keine Nahrung bekommen hatte. Ihr ist buchstäblich der Appetit vergangen. Der Film in Schwarzweiß ist ein Blick in den Alltag der Frauen, die sich in ihren Wohnungen treffen, um neue Kraft nach ihren Erfahrungen zu schöpfen, auch wenn die Verhältnisse aussichtslos erscheinen. Auch hier überrascht der Humor, aber auch die Abgeklärtheit. (Projektor im Gasteig HP 8, 26.05. 18:00 Uhr)
Das Mittel Punkt Europa Filmfest umgeht natürlich mit der Wahl seiner Länder die oft diskutierte Frage, wo eigentlich der Mittelpunkt Europas sei. Der Dokumentarfilmer Stanislaw Mucha hat dies vor ein paar Jahren in seinem Film Die Mitte lustvoll aufgepickt. Und es wäre in der Tat beckmesserisch, sich dieser Frage erneut zu widmen.
Das Programm kann mit weiteren Höhepunkten aufwarten: Da ist zum Beispiel 107 Mothers des tschechischen Regisseurs Peter Kerekes, der berühmt ist für seine stilistisch aufgetunten Dokumentarfilme. Seine ukrainische Co-Produktion ist diesmal ein Spielfilm, gedreht aber hat er in einem realen Frauengefängnis in Odessa. Nein, es geht nicht um politisch Inhaftierte, sondern um Verbrecherinnen aus Leidenschaft. Aus dem Zusammenspiel von Schauspielerinnen und realen Inhaftierten entsteht ein sensibles Werk über den Gefängnisalltag – weit entfernt von »Orange is the New Black« und ganz ohne Klischees. (Projektor im Gasteig HP 8, 27.05., 18:00 Uhr)
Ohne Not kann sich das Mittel Punkt Europa Filmfest dieses Jahr zu »Höhe Punkt Europa Filmfest« umtaufen.
MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST
23. bis 29.5.2022
Alle Filmvorführungen finden im Projektor im Gasteig HP 8 statt.
Karten zu 7,- / 5,- € gibt es im Vorverkauf bei München Ticket.
Eine Veranstaltung der Filmstadt München e.V.