19.05.2022

Von Töchtern, Blumen und Gefängnissen

107 MOTHERS
Den Kontakt mit der Welt draußen halten: Peter Kerkeres hat in 107 Mothers ein Frauengefängnis in Odessa inszeniert
(Foto: Peter Kerkeres / Mittel Punkt Europa Filmfest)

Das Mittel Punkt Europa Filmfest lädt mit kraftvollen Filmen von der Mitte Europas zum Perspektivwechsel ein

Von Dunja Bialas

Was für ein Auftakt des dies­jäh­rigen Mittel Punkt Europa Filmfests! Die Kunst der Animation zeigt die tsche­chi­sche Anima­ti­ons­re­gis­seurin Michaela Pavlátová im Eröff­nungs­film My Sunny Maad (2021). Die junge Tschechin Helena verliebt sich in dem für die Golden Globes 2022 nomi­nierten Film in den Afghanen Nazir und zieht nichts­ah­nend mit ihm nach Afgha­ni­stan, direkt in den Schoß des Patri­ar­chats, aber auch unge­wohnter Frau­en­so­li­da­rität. Obwohl sie ihre Identität wechselt – sie heißt jetzt Heera –, kann noch nicht einmal die körper­ver­hül­lende Burka verschleiern, dass sie eine – Achtung, Perspek­tiv­wechsel! – aus dem Westen ist. Sie wird sexuell belästigt und von den US-ameri­ka­ni­schen Militärs für eine gehalten, die beruflich in Afgha­ni­stan ist. Ihr Mann Nazir wird in einer Szene als ihr vermeint­li­cher Fahrer buchs­täb­lich in die Wüste geschickt. (Projektor im Gasteig HP 8, 23.05., 19:00 Uhr)

Der Perspek­tiv­wechsel der Blick­rich­tung ist entschei­dend. Das Mittel Punkt Europa Festival sugge­riert nicht ohne Grund das Zentrum eines Kreises, zu dem es viele Zugänge gibt: von Westen, von Osten, von Süden, von Norden. Und dort, in Afgha­ni­stan, liegt Tsche­chien nun mal im Westen. Geradezu ein Coup ist es, dass die Macher des Mittel Punkt Europa Festivals mit der Wahl ihres Eröff­nungs­films an den Krisen­herd erinnern, der die Weltöf­fent­lich­keit Ende letzten Jahres beschäf­tigt hat: die Rückkehr der Taliban und mit ihnen die Rückkehr der absoluten Repres­sion der Frauen.

Die aktuellen Krisen, die sich, jetzt aus unserer Sicht, in der östlichen Sphäre von Europa abspielen, gelangen in der Festi­val­woche mit sehr kraft­vollen Filmen zur Darstel­lung, die das Dyspho­ri­sche vieler Filme – die ich selbst in den letzten Wochen sehen konnte, beispiels­weise beim GoEast-Festival in Wiesbaden – nicht oder nur kaum bespielen. So glimmt zarte Hoffnung zwischen den Lied­zeilen der gutge­launten Band-Akti­vis­tinnen in Irena Stetsenkos Roses. Die Ukrai­nerin hat ihrem Doku­men­tar­film über die Dakh Daughters »Film-Cabaret« genannt, was schon verrät, dass trotz des Ernstes, der bei den Auftritten und Aktionen der avant­gar­dis­ti­schen Perfor­mance­gruppe herrscht, auch viel Lust dabei ist, die Dinge auf die Spitze zu treiben. Stel­len­weise erinnern die Bühnen­auf­tritte an die berühmten russi­schen Pussy Riot, und auch die Dakh Daughters stellten sich gegen das unde­mo­kra­ti­sche System eines Herr­schers: Wiktor Janu­ko­wytsch wollte 2014 die Absichts­er­klärung zum EU-Beitritt nicht unter­zeichnen, in der Folge kam es zu starken Formen des Wider­stands und des Protests von der Bevöl­ke­rung in Kyev, die nur durch die Waffen­ge­walt des Regimes nieder­ge­schlagen werden konnten. Der Bürger­krieg war da, so sieht man es in dem Film Maidan von Sergei Losnitza. In Roses kehren wir noch einmal auf den Maidan von 2014 zurück, mitten in die Proteste, wo die Dakh Daughters performen. Auch sie lassen sich nicht unter­kriegen. Der Gedanke beschleicht einen ange­sichts der Frauen-Power, dass die Frauen doch das fried­li­chere Geschlecht sein müssen und dass der Putin-Angriffs­krieg über­wie­gend von Männern gemacht wird. Natürlich aber nicht von den Männern. (Projektor im Gasteig HP 8, 27. 05., 20:30 Uhr)

Frauen stehen ebenfalls im Zentrum des Doku­men­tar­films, der sich mit einem Nach­bar­land der Ukraine befasst, das gerade erlitten hat, wogegen sich die Ukraine nun verzwei­felt versucht zu wehren: Belarus. When Flowers Are Not Silent (2021) des polni­schen Regis­seurs Andrei Kutsila, der in Belarus auf der Kunst­aka­demie studiert hat, enthält bereits viel Poesie, auch dort, wo einem nicht mehr zum Träumen zumute ist. Der Film setzt ein nach der Zerschla­gung der Demo­kra­tie­be­we­gung. Männer und Frauen kamen glei­cher­maßen ohne Grund ins Gefängnis, man sieht zu Beginn, wie sie von den Milizen geradezu von der Straße wegge­pflückt und einge­sackt werden – wie Blumen am Wegesrand. Blumen, die man in der Folge nicht mehr gegossen hat. Eine Frau sagt einmal, dass sie im Gefängnis das Essen verlernt habe, nachdem sie zwei Tage keine Nahrung bekommen hatte. Ihr ist buchs­täb­lich der Appetit vergangen. Der Film in Schwarz­weiß ist ein Blick in den Alltag der Frauen, die sich in ihren Wohnungen treffen, um neue Kraft nach ihren Erfah­rungen zu schöpfen, auch wenn die Verhält­nisse aussichtslos erscheinen. Auch hier über­rascht der Humor, aber auch die Abge­klärt­heit. (Projektor im Gasteig HP 8, 26.05. 18:00 Uhr)

Das Mittel Punkt Europa Filmfest umgeht natürlich mit der Wahl seiner Länder die oft disku­tierte Frage, wo eigent­lich der Mittel­punkt Europas sei. Der Doku­men­tar­filmer Stanislaw Mucha hat dies vor ein paar Jahren in seinem Film Die Mitte lustvoll aufge­pickt. Und es wäre in der Tat beck­mes­se­risch, sich dieser Frage erneut zu widmen.

Das Programm kann mit weiteren Höhe­punkten aufwarten: Da ist zum Beispiel 107 Mothers des tsche­chi­schen Regis­seurs Peter Kerekes, der berühmt ist für seine stilis­tisch aufget­unten Doku­men­tar­filme. Seine ukrai­ni­sche Co-Produk­tion ist diesmal ein Spielfilm, gedreht aber hat er in einem realen Frau­en­ge­fängnis in Odessa. Nein, es geht nicht um politisch Inhaf­tierte, sondern um Verbre­che­rinnen aus Leiden­schaft. Aus dem Zusam­men­spiel von Schau­spie­le­rinnen und realen Inhaf­tierten entsteht ein sensibles Werk über den Gefäng­nis­alltag – weit entfernt von »Orange is the New Black« und ganz ohne Klischees. (Projektor im Gasteig HP 8, 27.05., 18:00 Uhr)

Ohne Not kann sich das Mittel Punkt Europa Filmfest dieses Jahr zu »Höhe Punkt Europa Filmfest« umtaufen.

MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST
23. bis 29.5.2022

Alle Film­vor­füh­rungen finden im Projektor im Gasteig HP 8 statt.
Karten zu 7,- / 5,- € gibt es im Vorver­kauf bei München Ticket.

Eine Veran­stal­tung der Filmstadt München e.V.