23.06.2022

Ertrinken im Meer der Möglichkeiten

Pacifiction
Auch Albert Serras neuer Film ist am Start...
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Albert Serra)

Funny Games: An diesem Donnerstag beginnt das 39. Filmfest München mit Corsage. Später laufen noch bessere Filme – Versuch eines Überblicks

Von Rüdiger Suchsland

»Fester, fester, fester hab ich gesagt. Fester« – das Korsett kann gar nicht fest genug gezogen werden. Nein, nein, nicht das des locker-flockigen Sommer­film­fests München, das jetzt – wenn man so will durchaus pande­mie­be­dingt – endlich wieder da statt­findet wo es hingehört: im Kino.
Sondern das der Kaiserin von Öster­reich.

Corsage, der Eröff­nungs­film des Filmfest München von Marie Kreutzer, erzählt von Elisabeth, »Sissi«, und bildet den Auftakt zu zehn Tagen eines heiteren Sommer­fes­ti­vals.

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Sissi mal ganz anders. Nicht als Bussi-Bussi-Herzens­girl mit Heimat­film-Appeal, sondern als spröde, ein wenig dauer­ge­nervte und gelang­weilte reiche Gattin, der ihre Schlösser zu groß und der Mann zu lang­weilig ist. Die Frau hat echte Probleme...

Eine »femi­nis­ti­sche Perspek­tive«, so sagen jetzt manche, habe dieser Film. Aber was ist eigent­lich das Femi­nis­ti­sche daran? Der »weibliche Blick«. Dass es um eine Frau geht, ist ja wohl kaum hinrei­chend. Ist es ein weib­li­cher Blick, eine Frau so zu zeigen. wie sie hier gezeigt wird, als irgendwie passiv-aggres­sive rebel­li­sche Schmer­zens­frau, die sich dann doch »nimmt was ihr gehört«, und genau weiß, wann und wie sie eine Ohnmacht vortäu­schen kann, und wie sie dann fallen muss, um sich nicht zu verletzen, aber doch glaub­würdig außer Dienst zu sein?
Man wüsste gerne mal, wie dieser Film aufge­nommen würde, hätte ihn ein Mann gemacht. Und die Behaup­tung, das ginge nicht, ist ein bisschen arg schlicht.

Die femi­nis­ti­sche Perspek­tive dieses Films ist aber mehr eine Behaup­tung als Wirk­lich­keit. Denn zum einen beweist sich Femi­nismus am wenigsten am Schau­platz eines Hofes im 19. Jahr­hun­dert, wo die Frauen der höfischen Gesell­schaft weitaus freier waren als Webe­rinnen oder Berg­werks­ar­bei­te­rinnen. Und Sissi ist, unter den ganzen Prin­zes­sinnen des 19. Jahr­hun­derts, noch einmal ein Spezi­al­fall.

Marie Kreutzer erzählt mehr von einem Menschen als Opfer der höfischen Gesell­schaft – Sissis Sohn Rudolf ist nicht weniger ein Opfer als seine Mami.

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Ein guter, inter­es­santer Film. Das einzige echte Problem dieses Films ist seine Haupt­dar­stel­lerin: Vicky Krieps, der mensch­ge­wor­dene »Luxemburg-Effekt« (gemeint ist die Film­för­de­rung, die Ausgabe-»Effekte« verlangt), mag manches können, eine Sissi ist sie nicht. Weder in der Tradition von Romy Schneider noch als moderne Frau des 21. Jahr­hun­derts an einem Hof des 19. Nun lebt aber gerade so ein Film vor allem von seiner Haupt­dar­stel­lerin. Wir müssen mit ihr fühlen und leiden. Geht das? Ich habe meine Zweifel. Hätte zum Beispiel jemand wie Marie Bäumer oder Nicolette Krebitz die öster­rei­chi­sche Kaiserin gespielt, dann wären die Verfrem­dungs­ef­fekte der Regis­seurin noch weit mehr aufge­gangen.
So aber funk­tio­niert nichts wirklich mit dieser Figur in einem ansonsten respek­ta­blen Film, der ein sehr bekanntes Thema noch einmal etwas anders erzählt.

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Man muss aller­dings auch realis­tisch sein: Corsage ist nun nicht allein aus roman­ti­schen Gründen der München-Eröff­nungs­film, oder deswegen, weil alle ihn so toll finden, sondern weil der Film bereits gut zwei Wochen später, am 7. Juli ins Deutsche Kino kommt, noch dazu von einem Münchner Verleih.
Win-Win auf baye­ri­sche Art.

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Ansonsten ist das Filmfest wieder einmal im Guten wie Schlechten das Cannes an der Isar. Schon klar: München ist nicht ansatz­weise so wichtig wie das Festival von Cannes und auch sonst hat München wenig Ähnlich­keiten mit einem Badeort an der Côte d’Azur.

Das Filmfest München speckt ab und wird dabei Cannes immer ähnlicher. Denn waren es früher einmal über 300 Filme, und vor der Pandemie immer noch rund 250, so werden in diesem Jahr nur 120 Filme aus 52 Ländern gezeigt. Immerhin. Das entspricht immer noch der Größe der wich­tigsten »A-Festivals« wie Cannes und Venedig.

Und von den 120 Filmen im Programm des Filmfest stammen allein 20 Filme, also ein Sechstel, aus dem dies­jäh­rigen Cannes-Programm. Weitere sechs Filme stammen aus dem Cannes-Programm vom letzten Jahr, mehr ein weiteres Dutzend Filme aus anderen A-Festivals wie Venedig, Locarno und San Sebastian. Die normalen Kino-Zuschauer muss das nicht weiter kümmern – man sieht hier Vorauf­füh­rungen von Filmen, die sowieso ins deutsche Kino kommen, denn Filme, die bisher noch keinen Kino­ver­leih haben, gibt es weitaus weniger unter den inter­na­tio­nalen Beiträgen in München.

Zugleich darf man nicht drum herum reden: Die Finanzen des Filmfest werden deutlich knapper. Vor drei Jahren hatte der Minis­ter­prä­si­dent Markus Söder noch groß­spurig von einer Verviel­fa­chung des Festi­valetats schwa­dro­niert – aber damals war auch Wahlkampf. Und dann kam, das immerhin muss man auch der baye­ri­schen Regie­rungs­partei zugute halten, Corona.

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Das Bild, das sich jetzt zeigt, ist diffus: »Im Meer der Möglich­keiten« heißt schon ein Blog­ein­trag auf der Filmfest-Seite – nicht unzu­tref­fend. Man hätte viel­leicht hinzu­fügen sollen, dass man bei dieser Seefahrt am besten eine Schwimm­weste und einen Rettungs­ring dabeihat, um im Meer der Möglich­keiten nicht zu ertrinken. Das Filmfest bietet einen solchen Rettungs­ring jeden­falls nicht. Und auch ein Bade­meister ist nicht in Reich­weite.

Es ist ein unglaub­lich unüber­sicht­li­ches, chao­ti­sches Programm, das von außen gesehen keinerlei Orien­tie­rung gibt. Was »Ciner­e­bels«, »Cine­vi­sion« und »Cine­mas­ters« unter­scheidet, können einem auch Film­fest­mit­ar­beiter nur vage erklären.
Ist viel­leicht auch egal, Haupt­sache Filme.

Das was aber wirklich neu ist, das sind die Kinofilme im Deutschen Wett­be­werb. Allein 15 der 35 Welt­pre­mieren befinden sich schon mal in diesem Wett­be­werb.

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Aber was sich sonst wirklich lohnt, hat man in Cannes und Venedig schon sehen können: Um nur mal heute zwei Beispiele zu nennen: Verlorene Illu­sionen von Xavier Giannoli nach einem Roman von Balzac: Opulentes, gut gemachtes Erzähl­kino – in dem es um die Korrum­pier­bar­keit der Medien im 19. Jahr­hun­dert geht, was aber gleich­zeitig noch hoch­ak­tuell ist.

Und dann das absolute Highlight Albert Serras Paci­fic­tion: Ein hypno­ti­scher Dreis­tünder, der einen mit der ersten Kame­ra­fahrt schon in Bann zieht.

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In einem Schlüs­sel­mo­ment von Paci­fic­tion erklärt De Roller, der von Benoît Magimel gespielte Hoch­kom­missar der fran­zö­si­schen Republik auf der Insel Tahiti, mit einem Hauch von Kultur­pes­si­mismus, aber keines­wegs von Nieder­lage, sondern trium­phie­rend, dass Politik »eine Diskothek ist«. Von hier aus beginnt ein langer und inten­siver Monolog, in dem er die Ohnmacht der Macht­haber erkennt und beschreibt, eher erklärt, dass Politik nur Chimäre, nur Bestand­teil einer Weltsicht ist, nach der die Menschen alles kontrol­lieren wollen, ohne zu erkennen, dass alles ihrer Macht entweicht, dass es andere, tiefere Kräfte gibt, die die Welt wirklich kontrol­lieren. Paci­fic­tion ist eine Chronik des Wirkens eben dieser Kräfte, eine Reflexion über poli­ti­sche und mensch­liche Ohnmacht, und über die Unfähig­keit, das Böse in der Welt auszu­rotten.
Etwas Schreck­li­ches und Unheim­li­ches kommt allmäh­lich an die Ober­fläche des Sicht­baren, seltsame Kräfte treiben uns auf eine Art Apoka­lypse zu, in der der von vielen vorher­ge­sagte Verfall des Westens erst noch geschehen muss, aber sicher geschehen wird. Das Böse ist auch in einen Raum einge­drungen, der vor Jahren von einigen als das letzte Paradies des Westens angesehen wurde, der als mögliche Zuflucht seiner ermüdeten Bewohner galt, als Jung­brunnen.

Claire Denis' Film L’intrus erzählte genau von diesem Raum, vor über 15 Jahren. Wir befinden uns im Herzen Poly­ne­siens, aber dieses einstige Paradies ist zu einem miesen Nachtclub verkommen, in dem sich eine Reihe von sinistren Figuren betrinkt, die dazu verdammt sind, als tote Seelen noch durch die dunkelste Nacht zu wandern. Es gibt keine Touristen mehr auf dieser Insel, nur ein paar Parasiten, die auf die Dämmerung warten, um in das Herz ihrer eigenen Hölle einzu­dringen.

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An diesem Ort am Rande der Welt verkleiden sich die Einge­bo­renen und halten Rituale aufrecht, die längst zu bloßen Simu­la­kren der Tradition geworden sind. Die Natur allein leuchtet weiter, wird aber nicht mehr in ihrer ganzen Pracht, sondern als etwas Geheim­nis­volles betrachtet. De Roller ist auf die Insel gekommen, um ein paar Dinge in Ordnung zu bringen, um an Dingen herum­zu­bas­teln, die sein poli­ti­sches Handeln recht­fer­tigen. Im Laufe des Films werden wir Zeuge einiger proto­kol­la­ri­scher Besuche des Funk­ti­onärs, deren großar­tigster ein Surftest vor den großen Wellen ist, eine Fahrt auf hoher See hinein in die Schat­tie­rungen von Blau.

Ein Märchen, eine koloniale Phantasie zwischen Coppola, Fass­binder, Chantal Akerman und Lucrecia Martel – ein wunder­barer Film für München.