30.06.2022
39. Filmfest München 2022

Das Atemholen vor der Revolution

Servus Papa, see you in hell
Auf der Suche nach einer neuen Heimat...
(Foto: 39. Filmfest München · Servus Papa, see you in hell)

Das neue deutsche Kino auf dem 39. Filmfest München präsentiert sich divers, aber nach den Krisen der letzten Jahre mit einer verzweifelten Sehnsucht nach Heim und Heimat. Das muss nicht schlimm sein.

Von Axel Timo Purr

In einem gerade veröf­fent­lichten Essay im Film­dienst hat Daniel Kothen­schulte auf die schwere Krise des deutschen Films hinge­wiesen: quali­tativ schlecht, quan­ti­tativ infla­ti­onär, falsch gefördert und inter­na­tional letzt­end­lich bedeu­tungslos. Ganz so schlimm scheint es um Deutsch­land und seine Filme aller­dings nicht bestellt zu sein, wie es der Perlen­tau­cher heute in einem klugen Quer­ver­weis auf Volker Schlön­dorffs Text im epd Film klar machte, denn das Publikum in den Kinos hat durchaus Interesse an inter­es­santen, unge­wöhn­li­chen Filmen, die inter­na­tional viel­leicht keine großen Erfolge feiern werden, aber die deutsche Kino­kultur erhalten werden. Wenn es sie denn gibt.

Das dürfte auch für die dies­jäh­rige Ausgabe der wohl inter­es­san­testen Sektion des Filmfests München, der Reihe Neues Deutsches Kino, aller­dings schon gelten, die wie schon die Jahre zuvor durch eine kreative Kura­tie­rung ein Bild von Deutsch­land zeichnet, von dem die meisten nichts ahnen, das Kino also, wie Siegfried Kracauer es einst formu­lierte, als Seis­mo­graph des kollek­tiven Unbe­wussten mehr weiß als die Gegenwart selbst. Dieses Unbe­wusste ist in diesem Jahr vor allem ein Kino, das sich nach den Jahren der nicht enden wollenden Krisen nach Heimat sehnt, und dem Daheim, dem Rückzug in einen Raum, der beschützt und im Notfall mit allen Mitteln gerettet werden muss.

So wie in Christoph Roths Servus Papa, See You in Hell, einem der stärksten Filme der deutschen Sektion. Zum einen wird hier schau­spie­le­risch stark und souverän insze­niert die tragische Endphase der legen­dären Kommune des Aktions-Künstlers Otto Muehl erzählt und dabei deutlich, dass selbst die besten 68er-Ideen – in diesem Fall »Sex ist erlaubt, aber Liebe verboten« und trans­pa­rente Hier­ar­chien – nicht davor schützen, dass Macht korrum­piert und Freiheit zu Gefan­gen­schaft wird. Zum anderen zeigt diese Zeitreise in das Öster­reich der sich öffnenden Grenzen Ungarns, dass eine Kommune nicht anders funk­tio­niert als heutige Quer­denker-Blasen oder die im gegen­wär­tigen Nach­rich­ten­fluss regel­mäßig aufpop­penden 12-Stämme-Abgründe und die Vergan­gen­heit der viel­leicht brutalste, aber auch lehr­reichste Zerr­spiegel unserer Gegenwart ist. Und dass man manchmal die Heimat aufgeben muss, um sie zu erhalten.

Heimat im weitesten Sinn ist bei Roth ein ebenso fragiles und hart umkämpftes Gut wie in Hanna Dooses neuem Film Wann kommst du meine Wunden küssen? Es ist fast so, als wären die jungen Helden aus Hanna Dooses groß­ar­tigem Debüt Staub auf unseren Herzen in die Midlife Crisis gekommen. Berlin ist vorbei, die »andere« Freiheit, die neue Heimat in den Bergen ist angesagt. Das macht aber auch nicht glück­li­cher und dann sind da noch die Verwer­fungen unauf­ge­ar­bei­teter Vergan­gen­heiten und am Ende drei Frauen am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Wie schon in ihrer dffb-Abschluss­ar­beit arbeitet Doose auch hier mit impro­vi­sierten Dialogen, dieses Mal aller­dings mit einem Ensemble bestens bekannter Schau­spieler. Das tut der Inten­sität zum Glück keinen Abbruch und erinnert durch das Berg-Setting, die »grup­pen­the­ra­peu­ti­schen« Momente und die grund­sätz­liche Hinter­fra­gung alter­nativ-utopi­scher Gesell­schafts­ent­würfe an Stefan Krohmers groß­ar­tigen Sie haben Knut, ist am Ende dann aber ganz Hanna Doose, denn hier wird nicht nur gestritten, geschrien und gesucht, sondern gibt es auch eine Kamera (Markus Zucker), die so zärtlich und schön wie ein Gedicht von Rilke ist.

Der rote Faden verlo­rener und wieder­ge­fun­dener Heimat zieht sich auch durch die übrigen Filme. Wir finden ihn bei Pola Becks staa­ten­loser Heldin in Der Russe ist einer, der Birken liebt, in Sophie Linnen­baums grotesker Film-im-Film-im-Film-Groteske The Ordi­na­ries (der sowohl den Förder­preis für die beste Regie als auch die Produk­tion erhalten hat), in Katharina Wolls mit dem Förder­preis für das beste Drehbuch ausge­zeich­neten Bezie­hungs- und femi­nis­ti­schem Selbst­er­mäch­ti­gungs­drama Alle wollen geliebt werden (mit einer über­ra­genden Anne Ratte-Polle) und auch in Naira Cavero Orihues scho­nungslos hoff­nungs­losem Sozi­al­drama Wut auf Kuba (das mit dem Förder­preis für die beste schau­spie­le­ri­sche Leistung prämiert wurde) und Oliver Grüttners Bestands­auf­nahme des neuen Abitu­ri­en­ten­jahr­gangs in Performer schauen wir defrag­men­tierten, dysfunk­tio­nalen Familien-, Liebes- und Freund­schafts­ver­hält­nissen zu, deren Täter wie Opfer auf ihre völlig unter­schied­li­chen Arten und Weisen versuchen, das wieder zu heilen, was unwi­der­ruf­lich zerbro­chen und verloren ist.

Wenn das nicht möglich ist, die Heilung über tradi­tio­nelles Erzählen fehl­schlägt, bleiben immer noch konzep­tu­elle Meta-Ebenen wie Felix Herrmann in seinem philo­so­phi­schen Spiel Gott ist ein Käfer, Marina Hufnagels hybrides Porträt einer Fridays-for-Future-Akti­vistin in Solast­algia, das alles und nichts dekon­stru­ie­rende Mutter-Theorem von Carolin Schmitz und dann die fast schon eska­pis­ti­schen Amalgame, wie Timo Müllers Der rote Berg oder Stefan Sarazins und Peter Kellers Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie, die Heimat in histo­ri­scher und kultu­reller Fremde verorten.

Auch die drei Doku­men­tar­filme der Reihe verweisen auf die verlorene Heimat der Vergan­gen­heit, um die Gegenwart zu verstehen, und erzählen dabei von einem Deutsch­land, das einen weiten Weg gegangen ist, um zu sich selbst zu finden, das wie in Sandra Prechtels Liebe Angst Raum für die Bewäl­ti­gung von trans­ge­ne­ra­tio­nalen Traumata gibt, das Rosa von Praunheim traurig über einen zu früh Geborenen wie Rex Gildo erzählen lässt und das letzt­end­lich eine deutsch­spra­chige Schrift­stel­lerin wie in Claudia Müllers Porträt Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen ermög­licht hat, die Heimat nicht nur stets im fami­liären und femi­nis­ti­schen, sondern immer auch im staats­po­li­ti­schen Kontext hinter­fragt hat.

Es ist fast so, als würden diese vielen Filme nur eine Geschichte erzählen, eine vom Aufbäumen gegen vergan­gene und noch bestehende Verhält­nisse, ein Aufbäumen, das übrigens auch Doris Dörrie in ihrem neuen Film Freibad übt, und Aron Lehmann in seiner Jagd­saison, die beide in der Reihe Spotlight ihre Premieren feierten. Klar ist aller­dings noch nicht, wofür dieses ganze Aufbäumen gut war, denn eine neue gesell­schafts-poli­ti­sche Utopie ist weiterhin nicht zu sehen, bewegen sich fast alle Filme in einem apoli­ti­schen Kontinuum, sind es vielmehr zertrüm­merten Utopien, denen wir hier beim Sterben zugesehen haben.

Viel­leicht erinnern all diese Filme deshalb auch an die Zeit des Bieder­meier, dem heime­ligen Atemholen nach den großen Kriegen, der Zeit, die zumindest in Deutsch­land der Revo­lu­tion voraus­ging. Und das macht am Ende dann doch Hoffnung, dass uns nicht nur große Zeiten, sondern auch große Filme bevor­stehen und das deutsche Kino dann ja viel­leicht auch wieder inter­na­tional eine neue, revo­lu­ti­onäre Größe sein wird.

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Zu allen erwähnten Filmen gibt es hier Kurz­kri­tiken.