39. Filmfest München 2022
Das Atemholen vor der Revolution |
||
Auf der Suche nach einer neuen Heimat... | ||
(Foto: 39. Filmfest München · Servus Papa, see you in hell) |
Von Axel Timo Purr
In einem gerade veröffentlichten Essay im Filmdienst hat Daniel Kothenschulte auf die schwere Krise des deutschen Films hingewiesen: qualitativ schlecht, quantitativ inflationär, falsch gefördert und international letztendlich bedeutungslos. Ganz so schlimm scheint es um Deutschland und seine Filme allerdings nicht bestellt zu sein, wie es der Perlentaucher heute in einem klugen Querverweis auf Volker Schlöndorffs Text im epd Film klar machte, denn das Publikum in den Kinos hat durchaus Interesse an interessanten, ungewöhnlichen Filmen, die international vielleicht keine großen Erfolge feiern werden, aber die deutsche Kinokultur erhalten werden. Wenn es sie denn gibt.
Das dürfte auch für die diesjährige Ausgabe der wohl interessantesten Sektion des Filmfests München, der Reihe Neues Deutsches Kino, allerdings schon gelten, die wie schon die Jahre zuvor durch eine kreative Kuratierung ein Bild von Deutschland zeichnet, von dem die meisten nichts ahnen, das Kino also, wie Siegfried Kracauer es einst formulierte, als Seismograph des kollektiven Unbewussten mehr weiß als die Gegenwart selbst. Dieses Unbewusste ist in diesem Jahr vor allem ein Kino, das sich nach den Jahren der nicht enden wollenden Krisen nach Heimat sehnt, und dem Daheim, dem Rückzug in einen Raum, der beschützt und im Notfall mit allen Mitteln gerettet werden muss.
So wie in Christoph Roths Servus Papa, See You in Hell, einem der stärksten Filme der deutschen Sektion. Zum einen wird hier schauspielerisch stark und souverän inszeniert die tragische Endphase der legendären Kommune des Aktions-Künstlers Otto Muehl erzählt und dabei deutlich, dass selbst die besten 68er-Ideen – in diesem Fall »Sex ist erlaubt, aber Liebe verboten« und transparente Hierarchien – nicht davor schützen, dass Macht korrumpiert und Freiheit zu Gefangenschaft wird. Zum anderen zeigt diese Zeitreise in das Österreich der sich öffnenden Grenzen Ungarns, dass eine Kommune nicht anders funktioniert als heutige Querdenker-Blasen oder die im gegenwärtigen Nachrichtenfluss regelmäßig aufpoppenden 12-Stämme-Abgründe und die Vergangenheit der vielleicht brutalste, aber auch lehrreichste Zerrspiegel unserer Gegenwart ist. Und dass man manchmal die Heimat aufgeben muss, um sie zu erhalten.
Heimat im weitesten Sinn ist bei Roth ein ebenso fragiles und hart umkämpftes Gut wie in Hanna Dooses neuem Film Wann kommst du meine Wunden küssen? Es ist fast so, als wären die jungen Helden aus Hanna Dooses großartigem Debüt Staub auf unseren Herzen in die Midlife Crisis gekommen. Berlin ist vorbei, die »andere« Freiheit, die neue Heimat in den Bergen ist angesagt. Das macht aber auch nicht glücklicher und dann sind da noch die Verwerfungen unaufgearbeiteter Vergangenheiten und am Ende drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Wie schon in ihrer dffb-Abschlussarbeit arbeitet Doose auch hier mit improvisierten Dialogen, dieses Mal allerdings mit einem Ensemble bestens bekannter Schauspieler. Das tut der Intensität zum Glück keinen Abbruch und erinnert durch das Berg-Setting, die »gruppentherapeutischen« Momente und die grundsätzliche Hinterfragung alternativ-utopischer Gesellschaftsentwürfe an Stefan Krohmers großartigen Sie haben Knut, ist am Ende dann aber ganz Hanna Doose, denn hier wird nicht nur gestritten, geschrien und gesucht, sondern gibt es auch eine Kamera (Markus Zucker), die so zärtlich und schön wie ein Gedicht von Rilke ist.
Der rote Faden verlorener und wiedergefundener Heimat zieht sich auch durch die übrigen Filme. Wir finden ihn bei Pola Becks staatenloser Heldin in Der Russe ist einer, der Birken liebt, in Sophie Linnenbaums grotesker Film-im-Film-im-Film-Groteske The Ordinaries (der sowohl den Förderpreis für die beste Regie als auch die Produktion erhalten hat), in Katharina Wolls mit dem Förderpreis für das beste Drehbuch ausgezeichneten Beziehungs- und feministischem Selbstermächtigungsdrama Alle wollen geliebt werden (mit einer überragenden Anne Ratte-Polle) und auch in Naira Cavero Orihues schonungslos hoffnungslosem Sozialdrama Wut auf Kuba (das mit dem Förderpreis für die beste schauspielerische Leistung prämiert wurde) und Oliver Grüttners Bestandsaufnahme des neuen Abiturientenjahrgangs in Performer schauen wir defragmentierten, dysfunktionalen Familien-, Liebes- und Freundschaftsverhältnissen zu, deren Täter wie Opfer auf ihre völlig unterschiedlichen Arten und Weisen versuchen, das wieder zu heilen, was unwiderruflich zerbrochen und verloren ist.
Wenn das nicht möglich ist, die Heilung über traditionelles Erzählen fehlschlägt, bleiben immer noch konzeptuelle Meta-Ebenen wie Felix Herrmann in seinem philosophischen Spiel Gott ist ein Käfer, Marina Hufnagels hybrides Porträt einer Fridays-for-Future-Aktivistin in Solastalgia, das alles und nichts dekonstruierende Mutter-Theorem von Carolin Schmitz und dann die fast schon eskapistischen Amalgame, wie Timo Müllers Der rote Berg oder Stefan Sarazins und Peter Kellers Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie, die Heimat in historischer und kultureller Fremde verorten.
Auch die drei Dokumentarfilme der Reihe verweisen auf die verlorene Heimat der Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen, und erzählen dabei von einem Deutschland, das einen weiten Weg gegangen ist, um zu sich selbst zu finden, das wie in Sandra Prechtels Liebe Angst Raum für die Bewältigung von transgenerationalen Traumata gibt, das Rosa von Praunheim traurig über einen zu früh Geborenen wie Rex Gildo erzählen lässt und das letztendlich eine deutschsprachige Schriftstellerin wie in Claudia Müllers Porträt Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen ermöglicht hat, die Heimat nicht nur stets im familiären und feministischen, sondern immer auch im staatspolitischen Kontext hinterfragt hat.
Es ist fast so, als würden diese vielen Filme nur eine Geschichte erzählen, eine vom Aufbäumen gegen vergangene und noch bestehende Verhältnisse, ein Aufbäumen, das übrigens auch Doris Dörrie in ihrem neuen Film Freibad übt, und Aron Lehmann in seiner Jagdsaison, die beide in der Reihe Spotlight ihre Premieren feierten. Klar ist allerdings noch nicht, wofür dieses ganze Aufbäumen gut war, denn eine neue gesellschafts-politische Utopie ist weiterhin nicht zu sehen, bewegen sich fast alle Filme in einem apolitischen Kontinuum, sind es vielmehr zertrümmerten Utopien, denen wir hier beim Sterben zugesehen haben.
Vielleicht erinnern all diese Filme deshalb auch an die Zeit des Biedermeier, dem heimeligen Atemholen nach den großen Kriegen, der Zeit, die zumindest in Deutschland der Revolution vorausging. Und das macht am Ende dann doch Hoffnung, dass uns nicht nur große Zeiten, sondern auch große Filme bevorstehen und das deutsche Kino dann ja vielleicht auch wieder international eine neue, revolutionäre Größe sein wird.
+ + +
Zu allen erwähnten Filmen gibt es hier Kurzkritiken.