39. Filmfest München 2022
Die Rückkehr der Kinder |
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Hätte auch einen Preis verdient: Wild Roots | ||
(Foto: 39. Filmfest München) |
Von Christel Strobel
Auch die Kinder sind In diesem Jahr beim Filmfest ins Kino zurückgekehrt, den »Ort des ungestörten Sehens«, und zwar zahlreich – trotz schönstem Badewetter. Zudem zeigte sich bald, dass mit dem neuen Spielort »HFF Audimax«, dem Kinosaal der Hochschule für Fernsehen und Film, ein perfekt ausgestatteter Ort fürs Kinderfilmfest zur Verfügung stand.
Und Kinderfilmfestleiter Tobias Krell verlieh seiner Freude Ausdruck, indem er in seiner Begrüßung die Kinder immer wieder mal
aufmerksam machte, in welcher Umgebung sie sich hier befinden und wie gut das Kinderfilmfest in dieses Haus passt, in dem junge Menschen Film studieren! Für die diesjährige Ausgabe hatten er und sein Team sechs Langfilme und ein Kurzfilmprogramm ausgewählt.
Schon die Eröffnung mit der Neuverfilmung der bekannten Geschichte vom Räuber Hotzenplotz erwies sich im vollbesetzten Audimax als erfolgreiche Entscheidung. Zunächst fragte man sich zwar, warum dieser Film nach dem so bekannten und mehrfach verfilmten Buch von Otfried Preußler für die Eröffnung auserkoren wurde, doch die Bedenken zerstreuten sich angesichts der Spielfreude des gesamten Teams, allen voran Nicholas Ofczarek als Hotzenplotz und
August Diehl, dem die Rolle als dämonischer Zauberer Petrosilius Zwackelmann sichtlich Vergnügen bereitet hat und der mit vollem Einsatz in Mimik und Gestik die beiden Buben Kasperl und Seppel einzuschüchtern versucht. Das mag für kleine Kinder erschreckend sein, aber es ist ja bekannt, dass es ein heiteres, entspanntes Ende gibt. Anlass für diese aktuelle Verfilmung – Regie: Michael Krummenacher, gedreht wurde in Bayern, im Harz und in der Schweiz – ist das Jubiläum des
1962 erschienenen Buchs von Otfried Preußler.
Auch die FBW-Jugend-Filmjury hat den neuen Räuber Hotzenplotz (FSK Altersfreigabe: ab 0) diskutiert und bewertet, und zum Adjektiv »preußlerisch« die Höchstzahl von 5 Sternen und auch eine Altersempfehlung gegeben: »Wenn man das Buch gelesen hat, ab 7 Jahren, und wenn man es nicht kennt, ab 8 Jahren.« Außerdem war die Münchner Gruppe der FBW-Jugend-Filmjury bei einer Vorführung im HFF Audimax und sprach
danach auf der Bühne mit dem Filmteam.
Drei Filme widmeten sich dem Thema »Vater-Tochter-Beziehungen«:
Comedy Queen (Regie: Sanna Lenken, Schweden 2022) erzählt mit großer Sensibilität von einer schwierigen Phase im Leben der 13-jährigen Sasha. Sie muss mit dem Tod ihrer Mutter, die unter Depressionen litt und ihrem Leben ein Ende setzte, zurechtkommen. Nach ersten, weniger gelungenen Versuchen, auch den trauernden Vater durch ein paar witzig gemeinte Wortspielereien aufzumuntern,
legt sie eine „Überlebensliste“ an mit persönlichen Zielen, um nicht zu werden wie ihre Mutter: 1. „Haare schneiden“ – 2. „Keine Bücher lesen“ – 3. „Niemals um ein Lebewesen kümmern“ und 4. „Werde eine Comedy Queen!“, um den Vater wieder zum Lachen zu bringen. Auf ihrem Weg heraus aus dem Schmerz wird sie von ihrer besten Freundin Märta und von ihrem liebevollen, aber tieftraurigen Vater begleitet. So kämpft sich
Sasha durch ihre Gefühle, schwankt zwischen Trauer und Wut, macht gute wie unerfreuliche Erfahrungen und verfolgt beharrlich ihr Ziel, eines Tages als „Comedy Queen“ aufzutreten, den Schmerz in Humor zu verwandeln. Sanna Lenken hat diese Geschichte einfühlsam und für das junge Publikum (empfohlen ab 10 J.) nachvollziehbar inszeniert und Sigrid Johnson als Sasha spielt ihre anspruchsvolle Rolle mit einer beeindruckenden Natürlichkeit.
Wild Roots (Regie: Hajni Kis, Ungarn/Slowakei 2021)
Dieser Film (empfohlen ab 11 J.) thematisiert eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung: Tibor, sportlich und schnell mit der Faust, wenn sich Konflikte anbahnen, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen, Niki lebt bei ihrer Großmutter ohne Kontakt zum Vater – bis sie ihn auf der Fahrt im Stadtbus entdeckt und ihm heimlich folgt. Er verhält sich ablehnend, doch Niki will ihren Vater kennen lernen. Beide
haben es schwer mit sich und ihren Gefühlen, und so sind es nur kleine, oft auch rührende Schritte der Annäherung, die jedoch durch Tibors schnell aufflammende Gewaltbereitschaft in seinem Job im Club gefährdet ist. Als Nikis Großmutter erfährt, dass die Enkelin Kontakt mit ihrem Vater hat, versucht sie dies zu unterbinden. Letztlich bringt Tibor eine unbeherrschte Handlung im Sicherheitsdienst erneut für drei Jahre in Haft. Der Film hat kein klassisches »happy end«, lässt aber
einen Hoffnungsschimmer, dass Vater und Tochter sich nicht mehr aus den Augen verlieren werden. »Wild Roots« beeindruckt durch eine zutiefst menschliche Haltung, die beiden – obwohl sie von ihren Schwächen und Defiziten geprägt sind – eine Chance gibt.
So war das beeindruckend intensive Spielfilmdebüt der ungarischen Regisseurin Hajni Kis, die 2019 für ihren Abchlussfilm den Young Talent Award beim Filmschoolfest Munich bekam, ein Highlight im diesjährigen
Kinderfilmfest.
Die Tochter Der Sonne (Regie: Catalina Razzini, Bolivien / Spanien / Deutschland 2021)
In Bolivien, auf der landschaftlich faszinierenden Sonneninsel im fast 4000 m hoch gelegenen Titicacasee, entstand dieser außergewöhnliche Film (empfohlen ab 8 J.).
Die malerische Insel wird inzwischen zahlreich von Touristen besucht, darauf haben sich die Inselbewohner mit ihren Handarbeiten eingestellt. So auch Lucia, die mit ihrer Familie und ihrem treuen
Alpaka namens Panchito dort wohnt. Nach der Schule geht es zu Hause mit Handarbeit weiter. Vater und Tochter weben aus Tatora-Schilf typische Figuren, die die Mutter an Touristen verkauft. An einem Morgen verlässt der Vater seine Familie mit dem Boot Richtung La Paz in der Hoffnung auf eine bezahlte Arbeit. Während das Leben mit Mutter und Bruder gleichförmig weitergeht, vermisst Lucia ihren Vater sehr und wartet sehnsüchtig auf dessen Rückkehr. Es wird aber nicht viel darüber geredet zu
Hause, die Mutter ist wortkarg und streng. Eines Tages kommt der Vater so selbstverständlich zur Familie zurück, wie er sie verlassen hat, jetzt mit etwas Geld für den Haushalt. Aber während seiner Abwesenheit hat sich seine Tochter verändert, das spürt er jetzt. Sie muss nun ihren eigenen Weg herausfinden. Der Film fasziniert durch die grandiose Seen-Landschaft und vermittelt mit großer Ruhe die Veränderung der Vater-Tochter-Beziehung.
Mit One In A
Million, der neuen Produktion von Joya Thome, war diesmal auch ein Dokumentarfilm im Programm, dessen kleines, effektives Dreh-Team – Philipp Wunderlich, Drehbuch mit Joya Thome, und Lydia Richter, Kamera – dasselbe war wie bei Thomes besonderem Debütfilm Königin von Niendorf (2017). Der aktuelle Film porträtiert zwei Mädchen, Whitney, die in Georgia / USA lebt,
und Yara in Neumünster im Norden Deutschlands. Beide sind in den sozialen Medien unterwegs und sie verbindet eine virtuelle Freundschaft. Whitney ist zu Beginn der Dreharbeiten Kunstturnerin und Influencerin und Yara sozusagen ihr Fan. Ausgangspunkt für diese Geschichte war Joya Thomes Faszination am »Social Media-Ruhm für junge Menschen«, wofür sie gründlich recherchiert, viele Skype-Interviews im Vorfeld geführt sowie im Rahmen der Recherche in den USA mit ihrem Team mehrere 12-
bis 15-jährige Mädchen zum Probedreh getroffen hat. Schließlich wurde doch das urprüngliche Konzept, die Fan-Influencerin-Beziehung realisiert, was einen lebendigen, teilweise auch erschreckenden Einblick in das harte Training der Kunstturnerin in Georgia gibt. Whitney hat sich momentan vom Leistungssport ab- und der Musik zugewandt, hat eine klangvolle Stimme, wovon sich auch das begeisterte Kinderfilmfest-Publikum im HFF-Audimax überzeugen konnte. Yara in Neumünster, die Joya
Thome ebenfalls mehrere Jahre begleitet hat, war virtuell auf der Leinwand anwesend. Wie Joya erzählte, »hat sich Yara von einem recht schüchternen Mädchen, das sich kaum getraut hat, auf andere Menschen zuzugehen, gewandelt und ist total aufgeblüht«. Großer Applaus für das Filmteam, das von 2018 bis August 2021 einschließlich der Pandemie mit dem Projekt beschäftigt war: »Das war fürs Projekt einerseits gut, da durch den langen Drehzeitraum Yara und Whitney vor unseren Augen groß
geworden sind und wir diese spannende Zeit einfangen konnten, aber natürlich war die psychische Belastung ziemlich heftig.«
Mit OINK (Mascha Halberstadt, Niederlande 2022) war das Genre Animationsfilm / Puppentrick vertreten, mit einer witzigen sowie auch ziemlich derben Geschichte.
Die neunjährige Babs verbringt ihre Sommerferien auf dem Land, wo es so etwas Sonderbares wie den »Wurstkönig-Wettbewerb« gibt. In die ländliche Idylle
bricht ihr poltriger Cowboy-Opa ein, der sich aber mit seinem Geburtstagsgeschenk, dem kuscheligen rosa Schweinchen »Oink«, bei seiner verschreckten Enkelin erst mal gleich beliebt macht. Nach dem Willen der Eltern aber soll das Tierchen die Hundeschule besuchen, um dort ein ordentliches Benehmen zu lernen. Dass der Großvater aber ganz andere Pläne mit Oink hat, stellt sich bald als große Gefahr heraus. Der »wunderbar anarchische Trickfilm für Groß und Klein« hat eindeutig sein Ziel
im Audimax der HFF erreicht…
Aus dem klug zusammengestellten Kurzfilmprogramm mit sechs Beiträgen seien hier noch zwei besonders bemerkenswerte Produktionen erwähnt: Der Zeichentrickfilm »Der Besuch« von Alexandra Schatz, Deutschland 2020, erzählt in vier Minuten die Geschichte einer ängstlichen Frau, die sich nie aus dem Haus traut, das in tristem schwarz-weiß traurig aussieht, doch als eines Tages ein bunter Papierflieger durchs Fenster herein fliegt, bringt der wunderbare Farben ins Haus und
auf ihrem Gesicht kehrt ein Lächeln ein. Ein kleiner, ästhetischer Film – auch für kleine Kinder wunderbar.
Für schon etwas ältere Kinder eignet sich der isländische 16-minütige Realfilm über einen sechsjährigen Jungen, der von seiner Mutter übers Wochenende auf den Bauernhof des allein lebenden Vaters gebracht wird. Hier, in einer kargen und kahlen Landschaft gibt es nichts, was einen Jungen interessiert, und der Vater weiß auch nicht, was er mit seinem Sohn anfangen soll
– bis sie beim Spaziergang über die Wiesen ein verletztes Pferd finden… Ein ernste, aber nicht hoffnungslose Geschichte, wovon einem noch lange das aufmerksame, still fragende Gesicht des Jungen im Gedächtnis bleibt.
Am Ende des 39. Kinderfilmfestes gab es zwei Preise und eine lobende Erwähnung:
Den nach einer exakten Formel errechneten Publikumspreis erhielt – fast erwartungsgemäß – die Neuverfilmung von Räuber Hotzenplotz.
Zum ersten Mal wurde der CINEKINDL AWARD verliehen, dotiert mit 2500 Euro, gestiftet von Megaherz, der Münchner Produktionsfirma für Kinderfilme und -sendungen, deren Anliegen seit fast 40 Jahren es ist, »die heranwachsenden Generationen in den Bann zu ziehen, zu informieren und zu bilden«. Über diesen Preis entscheidet die »Cinekindl-Jury«, der im ersten Jahr angehörten: Pia Amofa-Antwi, Schauspielerin und Moderatorin, Reza Memari, Autor und Regisseur, und Jana Kreissl,
Produzentin.
Eine lobende Erwähnung erhielt der Dokumentarfilm One in a Million von Joya Thome.
»Durch den respektvollen Blick unter die Oberfläche werden in diesem Film zwei Lebensrealitäten erfahrbar, die – zumindest geografisch – nicht weiter auseinander liegen könnten.«
Der erste CINEKINDL AWARD ging an Comedy Queen von Sanna Lenken mit der Begründung: »Der Verlust eines Elternteils ist der wohl
schlimmste Schmerz, den Kinder erleben können. Sich diesem Thema in einem Film für ein (wohlgemerkt nicht nur) junges Publikum zu widmen, ist mutig, wichtig und hier herausragend umgesetzt.«
So setzt sich der Preissegen für diesen Film fort; der Film erhielt bereits bei der Berlinale / Generation Kplus 2022 von der Kinderjury den »Gläsernen Bären«.
Schade, dass der brisante sozialkritische Film Wild Roots aus Ungarn von der Jury bei ihrer
Preisvergabe nicht berücksichtigt wurde.