39. Filmfest München 2022
Schmetterlingsvisionen |
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Verletzungen am Flügel aka Schulterblatt | ||
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Maksym Nakonechnyi) |
Von Dunja Bialas
Die Geschichte von der jungen, »Schmetterling« genannten Frau, die im umkämpften Donbass eine als gigantischer Schmetterling getarnte Drohne starten lässt, kostet die Antipoden aus: hier die Poesie des zerbrechlichen Insekts, dort die harten Metalle der Kanonenrohre. Hier das zarte Geschöpf in Gestalt einer jungen Frau, dort die Brutalität des Kriegseinsatzes. Butterfly Vision hat der ukrainische Regisseur Maksym Nakonechnyi seinen poetischen Ausflug in die Welt der Militärs genannt, der sein Langfilmdebüt ist. Zuvor hatte er bei Arlina Gorlovas bildgewaltiger Meditation This Rain Will Never Stop (2020) über den Krieg als Conditio humana als Drehbuchautor und Produzent mitgewirkt.
Butterfly Vision verbreitet trotz der der Hauptfigur inhärenten Poetik eine unangenehme, kalte Atmosphäre. Immer wieder wird die junge Lilya (Rita Burkovska) im Heimaturlaub von Flashbacks heimgesucht. Sie entdeckt schließlich, dass sie schwanger ist, der Vater aber kann nach dem Kriegsdienst nicht mehr ins zivile Leben zurückfinden. Schließlich, und das muss man verraten, um die Radikalität dieser Erzählung in ihrer ganzen Dimension zu erfassen, entscheidet sie sich dafür, das Neugeborene zur Adoption freizugeben und in den Krieg im Donbass zurückzukehren.
Portraitiert wird in Butterfly Vision eine Generation ohne Zukunft und ohne Hoffnung, eine, die sich nicht für das Leben entscheiden kann, nur für den alptraumhaften Tod. Eine, die nicht lieben kann, nur kämpfen, das aber sehr gut. Eine bittere Botschaft geht von diesem jungen Film aus, wenn die Entscheidung zwischen Adoptionsfreigabe und Kriegsdienst in keinem Moment als moralisches Dilemma aufscheinen darf, wie es vielleicht in den großen Tragödien der Fall wäre. Die Adoptiveltern sprechen englisch, sind gut situierte Leute aus dem Westen, mit cremefarbenen Kinderzimmern. Was wird damit gezeigt, und vor allem: Genügt das schon? Stimmt das denn?
In den letzten Monaten habe ich viele Filme aus der Ukraine gesehen. Ihnen gemeinsam war, dass sie alle in der Zeit seit dem russischen-ukrainischen Krieg im Donbass spielen, der 2014 begann. Alle online gesehenen Filme der Festivals von Vilnius und GoEast in Wiesbaden erwiesen sich als unheilvolle Dunkel-Dystopien, angezogen vom Schweren, Unheilvollen, Aussichtslosen. Als ich laut überlegte, wo der utopische Gegenentwurf, den ja zumindest die Fiktion als Korrektiv der Geschichte leisten kann, bliebe, wurde klar, dass diese Frage derzeit – noch nicht einmal in Gedanken – gestellt werden kann.
Wichtig ist daher, ihnen zuzuhören, um besser zu verstehen, warum das gerade nicht denkbar sein soll. Auf dem »Ukraine-Panel«, das auf dem letztes Wochenende zuende gegangenen Filmfest München abgehalten wurde, nahmen der Butterfly Vision-Regisseur Maksym Nakonechnyi, die Münchner HFF-Studentin Mila Zhluktenko und der sehr junge Archie Navarro, der seit wenigen Wochen in einem rasch eingerichteten englischsprachigem Sonderstudiengang ebenfalls an der HFF studieren kann, teil.
Spektakulär ist die Initiative von Mila Zhluktenko. Die Ukrainerin lebt seit 2004 in Deutschland und hat in einer Fundraising-Kampagne einen fünfstelligen Betrag für »Babylon 13« gesammelt, einem Dokumentarfilmverein, der sich während der Maidan-Revolution gegründet hatte. Der Verein ist »berühmt für das furchtlose Filmen in den Kriegsgebieten und besetzten Gebieten«, heißt es auf der Seite des Spendenaufrufs.
Seitdem schickt die HFF schweres Gerät »an die vorderste Front«, Kameras, Tonaufnahmegeräte und andere Ausrüstung. Das Risiko, das im bloßen Dokumentieren liegt, lässt sich leicht am Schicksal des litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravičius ablesen, der am 2. April dieses Jahres in Mariupol getötet wurde.
»Russia can not win the war«, weiß der junge Archie Navarro. Bei Kriegsbeginn sah er sich vor der Entscheidung, in den Krieg zu ziehen oder im Ausland seinen Traum zu verfolgen und Filmregisseur und Schauspieler zu werden. Er wäre ein guter Soldat geworden, weiß er, sagt es zumindest auf dem Podium. Lieber aber will er jetzt die ukrainische Kultur bekannt machen, von der viele nichts wissen. »Alle kennen nur die russische Kultur.« Auf die Frage, was wir alle für die Ukraine tun könnten, sagt er, zum Beispiel auf Instagram dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij folgen und seine Postings liken.
Das ist natürlich ein wenig jung und naiv gedacht, lässt hier aber auch kurz das Wirken des Staates auf die Ukrainer*innen und ihr Nationaldenken aufblitzen. Interessanter wird es, wenn man über die von ihm ebenfalls aufgeworfene Frage nach der ukrainischen Kultur nachgeht. »Wie lange dauerte es, bis ein westliches Publikum die Sovexport-Gewohnheit wahrnahm, von Werken aus nichtrussischen Sowjetrepubliken jeweils nicht das regionalsprachige Original, sondern die russische Fassung zu exportieren?«, schreibt beispielsweise der ehemalige Filmpodiumsleiter Martin Girod leidenschaftlich in der neuesten Ausgabe von »Kinema Kommunal«.
Die Filme der Sowjetunion seien uns dadurch als »russische« Filme bekannt, und in der Tat kann das Primat des Russischen über die ehemaligen Sowjetländer als ein Hauptmotiv dafür genommen werden, weshalb die ukrainische Filmakademie heute den Boykott russischer Filme auf Festivals fordert. Auch Maksym Nakonechnyi spricht in diese Richtung. »Our culture was silenced during a very long time«, jetzt gilt es, die ukrainische Kultur zu erhalten und vor allem auch zur Sichtbarkeit zu bringen. Der Ukrainekrieg war dafür ein »Boost«, sagt er auf dem Podium, für den sie aber einen hohen Preis bezahlen.
Angesprochen auf den Generalkulturboykott, unterscheidet Maksym Nakonechnyi zwischen dem allgemeinen Kulturbegriff, unter den er auch die gesellschaftlichen Umgangsformen, die Traditionen, das Essen subsumiert, und der Kunst. Kunst aber sei ebenso wie die Kultur politisch. Kultur und Kunst werden von den Russen als Instrument benutzt, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen, so Nakonechnyi, daher müsse man auch die europäische Gesellschaft vor der russischen (Propaganda-)Kultur schützen. Es müsse Zeit bleiben, die russische Kultur einer Revision zu unterziehen, unter historischen Aspekten. Nakonechnyi spricht statt von Boykott lieber von einer vorübergehenden »Suspension«.
Die »Einflussangst« (Nakonechnyi) vor dem Russischen müsse nun dazu führen, die russische Kultur nun auch einmal beiseite zu schieben. Die Darstellungen von der großen russischen Kulturnation müsse der Vorstellung weichen, dass sie vor allem eine Kultur der Aneignung (»appropriation«) sei. Das sind alles an westliche Diskussionen anschlussfähige Diskurse und hört sich kaum nach Säbelrasseln an, wie es beim ukrainischen Botschafter Melnyk der Fall gewesen war, der sich zuletzt im Interview mit Tilo Jung (»Jung & naiv«) als Waffenlobbyist und Bellizist zu erkennen gegeben hatte. Viele der russischen Künstler sind auf den Kolonialterritorien geboren, daran erinnert Nakonechnyi schließlich noch: Tschaikowskij, Tschechow, Gogol. Das aber sind vergangene Zeiten, die Gegenwart müsse neu gedacht werden. Man müsse neue Wege zur russischen Kultur finden und neuen Stimmen zuhören, aus neuen Regionen in Mittelasien, die alle in gleichmachender Weise unter das künstliche Konstrukt des postsowjetischen Raums gestellt waren.
Den neuen Stimmen zuzuhören ist sehr lohnenswert, bleibt als Fazit des Panels zurück, auch weil eine junge Generation mit neuen Vorstellungen auftaucht. Dennoch wird einem auch unbehaglich, wie von »der« russischen Kultur gesprochen wurde, um zu begründen, warum »die« russischen Filme ausgeschlossen werden. Denn zu diesen neuen Stimmen gehörte sicherlich auch, eine neue russische, exilierte Generation einzubeziehen; jene Generation, die nicht schon seit Jahren vom Kulturnepotismus profitiert und künstlerisch entwirft, was in der Realität nicht stattfinden kann. Auch mit Blick auf die Panel-Äußerungen war es daher eine mutige Entscheidung des Filmfests, auch zwei Filme des inzwischen in Berlin lebenden russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov im Programm zu haben – andere Festivals wie Wiesbaden sind mit diesem Dialogangebot nicht ganz schadlos durchgekommen und dort wurde auch prompt schärfer diskutiert. Was wird mit der jungen, vom Dialog ausgegrenzten russischen Generation? Der Konflikt wird so wohl weitergetragen, und immer weiter und weiter.