»Dafür bin ich noch zu jung« |
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Matt Dillon mit dem Pardo für sein Lebenswerk | ||
(Foto: 75. Locarno Filmfestival / Matt Dillon) |
Alles so schön schwarz-gelb getupft hier: Die 16.000-Einwohner-Stadt Locarno hat sich samt Bussen, Schaufensterauslagen und Patisserie-Raubtieren, die in der Augusthitze zu schmelzen drohen, über und über im schwarz-gelben Fellmuster des »Pardo« geschmückt. Noch bis Samstag ist die Statuette des Leoparden in den diversen Wettbewerben zu gewinnen. Der Schauspieler und Regisseur Matt Dillon holte sich den Pardo für sein Lebenswerk bereits bei der Eröffnung der Jubiläumsausgabe auf der Piazza Grande ab. Ob Regisseure anwesend seien, wollte der schwarzgekleidete Ehrengast wissen: Er freue sich über Angebote und habe nicht vor, in Rente zu gehen.
Zuvor hatte der 58-jährige New Yorker beim Gespräch im Hotel Belvedere mit Ausblick auf den reglosen Lago Maggiore bekannt: »Ich fühle mich etwas jung für diese Auszeichnung, aber es ehrt mich, dass ich gefragt wurde. Ich bin ja auch schon sehr lange in diesem Beruf. Und ich liebe dieses Festival und finde es sehr wichtig: In Locarno lieben sie den Film und ehren ihn auf vielfache Weise. Wo gibt es schon so eine Riesenleinwand wie auf der Piazza Grande? Einen Film, den man dort gesehen hat, vergisst man nicht.« Matt Dillon, den das Festival-Magazin als »Rebellen mit reiner Seele« tituliert, spricht aus Erfahrung: 1995 hatte er auf der Piazza Grande mit ihren eindrucksvollen 8000 gelben Plastikstühlen zusammen mit Gus Van Sant die schwarze Komödie To Die For präsentiert. In diesem Hochamt des Sarkasmus ist ihm als Film-Ehemann von Nicole Kidman kein langes Leben beschieden, da die überdrehte Fernseh-Wetterfee ihren Gatten von drei Teenagern umbringen lässt.
Jonathan Kaplan entdeckte 1979 den Fünfzehnjährigen auf dem Schulhof und drehte mit ihm in Colorado Over The Edge. Seinen Ruhm als undurchschaubarer Außenseiter und zugleich dunkeläugiger, schwarzhaariger Mädchenschwarm mit markanten Zügen festigte Matt Dillon ab 1983 endgültig mit Francis Ford Coppolas ikonischen Adaptionen The Outsiders und Rumble Fish nach den Romanen von E.S. Hinton. In dem Schwarzweißfilm mit den bunt aufleuchtenden titelgebenden Kampffischen bemüht sich Dillon alias Rusty James, seinen psychisch labilen älteren Bruder (Mickey Rourke) zu retten. Natürlich vergeblich, was zu den brüchigen bis düsteren, oft kriminellen Figuren passt, die Matt Dillon bevorzugt: »Es stimmt schon, da gibt es einige düstere Charaktere in meinen Filmen. Aber ich weiß nicht, ob sie zu mir tendieren oder ich zu ihnen. Ich suche immer nach Möglichkeiten, etwas anderes zu machen. Das ist nicht immer leicht in einem Business, das am liebsten auf Nummer sicher geht. Obwohl ich der Meinung bin, dass es belohnt wird, wenn man Risiken eingeht.« Deshalb wolle er nur mit entsprechend eingestellten Regisseuren wie Gus Van Sant oder Lars von Trier arbeiten.
An die Dreharbeiten zu Lars von Triers maliziösem Leichen-Schocker The House That Jack Built von 2018 hat dessen Titelheld die besten Erinnerungen: »Seine Anfrage kam überraschend. Ich bewundere seine Filme, hätte aber nie gedacht, dass wir einmal zusammenarbeiten würden. Es war trotz des Themas überhaupt nicht düster, sondern sehr unterhaltsam, er hat viel Humor. Und es gab beim Drehen eine Freiheit, wie ich sie zuvor nie erlebt habe. Von Trier hat uns ermutigt, das Risiko einzugehen zu scheitern, und das war für mein professionelles Gehirn etwas Neues. Große Momente entspringen der Improvisation. Deshalb hat es mir so viel Spaß gemacht, mit ihm zu arbeiten, denn darum geht es mir auch.«
Ganz von der Kunst der Improvisation geprägt ist Matt Dillons zweite Regie-Arbeit nach Ghost City (2002), der Dokumentarfilm El Gran Fellove über den kubanischen Komponisten und Sänger Francisco Fellove Valdés. Seine Begeisterung für die südamerikanische und karibische Musik habe ihn zu diesem Projekt gebracht, erzählt Dillon; dabei hielt ihn der 2013 verstorbene Valdés in Mexiko zunächst für einen Kabelträger. 15 Jahre Arbeit stecken in dem laut seinem Schöpfer »universellen und menschlichen« Film, der zwar 2020 beim Festival in San Sebastián Premiere feierte, dessen internationaler Kinostart zu Dillons Bedauern aber noch aussteht. Er sei nach dem Prinzip »emotion first, information second« vorgegangen: »Einen Dokumentarfilm zu machen, ist das Allergrößte für mich, und dann noch einen mit dieser phantastischen Musik. Das Publikum kann einen solchen Film nur in sich aufnehmen, wenn es eine emotionale Verbindung herstellen kann. Und das Publikum war zunächst einmal ich.«
Nur eines hört der sonst so charmante und zugewandte Gesprächspartner gar nicht gern: Die Behauptung, er »verkörpere« Rollen: »Ich bin nicht Schauspieler geworden, um etwas darzustellen, so wie etwa ein Junge sagt: 'Mama, ich will singen!'«, meint er energisch: »Diese Art von Junge war ich nicht, mir geht es nicht darum, mich zu exponieren, sondern ich bin vielmehr ein neugieriger Mensch. Ich wäre wohl am ehesten Schriftsteller geworden, wenn ich nicht Schauspieler geworden wäre. Denn ich bin an der Welt interessiert, an der menschlichen Natur und am Geschichtenerzählen. Meine Neugierde hat mich dazu bewogen, diesen Beruf zu ergreifen, der Wunsch, das Wesen des Menschen zu spiegeln. Das ist es, was mich bewegt. Meine Generation kreiste um Schauspieler wie Marlon Brando, Montgomery Clift und James Dean. Weil sie von innen heraus wirkten und ihr Inneres nach außen kehrten, das machte ihre Modernität aus.«
Im Rahmen des »Locarno Lifetime Achievement Award« für Matt Dillon wurden zwei seiner Filme gezeigt: Sein weitgehend in Kambodscha gedrehtes Regiedebüt Ghost City, ein tropischer Film noir nach Vorbildern wie House of Bamboo von Samuel Fuller, wie der Regisseur erklärt, sowie Drugstore Cowboy von Gus Van Sant. Darin ist der 25-jährige Dillon als Kopf einer vierköpfigen chaotischen Dealerbande in Portland / Oregon zu erleben. In auffallenden karierten Hosen plant der schlaksige, frappant abergläubische Bob Einbrüche in Apotheken, um neuen Stoff zu beschaffen. Die Tablettenröhrchen entfalten in surrealen Großaufnahmen ein Eigenleben. Einige skurrile Katastrophen später endet Bob gezähmt und kleinlaut in einem Methadon-Programm.
Die amerikanische Provinz mit ihren Fertighäuschen und Highways entfaltet in Drugstore Cowboy aus dem Jahr 1989 eine unspektakuläre Schönheit. Eine einzige Katastrophe hingegen ist das USA-Bild in Anna Guttos Film Paradise Highway, der auf der Piazza Grande Premiere hatte. Die norwegische Regisseurin und ihre Schauspielerinnen Juliette Binoche und Veronika Ferres als burschikose, unentwegt fluchende Trucker-Fahrerinnen müssen irgend etwas über die Vereinigten Staaten missverstanden haben. Die einzig überzeugende Figur in diesem Drama über Menschenhandel mit Minderjährigen ist Hana Finley. Die 13-Jährige aus Kansas City spielt ein gefasstes Mädchen, das als blinde Passagierin eines Lastwagens von einem pädophilen Peiniger zum nächsten gebracht werden soll. Doch da kommt die Truckerin Sally (Juliette Binoche) ins Spiel, bei der jedes zweite Wort »Fuck« lautet, die aber das Herz auf dem rechten Fleck hat. Der Film, eine ZDF-Koproduktion, ist dramaturgisch auf ärgerliche Weise unglaubwürdig. Er beweist in quälenden 115 Minuten die Binsenwahrheit, dass gut gemeint nicht gut gemacht bedeutet.
Höchst verführerisch lotsten dagegen zwei europäische Komödien die Phantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer in ihren jeweiligen Kosmos. Gigi la legge (The Adventures of Gigi the Law) heißt Alessandro Comodins dritter Spielfilm, der im Internationalen Wettbewerb lief. Er setzt in einer dunkelgrünen Urwaldszenerie ein, mit einer Stimme aus dem Off, die den Hauptdarsteller Gigi beschimpft: Er solle endlich die Pflanzen stutzen und sein Leben auf die Reihe bekommen. Dabei steht ja der Friulaner Gigi für Ordnung und Gesetz, auch in seinem verwilderten Garten. Der in sich ruhende Streifenpolizist wird von Pier Luigi Mecchia dargestellt, dem Onkel des Regisseurs. Das tut Mecchia auf unnachahmliche Art, nicht zuletzt durch pointenreiche Dialoge im friulanischen Dialekt, die schwer zu übersetzen sind. Gigi durchfährt Tag für Tag seine Heimat in der Sommerlethargie. Dabei denkt er sich kleine Unregelmäßigkeiten aus, die er überprüfen muss. Darüber informiert er ausführlichst seinen Schwarm Paola, die neue Kollegin in der Leitstelle. Auch sie wird hinreißend zögerlich von einer Laiendarstellerin gespielt, Ester Vergolini. Mit Gigi la legge ist Alessandro Comartin ein Werk in bester italienischer Komödientradition gelungen, das leise und verschmitzt die Lebenskunst feiert.
Ob Thomas Hardiman wohl den Film Mysterien eines Frisiersalons von Erich Engel und Bertolt Brecht aus dem Jahr 1922 kennt? Genau hundert Jahre danach zieht der Brite mit seinem Spielfilmdebüt Medusa Deluxe in den Bann von Fixierlösungen, Ondulierscheren und ungeheuerem stilistischen Ehrgeiz. Während eines Friseurwettbewerbs, der in einem Kellerlabyrinth vorbereitet wird, soll eines der Modelle skalpiert worden sein. Die berufsspezifische Gerüchteküche brodelt, die Scheren klappern, eine besonders kunstvolle Frisur geht in Flammen auf, unterbrochen von surrealen Nebenfiguren wie einem Wachmann, der nach Schmerzmitteln fragt. Hardiman ließ sein Ensemble von Lady Gagas Figaro Eugene Souleiman phantastisch farbenfroh frisieren und im Londoner Cockney-Dialekt sprechen, was den bizarren Spaß noch befeuert. Medusa Deluxe wird beim Fantasy Filmfest im September in mehreren deutschen Städten zu genießen sein (www.fantasyfilmfest.com). Wie sagte doch Matt Dillon: »Am Filmemachen gefällt mir, dass man wirklich eine andere Welt betritt.«