Zurück zur Jugend und zum Autorenkino |
||
Human Flowers of Flesh von Helene Wittmann setzt sich erst im Kopf des Betrachters zusammen | ||
(Foto: Shellac / Helene Wittmann) |
Eine junge Frau, Ende 20. Tagsüber trägt sie Businesskleidung und Blazer, wirkt kühl und sehr rational, wenn sie ihren Klientinnen Rat gibt. Sie ist Juristin und engagiert sich für die Rechte junger Frauen, die zum Opfer wurden. Im Dunkel der Nacht taucht sie selbst sehr bewusst in eine Gegenwelt aus Gewalt und Gefahr ein, indem sie in Internet-Chats dem Irrationalen begegnet und verschiedene Facetten ihres eigenen Begehrens auslotet.
Regel 34 von der
brasilianischen Regisseurin Júlia Murat ist ein auch formal spannender Film, der am Samstag den Goldenen Leoparden von Locarno gewann. Ein verdienter Preisträger und ein sehr schöner und sympathischer überdies: Ein Film, der die Wahlfreiheit feiert, das offene Ausleben von Wünschen. Zugleich begreift er Identitäten ganz anders, als es die heute modische »Identitätspolitik« tut – nämlich nicht als etwas Kollektives, nicht als ein Stammesbewusstsein, sei es auch der
Stamm der Fortschrittlichen. Sondern als etwas jeweils Individuelles und Persönliches: Jeder Einzelne hat eine andere Identität und sehr oft sind die einzelnen Bestandteile davon heterogen, widersprüchlich, entgegengesetzt.
+ + +
Mit dieser Hinwendung zur Jugend kehrte das Festival von Locarno zu seinen Ursprüngen zurück. An die knüpfte auch die Preisträgerin an: Zum 75. Jubiläum wurde der 89-jährige griechisch-französische Autorenfilmer Costa-Gavras (Z, Der unsichtbare Aufstand) geehrt, man zeigte seine zwei ersten Filme – aus heutiger Sicht atemberaubend souverän erzählte Werke – und würdigte damit auch das europäische Erzählkino. Júlia Murat bezog sich in ihrer Dankesrede direkt auf Costa-Gavras und auf sein politisch engagiertes Filmemachen, schlug damit die Brücke zurück zur Tradition und öffnete den Kreis zugleich in die Zukunft. Eine kluge Entscheidung.
Gleich drei Preise im Hauptwettbewerb gingen an den Beitrag Tengo sueños eléctricos, übersetzt: »Ich habe elektrische Träume« aus Costa Rica.
Die ganze Preisvergabe setzte damit zugleich mehrere Signale: Zum einen ist ganz klar erkennbar, dass für die Jurys der beiden Wettbewerbe lateinamerikanische Filme das Kino der Stunde repräsentieren. Und Filme aus Osteuropa, die im zweiten Wettbewerb die meisten Preise gewannen.
Zweitens sind die
Preisträger durchweg sehr junge Filmemacher. Damit kehrt Locarno zurück zu seinen Ursprüngen: Seit seiner Gründung vor 75 Jahren war Locarno die längste Zeit seines Bestehens ein Filmfestival, das den Nachwuchs des Autorenkinos entdeckte. Hier gewannen Filmemacher wie John Frankenheimer, Milos Forman, Marco Bellocchio und Claude Chabrol sehr früh ihre ersten wichtigen Preise. Locarno wurde zur Startrampe ihrer Weltkarriere. Erst im letzten Jahrzehnt brach man am Lago Maggiore
öfters mit dieser Tradition: Plötzlich gewannen Filmemacher, die über 50 oder in zwei Fällen sogar über 60 Jahre alt waren und bereits mehr als ein Dutzend Filme gedreht hatten. Sie konnte Locarno mit seinen Preisen gar nichts entdecken, selbst wenn es das gewollt hätte. Damit aber wurde das Festival plötzlich zum Austragsstüberl für Altmeister, die es nicht nach Venedig oder San Sebastian geschafft hatten. In diesem Jahr wendete sich das Blatt wieder ganz deutlich: Locarno entdeckte junge
unbekannte Namen, die kein Filmkritiker und nur die wenigsten Einkäufer vorher auf dem Schirm hatten.
Auch deswegen ging Alexander Sokurow leer aus. Der bekannte russische Filmemacher und Putin-Kritiker drehte mit Märchen einen Antipropagandafilm: Eine Fantasygeschichte, in der in einer von den Bildern Piranesis inspirierten Vorhölle Diktatoren wie Hitler, Stalin und Mussolini aufeinandertreffen und in Dialog treten. Es sind bizarre Bilder, die
dadurch entstehen, dass dokumentarisches Archivmaterial durch Software animiert wird. Ein irgendwie aus der Zeit gefallenes Uraltmeister-Kunstkino.
Die dritte deutliche Tendenz: die Preise sind Preise für die Kunst und für das Autorenkino. Es sind keine Preise nur für politische Moral, den richtigen Standpunkt oder ein sogenanntes »relevantes« oder »wichtiges« Thema ohne eine außergewöhnliche Form.
+ + +
Der deutsche Film zeigte sich in Locarno durchaus stark, blieb aber doch innerhalb sehr klar definierbarer Grenzen. Am spannendsten waren dabei die ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Die Münchnerin Mariko Minoguchi, der mit Mein Ende. Dein Anfang 2019 ein hinreißendes Debüt gelungen war, war eine der Eingeladenen der exklusiven »Alliance 4 Development«, einer Initiative zur gemeinsamen Entwicklung von Filmprojekten aus Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz, die von »Locarno Pro« veranstaltet wird.
Die genreaffine Regisseurin erzählt in ihrem neuen Projekt Element (Arbeitstitel) von einer Welt zwischen Horror und Future-Mystery, in der das Wasser ein Eigenleben entwickelt und ein Team von Wissenschaftlern versucht, es zu verstehen...
Minoguchi, die auch das Drehbuch zu Tim Fehlbaums Tides mitverfasst hat, will einen deutschen Science-Fiction-Film entwickeln, der »keine großen Emotionen oder Bilder scheut«, so die Regisseurin, »der zum Nachdenken und Reflektieren anregt und vor allem ein bewegendes und beeindruckendes Kinoerlebnis ist.«
+ + +
Beides kann der deutsche Film gebrauchen.
Die deutschen Wettbewerbsbeiträge in Locarno waren im einen Fall gut, aber nicht überragend, im anderen schlicht und einfach nicht ausgereift: Helena Wittmann bot mit ihrem neuen Film Human Flowers of Flesh (nach Drift) aufregende Bilder, die sich aber erst im Kopf des Zuschauers zu einem Zusammenhang fügten: Eine Gruppe junger Leute bewegt sich auf den Spuren der
französischen Fremdenlegion.
Ein spannender Film, aber auch eine bewusste Herausforderung und Zumutung für manche, der erkennbar nicht alle Kollegen gewachsen waren: Bereits in der Pressevorvorführung leerte sich der Saal wie bei keinem anderen Film.
Demgegenüber war Piaffe von Ann Oren einfach nur ein hochartifizieller Unsinn über eine Frau, die sich in ein Pferd verwandelt. Beide Filme waren auf der einen Seite zu sperrig für ein breiteres
Publikum, und andererseits dann auch nicht in der Lage, ihre großen Ideen den Gutwilligen präzise zu vermitteln. Im Unterschied zur brasilianischen Preisträgerin.
+ + +
Das verstärkte die Krise, in die das Festival sich in den letzten 15 Jahren manövriert hatte: Im Vergleich zur hippen Konkurrenz in Zürich wirkt Locarno wie von Gestern: ein Sanatorium, schön, aber aus der Zeit gefallen. Mit einem viel zu großen Programm und einem unklaren Profil.
Nach wie vor hat das Festival Probleme und erkennbare Schwächen: Die Filme auf der Piazza Grande, der populärsten Sektion, waren in diesem Jahr so schwach und belanglos wie lange nicht.
Es sind insgesamt auch viel zu viele Filme, die in Locarno gezeigt werden, nicht zuletzt, weil das Festival es vielen Herren recht machen muss.Vor allem aber ist es ein Problem, dass es zwei Wettbewerbe gibt, die schwer bis gar nicht auseinanderzuhalten sind. Immer wieder versteht man nicht, warum
ein bestimmter Film im einen Wettbewerb und nicht im anderen läuft.
Trotzdem war die 75. Jubiläumsausgabe ein Erfolg. Denn das Festival schaffte in diesem Jahr das Allerwichtigste: Es brachte die Menschen zurück in die Leinwandsäle.