Der Dampfer ist wieder los |
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Anne Ratte-Polle sieht hier wirklich der Margit Carstensen ähnlich (Alle wollen geliebt werden) | ||
(Foto: Matan Radin / dffb) |
Von Dunja Bialas
»Wir arbeiten dort, wo andere Urlaub machen.« Dieser Satz ist ein zweischneidiges Schwert, wie wir letzte Woche schrieben. Auch Matthias Helwig, Leiter des Fünf Seen Filmfestivals (FSFF), kennt die Ambivalenz der Urlaubsarbeit zu gut, er ist schließlich außerdem noch Betreiber von Kinos in Gauting, Seefeld und Starnberg, die er jetzt bei seinem Festival einsetzen kann.
Die Fünf-Seen-Region umfasst eine alternative und kreative
Community, die aus der Stadt geflohen ist, um das tägliche Schwimmen – auch zur Winterszeit – in einem der fünf Seen (Starnberger See, Ammersee, Pilsensee, Wörthsee und Weßlinger See) zu praktizieren. Sie ist schon ein wenig in die Jahre gekommen, freut sich aber stets über das Event, wenn im Fahrwasser der Filme hochkarätige Prominenz an die Seeufer gespült wird.
Dieses Jahr ist Sandra Hüller dran. Die »Spielwütige«, wie sie auch genannt wird, interessiert sich für viele Filmformen und strömt ihr Toni Erdmann-Renommee auch in Nebenrollen aus (auf dem Festival: Alle reden übers Wetter). Sie wird am 4. September im Seebad Starnberg den Hannelore-Elsner-Preis entgegennehmen, anschließend ist Toni Erdmann zu sehen. Besonders empfohlen aus dem Hommage-Programm sei jedoch Brownian Movement (2010), der Hüller als gerne mal Unverhüllte bekannt gemacht hat und ihre Experimentierfreudigkeit beweist. Auch in Hans-Christian Schmids Requiem (2006) kann man in ihr Seiten entdecken, die sie als deutsche Isabelle Huppert auszeichnen (4.9. in Starnberg).
Hannelore Elsner, die Grande Dame des bayerischen Kinos, hat der Region in der FX-Bogner-Kultserie »Irgendwie und sowieso« an der Seite von Toni Berger viel Zärtlichkeit geschenkt. 2011 kam sie als Ehrengast zum Festival an den fünf Seen »und blieb spontan gleich länger als geplant«, so wissen es zumindest die Festival-Annalen. Dieses Jahr ist Iris Berben der Ehrengast und stellt drei ihrer Filme persönlich vor (Frau Rettich, die Czerni und ich, Es kommt der Tag, Miss Sixty) (27. und 28. August). Wenn sich jetzt ein Déjà-Vu-Gefühl einstellen sollte, ist das nur der Tatsache geschuldet, dass Berben in den letzten Jahren (Corona nicht mitgerechnet) ein gern gesehener Festivalgast war. Die Berben zu ehren ist eine sichere Nummer, sie ist schlau, schön und gesellig. Außerdem hat sie viel Humor, das kann man bei Ruben Östlunds wahnwitzigem Triangle of Sadness nachprüfen, der allerdings in Starnberg noch nicht seinen großen Auftritt haben wird. In der sarkastischen Kreuzfahrtsatire spielt sie eine grenzdebile, dafür steinreiche Passagierin, die immer nur »Zu den Wolken« ruft. Chapeau allein dafür!
Eröffnet wurde das Festival am gestrigen Mittwoch mit der Tragikomödie Alle wollen geliebt werden der aus München stammenden dffb-Absolventin Katharina Woll, in der es um die Nöte einer Psychotherapeutin geht. »Artechock«-Autor Christoph Becker schrieb anlässlich der deutschen Premiere des Debütfilms auf dem Filmfest München: »Der Film ist lustig eskalierend, klischeebeladen und alltagsecht, bleibt aber großteils auf lauwarmem TV-Abend-Niveau.« Mit der TV-Einschätzung kann man sich ja leicht verschätzen, andererseits klingt hier auch ein Grundproblem des deutschen Films an, oftmals zu seicht zu bleiben, was auch an der gängigen TV-Co-Produktion liegen mag. Auf jeden Fall kam Anne Ratte-Polle zur Vorführung, eine der markanten deutschen Schauspielerinnen, die sicherlich nicht für seichten Mainstream steht. Die eher als Reinkarnation der großen Margit Carstensen gelten kann – ihre Leinwandpräsenz allein ist schon ein Ereignis (25.9. Starnberg, Seefeld, Gauting).
»Perspektive Spielfilm« hat Helwig den Wettbewerb mit sieben Filmen eines mutigen Erzählkinos genannt, in dem auch Alle reden übers Wetter mit Sandra Hüller zu sehen ist. Das Langfilmdebüt von Annika Pinske ist ein neuer Heimatfilm, der dieses schön-entsetzliche Gefühl absolut authentisch zu transportieren weiß, wenn man in das Kaff zurückkehrt, aus dem man stammt. Auf dem Dorffest wird getrunken, bis die Männer gestützt werden müssen, verflossene Liebe steht im Raum. Aber vor allem herrscht die Drögheit des Immergleichen: das Essen wird gelobt, die Fahrt war ein gutes Durchkommen, die Eier müssen mitgenommen werden. Anne Schäfer spielt die Tochter, die es geschafft hat. Sie hat studiert, hat eine Stelle an der Uni in der Stadt. Gefährliche Klippe ist, wenn sie »schlau daherredet«, wie man in Bayern sagen würde, die Handlung aber spielt im Osten. Dabei interessiert sie sich dafür, was die Menschen wirklich bewegt. Sie sitzen aber fest und reden wirklich fast nur übers Wetter (2.9. Gauting, 3.9. Starnberg, auch Open Air).
Der Film ist ein schönes Beispiel für diese unaufgeregte Art des Filmemachens, die ihre Tradition in der Berliner Schule und mit Valeska Grisebach auch das Heimatgenre neu geschrieben hat. Alle, nicht nur in der ostdeutschen Provinz, werden sich in diesem »Hast du eine Mutter, hast du immer Butter«-Film wiederfinden können. Sicherlich auch die Menschen an den fünf Seen, die ihre Landschaft in den Sechzigerjahren für den allzu blöden deutschen Heimatfilm hergeben mussten. Bei »Starnberger See« denken die Touristen ohnehin alle nur an den »Kini«, den bayerischen König, der sich im See etränkt hat.
Aber nicht um den Kini, sondern ums Kino geht es noch bis zum 4. September in der Starnberger Gegend. Daher gibt es auch nicht Corsage zu sehen, Marie Kreutzers emanzipatorische Sisi-Fantasy mit Vicky Krieps, der bereits seine Kinoauswertung hinter sich hat. Das Festival vergibt auch einen Dokumentarfilmpreis, um den neun Filme konkurrieren. Darunter, gewissermaßen als Entschädigung für den nicht gezeigten Corsage: Ruth Beckermanns Mutzenbacher, basierend auf dem Buch »Die Geschichte einer Wienerischen Dirne«. Mit der Dirne ist Josefine Mutzenbacher gemeint, die heute noch mythische Qualitäten hat. Bei Ruth Beckermann nehmen Männer auf einem historischen Sofa Platz, um aus dem Buch Texte zu verlesen, möglichst ohne dabei zu erröten, denn es wird sehr explizit. Ist aber von 1906 (30.8 in Gauting und 31.8. in Seefeld)!
Opulent wird das Programm, wenn noch die zahlreichen Nebenreihen gewürdigt werden wollen. Viele stellen sich drängenden Themen der Zeit. »Kino & Klima« ist eine gedankliche Fortführung des »Cinema for Future« der diesjährigen Filmkunstwochen München, mit Lars Henrik Ostenfelds bilderstarkem Into the Ice, der in einen grönländischen Gletscher führt (erzählt von Campino) (25.8. in Gauting, 29.8. in Wessling). Robert Schabus’ Alpenland gehört natürlich zwingend aufs FSFF. Eine bildgewordene Alpinismus-Kritik, die in diesem Spätsommer gerade zur rechten Zeit kommt, um die Skier nicht aus dem Keller zu holen (25.8. und 26.8. in Gauting, 26.8. auch in Starnberg). In dieser Reihe wird der Publikumspreis »Kino & Klima Award« vergeben.
Wer denkt, dass die Reihe »Gastland Taiwan« mit drei Filmen spontan aus dem Boden gestampft wurde, weil US-Politiker es neuerdings als super Reiseziel auserkoren haben, der irrt. Eine »gute Tradition« sei es, so die Website des Festivals, aus der Republik China Spiel- und Kurzfilme zu zeigen. Seit vielen Jahren werde in Zusammenarbeit mit der Taipeh-Vertretung in München die Landkreis-Partnerschaft zwischen Starnberg und Neu-Taipeh mit Filmen unterstrichen. Diese soll 1980 mit einer Fallschirmspringer-Delegation aus Taiwan begonnen haben, die zu den Weltmeisterschaften in Schongau angereist war. Gezeigt wird American Girl (2021), davor kann man bei einem Empfang auf Tuchfühlung mit der Taipeh-Vertretung in Deutschland gehen (30.8. in Gauting).
Wenn man bei 130 Filmen und 80 Gästen mal ein wenig Erholung braucht, empfiehlt sich die Dampferfahrt mit der MS Starnberg, die nach zwei Jahren Pause zum ersten Mal wieder stattfinden darf. Sie verspricht Abwechslung: Vor oberbayerischer Kulisse, mit einem Glas Sekt in der Hand, werden auf zwei Leinwänden Kurzfilme gebeamt, der »Kino & Klima Award« verliehen (siehe oben) und Harold Lloyds hundertjähriger Stummfilmklassiker Grandma’s Boy (1922) gezeigt (29.8.).
Sagt man eigentlich auch in Starnberg »Ahoi«? Was soll’s. Ahoi!