25.08.2022

Der Dampfer ist wieder los

Alle wollen nur geliebt werden
Anne Ratte-Polle sieht hier wirklich der Margit Carstensen ähnlich (Alle wollen geliebt werden)
(Foto: Matan Radin / dffb)

Zum 16. Fünf Seen Filmfestival kommen Sandra Hüller, Iris Berben und 78 weitere Gäste. Ein Panorama-Blick aufs Programm

Von Dunja Bialas

»Wir arbeiten dort, wo andere Urlaub machen.« Dieser Satz ist ein zwei­schnei­diges Schwert, wie wir letzte Woche schrieben. Auch Matthias Helwig, Leiter des Fünf Seen Film­fes­ti­vals (FSFF), kennt die Ambi­va­lenz der Urlaubs­ar­beit zu gut, er ist schließ­lich außerdem noch Betreiber von Kinos in Gauting, Seefeld und Starnberg, die er jetzt bei seinem Festival einsetzen kann.
Die Fünf-Seen-Region umfasst eine alter­na­tive und kreative Community, die aus der Stadt geflohen ist, um das tägliche Schwimmen – auch zur Winters­zeit – in einem der fünf Seen (Starn­berger See, Ammersee, Pilsensee, Wörthsee und Weßlinger See) zu prak­ti­zieren. Sie ist schon ein wenig in die Jahre gekommen, freut sich aber stets über das Event, wenn im Fahr­wasser der Filme hoch­karä­tige Prominenz an die Seeufer gespült wird.

Sandra Hüller: Die deutsche Huppert

Dieses Jahr ist Sandra Hüller dran. Die »Spiel­wü­tige«, wie sie auch genannt wird, inter­es­siert sich für viele Film­formen und strömt ihr Toni Erdmann-Renommee auch in Neben­rollen aus (auf dem Festival: Alle reden übers Wetter). Sie wird am 4. September im Seebad Starnberg den Hannelore-Elsner-Preis entge­gen­nehmen, anschließend ist Toni Erdmann zu sehen. Besonders empfohlen aus dem Hommage-Programm sei jedoch Brownian Movement (2010), der Hüller als gerne mal Unver­hüllte bekannt gemacht hat und ihre Expe­ri­men­tier­freu­dig­keit beweist. Auch in Hans-Christian Schmids Requiem (2006) kann man in ihr Seiten entdecken, die sie als deutsche Isabelle Huppert auszeichnen (4.9. in Starnberg).

Iris Berben: Erstaun­lich uneitel

Hannelore Elsner, die Grande Dame des baye­ri­schen Kinos, hat der Region in der FX-Bogner-Kultserie »Irgendwie und sowieso« an der Seite von Toni Berger viel Zärt­lich­keit geschenkt. 2011 kam sie als Ehrengast zum Festival an den fünf Seen »und blieb spontan gleich länger als geplant«, so wissen es zumindest die Festival-Annalen. Dieses Jahr ist Iris Berben der Ehrengast und stellt drei ihrer Filme persön­lich vor (Frau Rettich, die Czerni und ich, Es kommt der Tag, Miss Sixty) (27. und 28. August). Wenn sich jetzt ein Déjà-Vu-Gefühl einstellen sollte, ist das nur der Tatsache geschuldet, dass Berben in den letzten Jahren (Corona nicht mitge­rechnet) ein gern gesehener Festi­val­gast war. Die Berben zu ehren ist eine sichere Nummer, sie ist schlau, schön und gesellig. Außerdem hat sie viel Humor, das kann man bei Ruben Östlunds wahn­wit­zigem Triangle of Sadness nach­prüfen, der aller­dings in Starnberg noch nicht seinen großen Auftritt haben wird. In der sarkas­ti­schen Kreuz­fahrt­sa­tire spielt sie eine grenz­de­bile, dafür stein­reiche Passa­gierin, die immer nur »Zu den Wolken« ruft. Chapeau allein dafür!

Anne Ratte-Polle: Reinkar­na­tion der Cars­tensen

Eröffnet wurde das Festival am gestrigen Mittwoch mit der Tragi­komödie Alle wollen geliebt werden der aus München stam­menden dffb-Absol­ventin Katharina Woll, in der es um die Nöte einer Psycho­the­ra­peutin geht. »Artechock«-Autor Christoph Becker schrieb anläss­lich der deutschen Premiere des Debüt­films auf dem Filmfest München: »Der Film ist lustig eska­lie­rend, klischee­be­laden und alltags­echt, bleibt aber großteils auf lauwarmem TV-Abend-Niveau.« Mit der TV-Einschät­zung kann man sich ja leicht verschätzen, ande­rer­seits klingt hier auch ein Grund­pro­blem des deutschen Films an, oftmals zu seicht zu bleiben, was auch an der gängigen TV-Co-Produk­tion liegen mag. Auf jeden Fall kam Anne Ratte-Polle zur Vorfüh­rung, eine der markanten deutschen Schau­spie­le­rinnen, die sicher­lich nicht für seichten Main­stream steht. Die eher als Reinkar­na­tion der großen Margit Cars­tensen gelten kann – ihre Lein­wand­prä­senz allein ist schon ein Ereignis (25.9. Starnberg, Seefeld, Gauting).

Spiel­filme als neue Perspek­tiven

»Perspek­tive Spielfilm« hat Helwig den Wett­be­werb mit sieben Filmen eines mutigen Erzähl­kinos genannt, in dem auch Alle reden übers Wetter mit Sandra Hüller zu sehen ist. Das Lang­film­debüt von Annika Pinske ist ein neuer Heimat­film, der dieses schön-entsetz­liche Gefühl absolut authen­tisch zu trans­por­tieren weiß, wenn man in das Kaff zurück­kehrt, aus dem man stammt. Auf dem Dorffest wird getrunken, bis die Männer gestützt werden müssen, verflos­sene Liebe steht im Raum. Aber vor allem herrscht die Drögheit des Immer­glei­chen: das Essen wird gelobt, die Fahrt war ein gutes Durch­kommen, die Eier müssen mitge­nommen werden. Anne Schäfer spielt die Tochter, die es geschafft hat. Sie hat studiert, hat eine Stelle an der Uni in der Stadt. Gefähr­liche Klippe ist, wenn sie »schlau daher­redet«, wie man in Bayern sagen würde, die Handlung aber spielt im Osten. Dabei inter­es­siert sie sich dafür, was die Menschen wirklich bewegt. Sie sitzen aber fest und reden wirklich fast nur übers Wetter (2.9. Gauting, 3.9. Starnberg, auch Open Air).

Der Film ist ein schönes Beispiel für diese unauf­ge­regte Art des Filme­ma­chens, die ihre Tradition in der Berliner Schule und mit Valeska Grisebach auch das Heimat­genre neu geschrieben hat. Alle, nicht nur in der ostdeut­schen Provinz, werden sich in diesem »Hast du eine Mutter, hast du immer Butter«-Film wieder­finden können. Sicher­lich auch die Menschen an den fünf Seen, die ihre Land­schaft in den Sech­zi­ger­jahren für den allzu blöden deutschen Heimat­film hergeben mussten. Bei »Starn­berger See« denken die Touristen ohnehin alle nur an den »Kini«, den baye­ri­schen König, der sich im See etränkt hat.

Nicht Kini, sondern Kino

Aber nicht um den Kini, sondern ums Kino geht es noch bis zum 4. September in der Starn­berger Gegend. Daher gibt es auch nicht Corsage zu sehen, Marie Kreutzers eman­zi­pa­to­ri­sche Sisi-Fantasy mit Vicky Krieps, der bereits seine Kino­aus­wer­tung hinter sich hat. Das Festival vergibt auch einen Doku­men­tar­film­preis, um den neun Filme konkur­rieren. Darunter, gewis­ser­maßen als Entschä­di­gung für den nicht gezeigten Corsage: Ruth Becker­manns Mutzen­ba­cher, basierend auf dem Buch »Die Geschichte einer Wiene­ri­schen Dirne«. Mit der Dirne ist Josefine Mutzen­ba­cher gemeint, die heute noch mythische Quali­täten hat. Bei Ruth Becker­mann nehmen Männer auf einem histo­ri­schen Sofa Platz, um aus dem Buch Texte zu verlesen, möglichst ohne dabei zu erröten, denn es wird sehr explizit. Ist aber von 1906 (30.8 in Gauting und 31.8. in Seefeld)!

Opulent wird das Programm, wenn noch die zahl­rei­chen Neben­reihen gewürdigt werden wollen. Viele stellen sich drän­genden Themen der Zeit. »Kino & Klima« ist eine gedank­liche Fort­füh­rung des »Cinema for Future« der dies­jäh­rigen Film­kunst­wo­chen München, mit Lars Henrik Osten­felds bilder­starkem Into the Ice, der in einen grön­län­di­schen Gletscher führt (erzählt von Campino) (25.8. in Gauting, 29.8. in Wessling). Robert Schabus’ Alpenland gehört natürlich zwingend aufs FSFF. Eine bild­ge­wor­dene Alpi­nismus-Kritik, die in diesem Spät­sommer gerade zur rechten Zeit kommt, um die Skier nicht aus dem Keller zu holen (25.8. und 26.8. in Gauting, 26.8. auch in Starnberg). In dieser Reihe wird der Publi­kums­preis »Kino & Klima Award« vergeben.

Wer denkt, dass die Reihe »Gastland Taiwan« mit drei Filmen spontan aus dem Boden gestampft wurde, weil US-Politiker es neuer­dings als super Reiseziel auser­koren haben, der irrt. Eine »gute Tradition« sei es, so die Website des Festivals, aus der Republik China Spiel- und Kurzfilme zu zeigen. Seit vielen Jahren werde in Zusam­men­ar­beit mit der Taipeh-Vertre­tung in München die Landkreis-Part­ner­schaft zwischen Starnberg und Neu-Taipeh mit Filmen unter­stri­chen. Diese soll 1980 mit einer Fall­schirm­springer-Dele­ga­tion aus Taiwan begonnen haben, die zu den Welt­meis­ter­schaften in Schongau angereist war. Gezeigt wird American Girl (2021), davor kann man bei einem Empfang auf Tuch­füh­lung mit der Taipeh-Vertre­tung in Deutsch­land gehen (30.8. in Gauting).

Wenn man bei 130 Filmen und 80 Gästen mal ein wenig Erholung braucht, empfiehlt sich die Damp­fer­fahrt mit der MS Starnberg, die nach zwei Jahren Pause zum ersten Mal wieder statt­finden darf. Sie verspricht Abwechs­lung: Vor ober­baye­ri­scher Kulisse, mit einem Glas Sekt in der Hand, werden auf zwei Lein­wänden Kurzfilme gebeamt, der »Kino & Klima Award« verliehen (siehe oben) und Harold Lloyds hundert­jäh­riger Stumm­film­klas­siker Grandma’s Boy (1922) gezeigt (29.8.).

Sagt man eigent­lich auch in Starnberg »Ahoi«? Was soll’s. Ahoi!