05.09.2022

Die Zärtlichkeit der Kannibalen

Bones and All
Aus dem Hinterland Amerikas
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig · Bones and All)

Ein Kuss schon ist die Zunge ab: Wo soll das hinführen, wenn jetzt auch noch die Monster ihr Gewissen entdecken? – Notizen aus Venedig, Folge 03

Von Rüdiger Suchsland

»Das ist eigent­lich nicht das Mittag­essen, das ich mir vorge­nommen hatte«, sagte Babette, »ich hatte eigent­lich an Joghurt und Weizen­keime gedacht.« ... Sie kauft das Zeug ständig, aber sie isst es nie, aber sie glaubt, wenn sie es immer wieder kauft, muss sie es auch essen, um es loszu­werden. Als ob sie sich selbst austricksen wollte. Die halbe Küche ist voll davon. Aber sie wirft es weg, bevor sie es isst, weil es schlecht wird, und dann fängt sie mit dem Ganzen wieder von vorne an. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht kauft, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es kauft und es nicht isst, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es im Kühl­schrank sieht, sie hat dann schlechtes Gewissen, wenn sie es fortwirft.
aus: White Noise von Don DeLillo

Magische Momente im Kino: Gerade hat man es sich wohlig einge­richtet in einem stil­si­cheren US-High­school­drama, in dem zu guter 80’s-Popmusik und Ambient-Tontep­pi­chen schöne junge Menschen schöne, wenn auch etwas banale Dinge tun, und man einem Mädchen wohl die noch nächsten zwei Stunden dabei zuschauen wird, wie sie gegen gewisse Wider­s­tände erwachsen werden wird.
Doch dann passiert auf der Leinwand etwas Atem­be­rau­bendes.

Am späten Abend ist die 17-jährige Maren zuhause ausgebüxt, aus dem Fenster geklet­tert, um ihre Freun­dinnen zu treffen. Dort reden sie über »Girls Stuff«: Klamotten, Lippen­stift, Nagellack. Maren kuschelt mit ihrer Gast­ge­berin auf dem Boden, schaut ihr Gegenüber noch zärtlich an, sie könnten sich gleich küssen, erotische Zwei­deu­tig­keit liegt jeden­falls in der Luft, erst recht als Maren den Mittel­finger ihrer Freundin sinnlich lutscht und in den Mund nimmt. Dann beißt sie zu, und vom Finger bleiben nur noch die nackten Knochen übrig!

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Ein unglaub­lich starker Kino­au­gen­blick! Und der Auftakt zu einem Kanni­ba­len­film, in dem die Welt der Menschen, jeden­falls in den USA, von »Essern« durch­setzt ist, die sich unter­ein­ander erkennen, ansonsten aber unerkannt bleiben. Es sind freund­liche Wesen mit normalen Problemen, die sich auch von Obst oder Hühn­chen­fleisch ernähren, bis sie in regel­mäßigen Abständen der unkon­trol­lier­bare Heißhunger nach dem »Anderen« wie ein Trieb überfällt.
Bones and All heißt dieser Film des Italie­ners Luca Guad­a­gnino

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Maren (gespielt von Taylor Russell) ist still, und an ihrer High­school viel­leicht eine Außen­sei­terin. Sie ist jeden­falls schwarz und sie hat kaum Erin­ne­rungen an ihre Mutter, wie sie der Freundin erzählt. Sie wohnt in einem Wohnwagen in einem Trai­ler­park, ist also auch ökono­misch eine Außen­sei­terin.
Irgend­wann ist der Vater weg. Er hat es nicht mehr ausge­halten mit der zunehmend mons­tröser werdenden Tochter. »You got clever. So fucking clever.« Aber er lässt ihr eine Kassette da, die er bespro­chen hat. Das Ganze spielt in den 80er Jahren: Es gibt Walkman, es gibt keine Mobil­te­le­fone. Es ist die Zeit von Ronald Reagan.

Jetzt begibt sie sich allein auf eine Reise durch die USA, auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie führt sie zunächst von Virginia nach Massa­chu­setts. Nachts, bei einer einsamen Grey­hound­sta­tion, trifft sie einen relativ alten merk­wür­digen Mann. Er heißt Sullivan und nennt sich Sully.

Sully erzählt aus seinem Leben – »I ate my own granddad, while we were waiting for the under­taker« – erklärt ihr, dass es in ganz Amerika offenbar ziemlich viele Kanni­balen gibt, jeden­falls viel mehr, als man denkt.
Sie haben Prin­zi­pien: »Never eat an Eater.« Und: »I don’t kill people. At least I try not to.«

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Bald danach trifft Maren, die immer eine Barbour-Jacke trägt, auf Lee (Timothée Chalamet). Er hört Kiss (Lick it up), wird ihr Freund, dann ihr Lover.
Regisseur Guad­a­gnino hat bekannt­lich keine Angst vor Genre­stoffen, und dreht immer wieder abwech­selnd in seiner Heimat Italien und den USA. Er zeigt die Kanni­balen als sympa­thi­sche und sehr zärtliche Wesen, die Trieb­täter sind, aber selber unter ihrem Trieb leiden, die oft arm sind und Außen­seiter. Genau darum geht es ihm: Um Menschen, die auf andere wie abstoßende Monster wirken, in bürger­liche Zusam­men­hänge nicht inte­grierbar sind und auch Obdach­lose oder Drogen­süch­tige sein könnten. Der Kanni­ba­lismus ist ein Vorwand, um sie in den Augen des Publikums noch abstoßender wirken zu lassen. Wir sehen hier viele solche Charak­tere: Budweiser saufende Provinz­deppen. Dabei ist die Handlung immer wieder unter­bro­chen von Tagträumen oder Albträumen der Figuren.

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»Anywhere. West, let’s go west«

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Dies und eine fließende Kamera erinnert an Chloe Zhaos Nomadland und an American Honey von Andrea Arnold.
Denn zugleich ist dies auch ein Roadmovie, der seine Haupt­fi­guren durch diverse US-Bundes­staaten durch den »Blood Meridian« (Cormac McCarthy) führt, weil sie ihre Eltern suchen, und sie erstmal den White Trash und die Hilly­billys finden lässt …

Ein Spiel­bu­den­be­sitzer in Kentucky ist offen­sicht­lich schwul, lässt sich von Lee im Maisfeld verführen und wird gegessen. Das ist eine starke Szene, in der der Film dem Unaus­sprech­li­chen nahe kommt, Tod und Sex verbindet.

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Es geht um Kanni­balen, die ihr Gewissen entdecken. Aber wo soll das hinführen, wenn jetzt auch noch die Monster ihr Gewissen entdecken?

Es geht natürlich auch um Rebellion: »You wanna be people? Let’s be people. Hey, let’s be people for a while.«

Aber das Glück kann nicht von Dauer sein. Sully kommt wieder und wir verstehen: Amerika ist ein kanni­ba­li­sches Land.

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Wenn Maren und Lee sich küssen, und das tun sie oft, dann denkt man immer: Hoffent­lich beißt jetzt keiner zu.

Luca Guad­a­gnino ist mit Bones and All wunder­schönes, über weite Strecken aufre­gendes Kino geglückt: Ein Roadmovie, der die Vorstel­lung von ameri­ka­ni­scher Freiheit entfaltet, ein Liebes­film, ein Mons­ter­film.

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Die Suche nach Eltern verbindet diesen Film mit anderen, ob dem starken, ebenfalls von einem Italiener in den USA gedrehten Monica, um einen Trans­jungen, der, zur Frau geworden, von der eigenen Mutter nicht mehr erkannt und vom Bruder abgelehnt wird. Und mit The Whale einer präten­tiösen Thea­ter­ver­fil­mung von Regie-Alphatier Darren Aronofsky, der auch mit Abstoßung, Wider­willen und Ekel arbeitet. Aber völlig anders als Guad­a­gnino: Er drückt die Zuschauer im Klam­mer­griff mit der Nase in Fett, Kotze und schlechtes Essen.

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Insgesamt ist der bisherige Eindruck vom dies­jäh­rigen Festival deutlich verhal­tener als sonst in Venedig. Und das nicht nur, weil es weniger Partys gibt. Die Papier­form der Festi­val­filme ist nicht gut. Es gibt weder richtig große Namen, noch irgend­etwas, auf das alles hinfie­bert. Noch gibt es bislang echte Über­ra­schungen.
Es gibt auch weniger Veran­stalter, und zum Beispiel ist der lang­jäh­rige Betrieb, der Pizza und Getränke auf dem Lido verkauft, weg (wie seit Jahren schon eine Bude, die die besten Sand­wi­ches und Panini hatten, aber eben unab­hängig waren). Ganz offen­sicht­lich hat man die Pandemie zwar über­standen, aber nicht mehr die anschließende Krise und Inflation.

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Man sollte eigent­lich gar nicht darüber schreiben, ich tue es jetzt aber trotzdem: Auch bei der Venedig-Eröffnung trat wieder der ukrai­ni­sche Präsident Wolodymyr Selenskyj auf, der jetzt offenbar jedes Film­fes­tival von Rang eröffnen muss. Man darf gespannt sein, ob er dann im Februar auch bei der Berlinale reden wird. Was er sagte, waren die sattsam bekannten Allge­mein­plätze, die zum 20. Mal wieder­holt worden und die man auf ihre Art auch extrem frag­würdig finden kann. Insbe­son­dere aber stellt sich die Frage: Was hat das eigent­lich mit einem Film­fes­tival zu tun? Oder anders gefragt: Warum muss ein Film­fes­tival sich mit poli­ti­schen Absichten gemein machen? Muss ein Festival sich poli­ti­sieren lassen, um ein Exis­tenz­recht zu haben?
Kann es aus eigenem Recht, also der Kunst, die gezeigt wird, nicht exis­tieren? Oder ist es umgekehrt eher eine dekadente Position meiner­seits, dass der Unter­schied zwischen Kunst einer­seits und Design und Propa­ganda ande­rer­seits gerade darin liegt: dass Kunst autonom ist und sein muss.

Selbst­ver­s­tänd­lich bin ich der Ansicht, dass alles politisch ist. So wie auch alles ästhe­tisch ist. Das Poli­ti­sche ist univer­sell so wie das Ästhe­ti­sche. Insofern kann man alles aus jeweils beiden Perspek­tiven beur­teilen und selbst­ver­s­tänd­lich mischen sich auch beide Perspek­tiven.
Ich sage auch nicht, dass auf dem Festival der Krieg ignoriert werden sollte. Ganz und gar nicht. Ich glaube, die Aufgabe eines Festivals ist aller­dings, bekannten Perspek­tiven neue Perspek­tiven hinzu­zu­fügen. Davon abgesehen, dass ein Festival sich nicht zur Bühne machen sollte für Politiker. Auch nicht für Politiker, die einem aus irgend­einem Grund sympa­thisch sind oder deren Absichten unter­s­tüt­zens­wert erscheinen.

Mit einer Selenskyj-Rede als ritueller Geste pro Festival dürfte auch der Ukraine nicht gedient sein.

Oder wollte sich der Festi­val­leiter Alberto Barbera nur keine Blöße geben?

(to be continued)