Die Zärtlichkeit der Kannibalen |
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Aus dem Hinterland Amerikas | ||
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig · Bones and All) |
»Das ist eigentlich nicht das Mittagessen, das ich mir vorgenommen hatte«, sagte Babette, »ich hatte eigentlich an Joghurt und Weizenkeime gedacht.« ... Sie kauft das Zeug ständig, aber sie isst es nie, aber sie glaubt, wenn sie es immer wieder kauft, muss sie es auch essen, um es loszuwerden. Als ob sie sich selbst austricksen wollte. Die halbe Küche ist voll davon. Aber sie wirft es weg, bevor sie es isst, weil es schlecht wird, und dann fängt sie mit dem Ganzen wieder von vorne an. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht kauft, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es kauft und es nicht isst, sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie es im Kühlschrank sieht, sie hat dann schlechtes Gewissen, wenn sie es fortwirft.
aus: White Noise von Don DeLillo
Magische Momente im Kino: Gerade hat man es sich wohlig eingerichtet in einem stilsicheren US-Highschooldrama, in dem zu guter 80’s-Popmusik und Ambient-Tonteppichen schöne junge Menschen schöne, wenn auch etwas banale Dinge tun, und man einem Mädchen wohl die noch nächsten zwei Stunden dabei zuschauen wird, wie sie gegen gewisse Widerstände erwachsen werden wird.
Doch dann passiert auf der Leinwand etwas Atemberaubendes.
Am späten Abend ist die 17-jährige Maren zuhause ausgebüxt, aus dem Fenster geklettert, um ihre Freundinnen zu treffen. Dort reden sie über »Girls Stuff«: Klamotten, Lippenstift, Nagellack. Maren kuschelt mit ihrer Gastgeberin auf dem Boden, schaut ihr Gegenüber noch zärtlich an, sie könnten sich gleich küssen, erotische Zweideutigkeit liegt jedenfalls in der Luft, erst recht als Maren den Mittelfinger ihrer Freundin sinnlich lutscht und in den Mund nimmt. Dann beißt sie zu, und vom Finger bleiben nur noch die nackten Knochen übrig!
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Ein unglaublich starker Kinoaugenblick! Und der Auftakt zu einem Kannibalenfilm, in dem die Welt der Menschen, jedenfalls in den USA, von »Essern« durchsetzt ist, die sich untereinander erkennen, ansonsten aber unerkannt bleiben. Es sind freundliche Wesen mit normalen Problemen, die sich auch von Obst oder Hühnchenfleisch ernähren, bis sie in regelmäßigen Abständen der unkontrollierbare Heißhunger nach dem »Anderen« wie ein Trieb überfällt.
Bones and All heißt dieser Film des Italieners Luca Guadagnino
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Maren (gespielt von Taylor Russell) ist still, und an ihrer Highschool vielleicht eine Außenseiterin. Sie ist jedenfalls schwarz und sie hat kaum Erinnerungen an ihre Mutter, wie sie der Freundin erzählt. Sie wohnt in einem Wohnwagen in einem Trailerpark, ist also auch ökonomisch eine Außenseiterin.
Irgendwann ist der Vater weg. Er hat es nicht mehr ausgehalten mit der zunehmend monströser werdenden Tochter. »You got clever. So fucking clever.« Aber er lässt ihr eine
Kassette da, die er besprochen hat. Das Ganze spielt in den 80er Jahren: Es gibt Walkman, es gibt keine Mobiltelefone. Es ist die Zeit von Ronald Reagan.
Jetzt begibt sie sich allein auf eine Reise durch die USA, auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie führt sie zunächst von Virginia nach Massachusetts. Nachts, bei einer einsamen Greyhoundstation, trifft sie einen relativ alten merkwürdigen Mann. Er heißt Sullivan und nennt sich Sully.
Sully erzählt aus seinem Leben – »I ate my own granddad, while we were waiting for the undertaker« – erklärt ihr, dass es in ganz Amerika offenbar ziemlich viele Kannibalen gibt, jedenfalls viel mehr, als man denkt.
Sie haben Prinzipien: »Never eat an Eater.« Und: »I don’t kill people. At least I try not to.«
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Bald danach trifft Maren, die immer eine Barbour-Jacke trägt, auf Lee (Timothée Chalamet). Er hört Kiss (Lick it up), wird ihr Freund, dann ihr Lover.
Regisseur Guadagnino hat bekanntlich keine Angst vor Genrestoffen, und dreht immer wieder abwechselnd in seiner Heimat Italien und den USA. Er zeigt die Kannibalen als sympathische und sehr zärtliche Wesen, die Triebtäter sind, aber selber unter ihrem Trieb leiden, die oft arm sind und Außenseiter. Genau darum geht es ihm: Um
Menschen, die auf andere wie abstoßende Monster wirken, in bürgerliche Zusammenhänge nicht integrierbar sind und auch Obdachlose oder Drogensüchtige sein könnten. Der Kannibalismus ist ein Vorwand, um sie in den Augen des Publikums noch abstoßender wirken zu lassen. Wir sehen hier viele solche Charaktere: Budweiser saufende Provinzdeppen. Dabei ist die Handlung immer wieder unterbrochen von Tagträumen oder Albträumen der Figuren.
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»Anywhere. West, let’s go west«
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Dies und eine fließende Kamera erinnert an Chloe Zhaos Nomadland und an American Honey von Andrea Arnold.
Denn zugleich ist dies auch ein Roadmovie, der seine Hauptfiguren durch diverse US-Bundesstaaten durch den »Blood Meridian« (Cormac McCarthy) führt, weil sie ihre Eltern suchen, und sie erstmal den
White Trash und die Hillybillys finden lässt …
Ein Spielbudenbesitzer in Kentucky ist offensichtlich schwul, lässt sich von Lee im Maisfeld verführen und wird gegessen. Das ist eine starke Szene, in der der Film dem Unaussprechlichen nahe kommt, Tod und Sex verbindet.
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Es geht um Kannibalen, die ihr Gewissen entdecken. Aber wo soll das hinführen, wenn jetzt auch noch die Monster ihr Gewissen entdecken?
Es geht natürlich auch um Rebellion: »You wanna be people? Let’s be people. Hey, let’s be people for a while.«
Aber das Glück kann nicht von Dauer sein. Sully kommt wieder und wir verstehen: Amerika ist ein kannibalisches Land.
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Wenn Maren und Lee sich küssen, und das tun sie oft, dann denkt man immer: Hoffentlich beißt jetzt keiner zu.
Luca Guadagnino ist mit Bones and All wunderschönes, über weite Strecken aufregendes Kino geglückt: Ein Roadmovie, der die Vorstellung von amerikanischer Freiheit entfaltet, ein Liebesfilm, ein Monsterfilm.
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Die Suche nach Eltern verbindet diesen Film mit anderen, ob dem starken, ebenfalls von einem Italiener in den USA gedrehten Monica, um einen Transjungen, der, zur Frau geworden, von der eigenen Mutter nicht mehr erkannt und vom Bruder abgelehnt wird. Und mit The Whale einer prätentiösen Theaterverfilmung von Regie-Alphatier Darren Aronofsky, der auch mit Abstoßung, Widerwillen und Ekel arbeitet. Aber völlig anders als Guadagnino: Er drückt die Zuschauer im Klammergriff mit der Nase in Fett, Kotze und schlechtes Essen.
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Insgesamt ist der bisherige Eindruck vom diesjährigen Festival deutlich verhaltener als sonst in Venedig. Und das nicht nur, weil es weniger Partys gibt. Die Papierform der Festivalfilme ist nicht gut. Es gibt weder richtig große Namen, noch irgendetwas, auf das alles hinfiebert. Noch gibt es bislang echte Überraschungen.
Es gibt auch weniger Veranstalter, und zum Beispiel ist der langjährige Betrieb, der Pizza und Getränke auf dem Lido verkauft, weg (wie seit Jahren schon
eine Bude, die die besten Sandwiches und Panini hatten, aber eben unabhängig waren). Ganz offensichtlich hat man die Pandemie zwar überstanden, aber nicht mehr die anschließende Krise und Inflation.
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Man sollte eigentlich gar nicht darüber schreiben, ich tue es jetzt aber trotzdem: Auch bei der Venedig-Eröffnung trat wieder der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf, der jetzt offenbar jedes Filmfestival von Rang eröffnen muss. Man darf gespannt sein, ob er dann im Februar auch bei der Berlinale reden wird. Was er sagte, waren die sattsam bekannten Allgemeinplätze, die zum 20. Mal wiederholt worden und die man auf ihre Art auch extrem fragwürdig finden kann.
Insbesondere aber stellt sich die Frage: Was hat das eigentlich mit einem Filmfestival zu tun? Oder anders gefragt: Warum muss ein Filmfestival sich mit politischen Absichten gemein machen? Muss ein Festival sich politisieren lassen, um ein Existenzrecht zu haben?
Kann es aus eigenem Recht, also der Kunst, die gezeigt wird, nicht existieren? Oder ist es umgekehrt eher eine dekadente Position meinerseits, dass der Unterschied zwischen Kunst einerseits und Design und
Propaganda andererseits gerade darin liegt: dass Kunst autonom ist und sein muss.
Selbstverständlich bin ich der Ansicht, dass alles politisch ist. So wie auch alles ästhetisch ist. Das Politische ist universell so wie das Ästhetische. Insofern kann man alles aus jeweils beiden Perspektiven beurteilen und selbstverständlich mischen sich auch beide Perspektiven.
Ich sage auch nicht, dass auf dem Festival der Krieg ignoriert werden sollte. Ganz und gar nicht. Ich glaube, die Aufgabe eines Festivals ist allerdings, bekannten Perspektiven neue
Perspektiven hinzuzufügen. Davon abgesehen, dass ein Festival sich nicht zur Bühne machen sollte für Politiker. Auch nicht für Politiker, die einem aus irgendeinem Grund sympathisch sind oder deren Absichten unterstützenswert erscheinen.
Mit einer Selenskyj-Rede als ritueller Geste pro Festival dürfte auch der Ukraine nicht gedient sein.
Oder wollte sich der Festivalleiter Alberto Barbera nur keine Blöße geben?
(to be continued)