Cinephilie eines Autors: »Brief« |
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Wieso Kutschen? Max Ophüls' Brief einer Unbekannten | ||
(Foto: Deutsche Kinemathek) |
Von Andreas Heckmann
Lange hatte ich als Zehnjähriger den Eltern mit einem Hund in den Ohren gelegen, von dem ich mir Freude und Glück versprach. Lange hatte zumal meine Mutter mir ausgemalt, wie viel Mühe so ein Tier mache, wie viel Aufmerksamkeit und Zuwendung es brauche, aber natürlich garantierte ich immer aufs Neue treuherzig, all das aufbringen zu wollen; spielen wolle ich mit ihm, ihn versorgen, ihn ausführen, oh ja. Dackel Bine entpuppte sich als ungemein lebhaftes, auch wohl verstörtes Tier, das an allem bellend hochsprang, jede Barriere überwand, erfüllt von unbremsbarer, mich vollends überfordernder Energie. Ein Kollege meines Vaters hatte die Hündin – warum wohl? – loswerden wollen, und es brauchte nur drei Wochen, bis auch ich mir nichts sehnlicher als Ruhe wünschte. So ward sie weiterverschenkt, die Bine, in hoffentlich geduldigere, kompetentere Hände. Die Lektion bleibt solide gelernt: Bis heute genügt es mir völlig, Tiere aus sicherem Abstand zu betrachten. Keine Berührungen bitte, und Hund oder Katze kommen mir nicht in die Wohnung.
Mit fünfzehn wieder ein nachhaltiger Wunsch, dem die Eltern nachhaltigen Widerstand entgegensetzten: den nach dem eigenen Fernseher, einem SW-Portable in Würfelform mit einem Sichtfeld von allenfalls elf Zoll. Zumal meine Mutter hat diesem Wunsch widersprochen, denn er brächte – einmal erfüllt – das Ende der wohnzimmerlich-kleinfamiliären Dreisamkeit. So war es letztlich auch. Vorbei die Novemberabende mit Wim, Wum, Wendelin und Walter Spahrbier, die Januarabende mit Hans Rosenthal, die Sonntagabende mit den »Tatort«-Ermittlern Klaus Schwarzkopf und Hansjörg Felmy, denn ich hatte das Dritte Programm des NDR für mich entdeckt, vor allem die Stummfilme und Klassiker, die dort zu später Stunde liefen, von Der letzte Mann über die Mabuse-Filme bis zu Citizen Kane, von Marcel Carné bis Jean Renoir. Aber auch das Kleine Fernsehspiel, dem ich noch immer die Treue zu halten suche, selten aber so überzeugt werde wie von Henner Wincklers Klassenfahrt. Und natürlich lassen sich auch UFA- und Tobis-Filme, voran Käutners Unter den Brücken und Romanze in Moll, an sterbenslangweiligen Sonntagnachmittagen oben im eigenen Zimmer hingebungsvoller schauen als unten unter Aufsicht. Und zu schmachten ist bis heute meine Lieblingsbeschäftigung vor bewegten Bildern: schwärmen, mitfiebern, mitleiden, bloß nicht analytisch werden! Mein Hang zum Melodram resultiert sicher daher, die Begeisterung für Fassbinders Angst essen Seele auf und Veit Harlans Opfergang (den ich freilich erst später sah), für Detlef Siercks La Habanera und Douglas Sirks Was der Himmel erlaubt.
Und einmal, mit fünfzehn, sechzehn, vielleicht siebzehn Jahren, war da ein Film, durch den Rachmaninoffs Zweites Klavierkonzert flutete, obwohl er todtraurig war oder gerade deswegen. Er war ersichtlich in Schwarzweiß gedreht, kein um seine Farbigkeit gebrachtes Opfer meiner zwar mit Stab- und Kreisantenne ausgestatteten, empfangstechnisch aber dennoch stark untermotorisierten orangeroten Kiste, die mich oft während des Films, der sich ja nicht anhalten ließ damals, zur Nachjustierung wegen Schnee oder Doppelbildern zwang. Und er zeigte eine unglückliche Liebe, den intensiv flackernden Vorschein möglichen Glücks, das rasch begraben wird, weil es nicht sein darf, dieses Glück zwischen zweien, die sich gesellschaftlichen Konventionen zu beugen wissen – um des Anstands willen und des Pflichtgefühls gegenüber anderen. Ich war erschüttert, aufgelöst war ich, auch natürlich wegen der hinterhältig-brachialsentimentalen Musik. So aufgelöst, dass ich vergaß, mir den Titel des Films, die Namen von Regisseur und Hauptdarstellern zu merken, nur diese betörende Klaviermusik begleitet und verfolgt mich seither.
Jahrelang habe ich nach dem Film gesucht, dann glaubte ich, ihn gefunden zu haben: Brief einer Unbekannten von Max Ophüls, in Hollywood 1948 nach einer Stefan Zweig-Novelle gedreht, dem amerikanischen Bild von Wien um 1900 verpflichtet und – wie ich heute denke – weit weniger zwingend als Ophüls' großartige Liebelei (1933, nach Schnitzler), einen Film, den ich immer wieder sehen kann. Aber etwas stimmte nicht am Brief. Da waren Leidenschaft, Enttäuschung, Entsagung, da waren Sehnsucht und Tod, da war betörende Klaviermusik, ein schmerzliches Ziehen, aber es reichte nicht tief genug, wirkte arg dick aufgetragen. Und weshalb Wien? Wieso Kutschen? Warum denn Ballkleider? Und Fracks? Und doch, da war sie, die rauschende Musik, da war das 40er Jahre-Fluidum, war all die Vergeblichkeit. Jahrzehntelang musste Brief einer Unbekannten mir gegen letztlich besseres Wissen als, nun ja, Deckerinnerung herhalten für einen anderen Film, von dem ich nur ahnte, dass es ihn gab.
Und nun Corona. Langes Alleinsein wegen seit Monaten ausgeflogenen Mitbewohnern, die bei Tante und Freund untergekommen sind. Da werden TV-Mediatheken geplündert, da habe ich manches geschaut, was ich sonst nie schauen würde, da begegnete mir Begegnung von David Lean (1945), Brief Encounter also, mit Trevor Howard und Celia Johnson. Und plötzlich stimmte alles: Da waren sie wieder, die wunderklar ausgeleuchteten, scharfen und hochexpressiven SW-Bilder von Robert Krasker, während bei Ophüls alles etwas weicher gezeichnet schien; da waren Eisenbahnen statt Kutschen, da war Rachmaninoffs Musik statt eines genialischen Pianisten, der einen seltsam süßlichen Liszt spielte. Da war er, der Film von damals, nicht der, mit dem ich mich jahrzehntelang beschieden hatte. Und wieder saß ich da, nicht vor einem 70er Jahre-Fernsehwürfel, sondern vor meinem Laptop mit seinen vierzehn Zoll, wieder liefen mir Tränen über die Wangen, und es war eine Heimkehr.
Text zuerst unter dem Titel »Brief« erschienen in: Am Erker 81: »Mit verbundenen Augen« (Filme aus der Erinnerung), Oktober 2021. ISBN 978-3-89126-281-8
Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Andreas Heckmann, Schriftsteller, Autor, Übersetzer und leidenschaftlicher Kinogänger. Gebürtig in Oldenburg, lebt und arbeitet er heute in München. Er ist Redakteur der 1977 in Münster gegründeten Literaturzeitschrift »Am Erker« und Gastgeber des »Salzstangensalons«, der in unregelmäßigen Abständen in München Lesungen veranstaltet.