Die Heimat der anderen |
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Strahlend in der Abendsonne: Smyrna eröffnet die 36. Griechische Filmwoche |
Von Elke Eckert
36 Jahre alt ist die Griechische Filmwoche München bereits und damit die älteste kontinuierlich stattfindende griechische Kulturveranstaltung in Deutschland. Veranstalter ist der Kulturverein Cinephile München e.V. zusammen mit der Filmstadt München e.V., die wieder einmal an der noch bevorstehenden Gasteig-Restaurierung vorbei sich Ausweichquartiere suchen müssen, mit der Eröffnung im Rio Filmpalast und dem Projektorraum im HP8/Gasteig.
Der Eröffnungsfilm Smyrna erzählt von einer Metropole, die früher die Stadt der Städte genannt wurde, für ihre Weltoffenheit und Liberalität bekannt war und vor genau 100 Jahren von der türkischen Armee besetzt und größtenteils zerstört wurde. Im heutigen Izmir lebten damals vor allem orthodoxe Griechen, die nach dem Verlust ihrer Heimat nach Griechenland flohen. Für viele von ihnen begann auf Lesbos ein neues Leben. Auch für Filio Baltatzi, deren Enkelin viele Jahrzehnte später auf die Insel kommt, um syrischen Flüchtlingen zu helfen. Anhand des Tage- und Rezeptbuches der Großmutter entspinnt sich die tragisch-turbulente Geschichte einer kosmopolitischen Kaufmannsfamilie. – Die aufwendige Ausstattung und der geschickt konstruierte Plot machen Grigoris Karantinakis' filmische Adaption eines erfolgreichen Theaterstücks nicht nur zum bisher teuersten Film Griechenlands, sondern auch zu einem sehenswerten Stück Zeitgeschichte. (Freitag, 18. November, 20 Uhr, Rio Filmpalast und Mittwoch, 23. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)
Auch in Invisible geht es um Menschen, die aus der Türkei nach Griechenland fliehen. In der Dokumentation der griechischen Journalistin und Filmemacherin Marianna Kakaounakis sind es Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, die 2016, nach dem Putschversuch gegen den türkischen Präsidenten Erdogan, ihr Land verlassen mussten. Ein Ehepaar, das in der Türkei wegen Terrorismus angeklagt und verfolgt wurde, flüchtet nach Griechenland und hat nicht nur mit dem Verlust der Heimat zu kämpfen. Auch der Arzt Ahmet muss sich erst im Exil zurechtfinden. Aber er will sich nicht länger verstecken und unsichtbar sein, sondern sich in Athen eine neue Existenz aufbauen. – Die Doku konzentriert sich nicht auf den politischen Hintergrund der Gülen-Bewegung, sondern sie zeigt, welche menschlichen Schicksale sich hinter dem Wort Flüchtling verbergen. (Dienstag, 22. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)
Sehr persönlich ist auch der Film von Regisseurin Kleoni Flessa. Sie ist die Urenkelin von Grigorios Dikeos, genannt Papaflessas, dem wohl bekanntesten Kämpfer im griechischen Befreiungskrieg von 1821. Seine Nachfahrin setzt sich in ihrem Dokumentarfilm My Grandfather Papaflessas 200 Jahre später kritisch und originell mit seiner Rolle als Held und Revolutionär auseinander. (Freitag, 25. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)
Historische Ereignisse stehen auch bei The City and the City im Mittelpunkt. Das Drama erzählt in mehreren Episoden und über fünf Jahrzehnte die Geschichte der jüdischen Gemeinde Thessalonikis am Schicksal einzelner Mitglieder. Es beginnt Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, als die jüdische Bevölkerung noch ihrem ganz normalen Alltag nachgehen kann, aber bereits erste Anzeichen von irritierenden Veränderungen sichtbar werden. Die nächsten Episoden spielen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren und zeigen eindrücklich, wie es dazu kam, dass nur wenige Jüdinnen und Juden Thessalonikis den Holocaust überlebten und welche Spuren dieser Völkermord in der zweitgrößten Stadt Griechenlands hinterlassen hat. – Der Film von Christos Passalis und Syllas Tzoumerkas wurde in Schwarzweiß und in Farbe gedreht und bei der Berlinale 2022 uraufgeführt. Drehort war das moderne Thessaloniki, der Geburtsort der beiden Regisseure. (Donnerstag, 24. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)
Wie Menschen wegen ihrer Andersartigkeit zu Außenseitern gemacht werden oder sich immer mehr selbst isolieren, zeigen auch drei Filme, die in der Gegenwart spielen. Der mystische Horrorfilm Holy Emy schaut hinter die Fassade einer geschlossenen Gemeinschaft. Die beiden Schwestern Teresa und Emy gehören zu dieser Gruppe philippinischer Katholiken, die in der Hafenstadt Piräus leben. Als ihre Mutter auf die Philippinen zurückkehren muss, bleiben die Schwestern allein in Griechenland zurück. Teresa wird schwanger und Emy fühlt sich plötzlich zu geheimnisvollen Kräften hingezogen. (Montag, 21. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)
In Daniel ‘16 ist es ein junger Deutscher, der nach Griechenland kommt, um eine Jugendstrafe zu verbüßen. Die soziale Einrichtung, in der er das tun soll, befindet sich auf dem Land, nahe der türkischen Grenze. Bald steckt der Junge in einem Dilemma: Soll er sich an die Regeln halten, die ihm hier beigebracht werden, oder muss er sie brechen, um einem syrischen Flüchtlingskind zu helfen? Dimitris Koutsiabasakos' berührendes Drama hat auf dem Thessaloniki Film Festival den Publikumspreis »Meet the Neighbors« gewonnen. (Dienstag, 22. November, 20.30 Uhr und Sonntag, 27. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)
In einem Athener Arbeiterviertel haben Wirtschaftskrise und Pandemieprobleme eine Atmosphäre der Angst und Trostlosigkeit geschaffen. Eine Gruppe Jugendlicher geht gegen die vor, die sie für mitschuldig an dieser Misere hält, und überfällt Migranten, Homosexuelle und andere Minderheiten. Als einer nicht mehr mitmachen will, wird er zum neuen Angriffsziel. – Vassilis Douvlis' Gesellschaftsdrama 18 mutet fast dokumentarisch an und ist erschreckend brutal und direkt. (Samstag, 19. November, 20.30 Uhr und Mittwoch, 23. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)
Alles andere als gutbürgerlich ist auch der Ort, an dem das spannende Thriller-Musical Broadway beginnt: Nelly, Typ höhere Tochter, arbeitet als Tänzerin in einem Stripclub. Der Kleinkriminelle Markos ist so angetan von ihr, dass er ihr hilft zu entkommen, als ihr Stiefvater sie nach Hause holen will. Gemeinsam verstecken sie sich in einem ehemaligen Kino, das bereits eine bunte Truppe beherbergt, und halten sich mit Tanzperformances und Diebstählen über Wasser. Doch lange geht das nicht gut … – Christos Massallas' Langfilmdebüt feiert bei der Filmwoche seine Deutschlandpremiere. (Samstag, 19. November, 18 Uhr und Sonntag, 27. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)
Regisseur Dimitris Kanellopoulos verpackt seine Gesellschaftskritik in einen modernen Western. Thanasis lebt mit seiner Familie in einer griechischen Kleinstadt und hat Schulden bei einem örtlichen Kredithai. Um günstigere Konditionen zu bekommen, schließt er sich mit anderen Schuldnern zusammen. Doch als die Männer zur Rückzahlung gezwungen werden, gerät die Schicksalsgemeinschaft in eine Gewaltspirale. – Kanellopoulos hat zu seinem Regiedebüt Pack of Sheep auch das Drehbuch geschrieben. Beides brachte ihm eine Nominierung für die Hellenic Film Academy Awards 2022 ein. (Sonntag, 20. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)
In Moon, 66 Questions ist es eine Krankheit, die zum familiären Ausnahmezustand führt. Artemis kehrt nach längerer Abwesenheit nach Hause zurück, um sich um ihren schwerkranken Vater Paris zu kümmern. Keine leichte Aufgabe für die junge Frau, zumal die Beziehung der beiden immer schwierig war und andere Verwandte und Ärzte ganz eigene Vorstellungen von der Pflege von Paris haben. Aber die neue, zwangsläufige Nähe ist auch eine Chance für Vater und Tochter, sich noch einmal ganz anders kennenzulernen. – Regisseurin Jacqueline Lentzou machte schon mit ihren Kurzfilmen auf diversen Festivals von sich reden. Ihr Langfilmdebüt erhielt bei der Berlinale 2021 eine Nominierung als bester Erstlingsfilm, Hauptdarstellerin Sofia Kokkali wurde beim Internationalen Filmfestival in Thessaloniki als beste Schauspielerin ausgezeichnet.(Donnerstag, 24. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)
Skurril-komisch ist Panos Koutras' Blick auf familiäre und gesellschaftliche Verwerfungen. In seiner Komödie Dodo steht eine angesehene Athener Familie vor dem finanziellen Ruin. Einzige Rettung: Die Vermählung von Tochter Sophia mit einem Mitglied des griechischen Geldadels. Aber durch einen tierischen Überraschungsgast läuft alles aus dem Ruder. Der bunte Vogel, ein Dodo, gilt eigentlich seit 300 Jahren als ausgestorben… Der Debütfilm ist eine Deutschlandpremiere, uraufgeführt wurde er im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes. (Samstag, 26. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)
Turbulent wird es auch in Let the Women Wait von 1998. Panos und Michalis sind nicht nur Geschäftspartner, sondern auch Schwäger. Als die zwei ihren Familien hinterher reisen, die bereits in den Ferien auf Thassos sind, passiert einiges Unvorhergesehenes, was ihre Ankunft auf der Insel verzögert. – Der komische Klassiker ist eine Hommage an den 2019 verstorbenen Regisseur und Drehbuchautor Stavros Tsiolis. (Sonntag, 20. November, 18 Uhr und Freitag, 25. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)
Das Programm der Griechischen Filmwoche rundet wie immer eine Auswahl von Kurzfilmen ab. Diesmal sind vier davon bereits auf dem alljährlichen Thessaloniki International Short Film Festival gelaufen. Zwei weitere sind durch die Kooperation der Griechischen Filmwoche mit der Regisseurin Daphni Xourafi (Mine) und dem Regisseur Aris Kaplanidis (From the Balcony) entstanden. (Samstag, 26. November, ab 18 Uhr)
36. Griechische Filmwoche
18.–27.11.2022
München, Rio Filmpalast und Projektor im HP8/Gasteig
Tickets ab 6 Euro