Raus aus der Nische, rein in die Nische |
||
Wird wohl nie in einer regulären Kinoveranstaltung zu sehen sein: Eef Hilfgers From That Moment On, Everything Changed | ||
(Foto: DOXS RUHR) |
Von Axel Timo Purr
Es ist nicht sonderlich gut bestellt um den deutschen Kinderfilm. Und um die Nische in der Nische, den Kinderdokumentarfilm erst recht nicht. Gibt es zumindest beim Kinderfilm dann und wann einen Funken Hoffnung, gelangt etwa überraschenderweise doch einmal ein Film der Initiative Der besondere Kinderfilm in die Kinos, so wie diese Woche Nachtwald, der immerhin am Samstag und Sonntag in einer Münchner Mittagsmatinee laufen darf, sieht es für den Kinderdokumentarfilm erheblich düsterer aus. Sein Dasein ist auf die Kinderfilmfestivals mit ihren Schülervorstellungen und Preisveranstaltungen wie den Prix Jeunesse beschränkt, der immerhin eine TV-Ausstrahlung in Aussicht stellt, aber nur ganz selten schafft es ein Film aus der Festival- und sehr beschränkten TV-Blase herauszutreten.
Umso wichtiger ist es deshalb, über den Stand der Dinge zu reden. Und eigentlich gibt es kaum einen besseren Ort dafür, als die am letzten Sonntag zu Ende gegangene, von Gudrun Sommer geleitete DOXS RUHR, auf der der Kinderdokumentarfilm im Zentrum steht.
In einem von Gudrun Sommer und Margret Albers von der European Children’s Film Association (ECFA) kuratierten zweitägigen Panel in der Bochumer KoFabrik unter dem Label Realities tauschten sich dieses Jahr 40 Gäste aus zehn Ländern über Gegenwart und Zukunft des Kinderdokumentarfilms aus.
Dabei ließ sich vor allem in den Vorträgen über die produktive Vielfalt des gegenwärtigen Kinderdokumentarfilms erkennen, dass im Grunde eine ähnliche Goldgräberstimmung herrscht, wie zu Zeiten der erneuerten Reformpädagogik Anfang der 1970er Jahre, als mit großen, neuen, innovativen Formaten wie Das feuerrote Spielmobil oder Die Sendung mit der Maus die TV-Anstalten und bisweilen auch die Kinos gekapert wurden. Denn wie etwa der niederländische Filmemacher Martijn Blekendaal anhand seines Films über den verschollenen Konzeptkünstler Bas Jan Ader deutlich macht, können Kinderfilme ohne Kinder durchaus Kinderfilme sein, sind Kinder genauso wenig wie Erwachsene auf eine rein identifikatorische Rezeption beschränkt, sondern durchaus für Perspektivwechsel, also thematische Besonderheiten zu haben. Eine Tatsache, die auch Maritte Sørensen aus der schwedischen Pitch-Werkstatt m:brane und des innovativen REALYOUNG©-Projekts bestätigen kann, in dem explizit jugendliche »Experten« und soziale Netzwerkarbeit bei der Entwicklung neuer Filmstoffe im Kinderdokumentarfilm hinzugezogen werden. Soziale Netzwerke und im besonderen Influencer hat auch die junge holländische Filmemacherin Eef Hilgers in ihren Filmen über Cyber-Mobbing und Scheidungskinder genutzt, um ihre Protagonisten zu finden, und gibt damit auch ein ungewohnt positives Feedback zum Nutzen von Social Media.
Hilgers sieht allerdings genauso wie der deutsche Filmemacher Bernd Sahling die Gefahr, dass die jungen Protagonisten in Zusammenarbeit mit den Regisseuren einer Hierarchie ausgesetzt sind, für die es unbedingt einen transparenten Umgang und Betreuung braucht. Nicht nur während der Drehs, sondern auch und gerade auf Festivals, wenn der Film vorgestellt wird. Denn da Festivals für die meisten dieser Filme die einzige Auswertungsschiene bleiben werden, ist die Gewichtung nicht zu unterschätzen, obwohl auch hier die Meinungen auseinandergehen, Teresa Lima, vom PLAY Festival in Portugal sich z.B. sicher ist, dass Festivals letztendlich dem Kino dienen, Pantelis Panteloglou vom Olympia Festival in Griechenland und Tapio Riihimäki vom DOKKINO in Helsinki betonen hingegen, dass Festivals realistischerweise nur für den Moment funktionieren, dafür sich aber umso mehr darum kümmern müssen, Kinder zu aktiverer Partizipation durch Jury-Arbeit und Workshops zu bewegen.
Dies ist natürlich kaum in der wohl wichtigsten Auswertungsschiene für »junge« Dokumentarfilme, dem Fernsehen, möglich. KIKA- Redakteur Thomas Miles und Davide Tosco aus Italien zeigten aber, dass immerhin der Edutainment-Bereich in beiden Ländern intensiv bespielt wird, vor allem Formate, die sich darum kümmern, fremde Kulturen begreifbar zu machen, wie die von Miles betreute Doku-Reihe Schau in meine Welt, werden aber von Scripted-Reality-Formaten wie der vom ZDF produzierten, unsäglich dummen Mädchen- und Jungen-WG abgehangen und bewegen sich im Vergleich zum Restprogramm des Kindersenders von ARD und ZDF zudem auf mikroskopischem Niveau.
Das schmerzt vor allem, wenn man sich die von Margret Albers vorgestellten Preisträger des Prix Jeunesse der letzten 20 Jahre ansieht, Filme von nicht mehr als 20 Minuten Länge, die derartig starke und wichtige Geschichten erzählen wie der Preisträger dieses Jahres, Why didn’t you stay for mehr?, der Kindern folgt, die ein Elternteil durch Suizid verloren haben. Das sind Filme, die man sich vor jedem Blockbuster-Kinderfilm als »Vorfilm« wünscht und unbedingt im Kino sehen möchte!
Doch eine aktive, angemessen aggressive Lobbyarbeit, die so eine Möglichkeit »erzwingen« könnte, scheint bislang in weiter Ferne zu sein; die Blase, in der sich der Kinderdokumentarfilm genauso wie der Kinderfilm befindet, scheint sich auch intrinsisch wieder und wieder zu reproduzieren.
Und ein wenig Wehmut kommt deshalb auf, führt man sich die Zeiten vor Augen, von denen Klaus Dieter Felsmann in seinem Vortrag über die DEFA-Zeiten erzählt, als um die »Gruppe Dokumentarfilme für Kinder« ab 1975 sich langsam eine Art von »Quotendenken« etablieren konnte, das immerhin durchsetzte, dass nicht nur im Sandmännchen kurze Dokumentarfilme, zumeist Berufsporträts ausgestrahlt wurden, sondern dass sogar im Kino regelmäßig ein Sammelprogramm mit Kinderdokumentarfilmen zu sehen war, die, ganz ähnlich wie die im Rahmen der reformpädagogischen Bewegung der 1968er entstandene Kinderdokumentarfilmwelle im Westen, Ideen des Reformpädagogen Adolf Reichwein aus den 1920ern umsetzte und Kinder zum Selbstdenken ermuntern wollte, also auf Bilder setzte und nicht auf ihre Kommentierung.
Es ist natürlich immer heikel, das Kulturvermittlungsmodell eines autokratischen Staates zu zitieren, um radikalere Änderungen herbeizuwünschen, doch sieht man das schier unglaubliche Potential, das sich auf Festivals wie der DOXS RUHR entfaltet, und sieht das explosive, kreative Potential, das auf diesem Netzwerktreffen deutlich wurde, wünscht man sich zumindest den ja im Moment noch politisch korrekt konnotierten Hebel einer staatlich implementierten Quote, mit dem der französische Film ja viele Jahre gute Erfahrungen gesammelt hat und der dann vielleicht auch ein Umdenken in den Medien bewirken könnte. Denn sowohl die großen Leitmedien als auch ein Kultur-News-Aggregator wie der Perlentaucher mit seinem ansonsten äußerst intakten Augenmerk auf Nischen kümmern sich nur äußerst erratisch um die großartigen Perlen, die hier zu bergen sind.