Das französische Kino, eine Familiengeschichte |
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Im Kreis der Freunde: Charlotte Gainsbourg im Eröffnungsfilm Passagiere der Nacht | ||
(Foto: eksystent) |
Von Dunja Bialas
Der Gedanke, dass mit Jean-Luc Godard auch das Kino von uns gegangen ist, kann einem ganz spontan in den Sinn kommen. Mit Jean-Marie Straub ist nun am vergangenen Sonntag ein weiterer der ganz großen Kinoerneuerer verstorben. Beide, JLG und JMS, lebten in Rolle am Genfer See, sie sollen sich hin und wieder im Supermarkt getroffen haben, oder in einer Bar im Ort. Diese Zeiten sind nun vorbei. Einen wehmütigen Abschiedsgruß gibt es am kommenden Sonntag im Münchner Theatiner-Kino mit dem letzten Film von Godard Le livre d’image, der von Straubs letztem Kurzfilm La France contre les robots begleitet wird (im Rahmen der Sonderreihe zu ECM Records, So 27.11. 11:00).
Dass es mit dem Kino jedoch keinesfalls vorbei ist, beweist die an diesem Donnerstag beginnende 3. Französische Filmwoche in München (in Berlin zeitgleich mit einem größeren Programm). Sie stellt die Vitalität und den ungebremsten Aufbruch des französischen Filmschaffens unter Beweis, selbst wenn auch in der großen Filmnation nach Corona der Kinobesuch stark eingebrochen ist. 2019 besuchten noch 213 Millionen die Kinos, 2021 waren es – noch immer unter Corona-Einschränkungen – nur noch knapp die Hälfte, für 2022 schätzt man mit einem Rückgang von ca. 30 Prozent gegenüber der Zeit vor Corona, ähnlich also wie in Deutschland. Für Abhilfe am Besucherrückgang sollen jetzt Superheros Made in France sorgen. Hoffentlich nur ein dummes Gerücht.
Davon ist zumindest in dieser dichten Filmwoche zum französischen Kino nichts zu spüren, im Gegenteil. Die vielen hochkarätigen Filme beweisen, dass Frankreich eine ganz neue Filmfamilie hervorgebracht hat, zum Beispiel im Umfeld von Sandrine Kiberlain, die erstmals Regie führt. Ihr Film Une jeune fille qui va bien handelt von einem 19-jährigen jüdischen Mädchen im Paris der 1940er Jahre, das ans Theater will. Der Film ist angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Familie, jüdisch-polnischer Immigranten, und insbesondere an die Geschichte ihrer Großmutter, verkörpert von Rebecca Marder, die man auch schon im Film von Kiberlains Tochter Suzanne Lindon (der Vater ist, ja richtig, Vincent Lindon) gesehen hat, in dem bezaubernden und doch auch mutigen Seize printemps (Frühling in Paris) (Fr 25.11. 18:15)
Richtig familiär wird es dann mit dem »Liaison dangereuse«-Film Chronique d’une liaison passagère (Tagebuch einer Pariser Affäre) von Emmanuel Mouret. Anders als der Arthouse-Mainstream sind die feinsinnigen Komödien des in Marseille geborenen Regisseurs (Les choses qu’on dit,
les choses qu’on fait) bei uns noch nicht ins Kino gekommen. Wie im Vorgängerfilm spielt wieder Vincent Macaigne mit, ebenfalls eine Größe des französischen Kinos (und im Übrigen auch des Theaters), den es hierzulande noch zu entdecken gilt. Im Interview mit artechock spricht er über Mourets Inszenierungskunst, über die schnellen Dialoge und darüber, dass das Filmemachen in Frankreich der großen Lust gehorcht,
einfach Zeit miteinander verbringen zu wollen – wie in einer Kinofamilie, mit der man seine echte Familie: betrügt.
(Di 29.11. 18:15)
Ob Vincent Macaigne sich als Nachfolger des letztes Jahr verstorbenen (ja, leider…) Jean-Pierre Bacri eignet, lässt sich ebenfalls in dieser dichten Woche feststellen. Auch Bacri gehörte an der Seite von Agnès Jaoui einer Filmfamilie an, zusammen haben sie zahlreiche Komödien gemacht. Als Hommage zeigt das Theatiner Comme une image (Schau mich an!), von 35mm, was wieder einmal als Sensation gelten darf. (So 27.11. 15:30)
Weniger bürgerlich wird es mit zwei Filmen, die dennoch großen französischen Traditionen folgen. Domink Molls La nuit du 12 lässt sich dem Gangster- bzw. Polizeifilm zuschlagen, in der Verhör auf Verhör folgt. Das erinnert an Maurice Pialats Police, mindestens. (So 27.11. 18:00)
In Emma Benestans Langfilmdebüt Fragile geht es in die südfranzösische Hafenstadt Sète, wo angelehnt an das Zwitterwesen der dort gezüchteten Austern in einer franko-algerischen Community die Geschlechterrollen umgekehrt werden. Die Regisseurin hat als Filmeditorin bereits in Abdellatif Kechiches umstrittenen Blau ist eine warme Farbe über eine lesbische Liebe assistiert, hier inszeniert sie mit sicherer Hand Oulaya Amamra, die bereits in Divine absolut göttlich war. (Mo 28.11. 18:15)
Um die Sehnsucht nach Familie, wenn die alte zerbrochen ist, geht es schließlich im Eröffnungsfilm der Filmwoche Les passagers de la nuit (Passagiere der Nacht) von Mikhaël Hers, den es hierzulande ebenfalls noch zu entdecken gilt. Charlotte Gainsbourg trifft darin auf Emmanuelle Béart, die man seit den Filmen von Jacques Rivette und Claude Chabrol nicht mehr auf der deutschen Leinwand gesehen hat. Es geht um den Neuanfang im Berufsleben, hier als Radiomoderatorin einer Late-Night-Sendung, die Gestrauchelte der Nacht aufpickt und sich eine neue Familie schafft. (Do 24.11. 20:30)
Filme zu machen sei nur ein Vorwand dafür, miteinander Zeit zu verbringen, hat Vincent Macaigne im Interview gesagt. Das wollen wir ihm gerne glauben. Und außerdem bleibt festzustellen: Auch nach dem Tod der Nouvelle Vague ist das französische Kino quicklebendig.