Tauwetter |
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Wenn die Kraniche ziehen (1957) | ||
(Foto: Trigon Film) |
Von Paula Ruppert
Die Bilder, die man sieht, bleiben lange im Gedächtnis. Bilder, die Verzweiflung zeigen, Krieg, Brutalität, aber auch Liebe. Bilder, die mehr beinhalten, als was auf den ersten Blick sichtbar ist. Bilder, die wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. Der Film Wenn die Kraniche ziehen des sowjetischen Regisseurs Michail Kolotozov gilt nicht nur als Meisterwerk, sondern auch als der erste große Film der als Tauwetter bekannten Periode, die auf die Stalinzeit folgte. Die vorher unmöglich scheinenden Freiheiten, die plötzlich genutzt werden konnten, führten in der Kunst zu Werken, die so vielfältig waren, wie das unter Stalin noch undenkbar war; mussten sich da doch sämtliche Kunstwerke in das zu der Zeit geltende ideologische Narrativ einfügen – jegliche Abweichung war nicht nur unmöglich, sondern auch gefährlich.
Wenn die Kraniche ziehen nutzt die neuen Freiheiten, wendet sich von eindeutigen, plakativen und teils monumentalen Bildern ab und nutzt die Kamera und die Montage dazu, Eindrücke zu schaffen, die hinter den Bildern stehen; er nutzt die Musik teils prominent, teils subtil dafür, diese Eindrücke zu verstärken. Der Film entwickelt eine eigene Sprache, eine eigene Ausdrucksmöglichkeit. Doch nicht nur der Filmbranche in der Sowjetunion, sondern allen Filmschaffenden in Mittel-, Süd- und Osteuropa eröffnete sich zu dieser Zeit plötzlich die Möglichkeit, sich thematisch und ästhetisch neu zu finden und zu erfinden. Es entstand auch hier eine Nouvelle Vague.
Einen Einblick in diese faszinierende und vielfältige Neue Welle des mittel-, süd- und osteuropäischen Films bietet die Theatiner Filmkunst durch ihre Reihe »Die Nouvelle Vague im osteuropäischen Kino«. Beginnend am 25.04. mit Wenn die Kraniche ziehen, wird jeden Monat ein Film aus einem anderen Land gezeigt: Neben der Sowjetunion sind auch Polen mit Die unschuldigen Zauberer von Andrzej Wajda (16.05.), die Tschechoslowakei mit Tausendschönchen von Věra Chytilová (13.06.) und Jugoslawien mit Frühe Werke von Želimir Žilnik (04.07.) vertreten.
Diese Filmauswahl ist so vielfältig wie die Geschichte und Gesellschaften der Länder und Staatenunionen, in denen sie entstanden. Deshalb wird in jeden Film vorher kurz eingeführt, Umstände und Besonderheiten werden erklärt. In Kooperation mit dem Institut für Slavische Philologie der Ludwigs-Maximilians-Universität München gestaltet PD Dr. Anja Burghardt diese Einführungen, die im Rahmen dieser Kooperation auch ein Seminar zu dieser so reichen Bewegung im Film anbietet.
Auch wenn der Beginn der Reihe mit Wenn die Kraniche ziehen nicht ausgesprochen lustig oder positiv ist – denn es handelt sich um einen Kriegsfilm –, so wird doch eines deutlich: Die neuen Freiheiten bringen so viele neue künstlerische Möglichkeiten mit sich, dass sofort klar wird, dass diese Filmreihe nur ein Einblick ist. Und es ist ein Einblick, den man unbedingt nutzen sollte.
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Theatiner Filmkunst München
25.04., 16.05., 13.06. und 04.07.2023, jeweils 18:15