38. DOK.fest München 2023
Films that matter |
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Aus der Welt gehoben: Hommage an Nikolaus Geyrhalter | ||
(Foto: Dokfest München | Nikolaus Geyrhalter) |
Von Hanni Beckmann
»Star Wars« ist auf ihrem Hoody zu lesen. In einer postapokalyptischen Landschaft aus kargen Sträuchern und abgestorbenen Bäumen steht eine junge Frau vom Navajo-Volk, vor ihr ein mysteriöses Loch im sandigen Boden. »It’s crazy, I used to play in this area«, sagt sie, erinnert sich, wie sie hier aufwuchs. Der Boden tat sich plötzlich auf, das Loch verschluckte ihr Spielzeug. Es war ein Loch, sagt sie, das direkt in die Hölle führt. Heute ist hier an eine Kindheit nicht zu denken. Die Gegend sieht aus wie auf einem anderen Planeten. Vielleicht tauchen gleich Außerirdische in dieser surrealen Landschaft unweit des Grand Canyons auf. Zahlreiche Western wurden hier gedreht, die Siedler kamen hier durch. Filmausschnitte, die sich in Hadley Austins Demon Mineral zwischen die Aufnahmen der durch Uranabbau radioaktiv gewordenen Landschaften von Arizona, New Mexico, and Utah schieben, erinnern daran.
Die US-amerikanische Regisseurin kombiniert in ihrem Film noch weitere Techniken, um sich den unheilvollen Auswirkungen des Uranabbaus anzunähern, den die Neuamerikaner auf dem Gebiet der Navajos rücksichtslos unternahmen. Milchig wirkende Schwarzweiß-Filter akzentuieren die Zerstörung der Naturgebiete, Performances der indigenen Künstlerin Emma Robbins heben auf das Unrecht und das kollektive Trauma der Ureinwohner ab. Anhand von 3D-Modellaufnahmen erklärt sie die toxische Wirkung des Mineralabbaus, alte Super-8-Aufnahmen erinnern an die einstige Fruchtbarkeit der Natur, in der Schafe weideten und die den Menschen eine Lebensgrundlage gab.
Der engagierte »Environmental Documentary« ist einer von zwölf internationalen Wettbewerbsbeiträgen, mit denen das Münchner DOK.fest dieses Jahr die globale Bestandsaufnahme wagt. In Zona Norte dokumentiert Javier Ávila im unerbittlichen Close-up das harte Leben auf den Straßen Tijuanas. Die mexikanische Stadt liegt direkt an der Grenze zu Kalifornien und ist ein beliebtes Ausflugsziel nicht nur für rüstige Rentner aus dem amerikanischen Sonnenstaat. Davon können die Wohnungslosen, die inmitten einer der gewalttätigsten Städte Mexikos um ihre Existenz kämpfen, nur träumen. Vollgepumpt mit Drogen geraten sie oft gefährlich in Todesnähe. Als nur eine weitere Spezies der zahlreichen Straßenköter kämpfen sie um das nackte Leben, von dem Giorgio Agamben schreibt.
In einen abgelegenen Landstrich in den Bergen Georgiens führt uns Magic Mountain, den das georgische Autoren-Duo Mariam Chachia und Nik Voigt mit der somnambul wirkenden Stimme einer Off-Sprecherin unterlegen. Hinein geht es über die Serpentinen zu einem morbiden Hospital-Bau, über dessen Eingang ein Schild daran erinnert, dass hier einmal Tuberkulose behandelt wurde. Mit ihrer Stimme, die wie das Gebäude aus der Tiefe der Vergangenheit zu kommen scheint, spricht die Erzählerin von den Alpträumen, die sie in der Klinik hatte. Vereinzelt lungern abgewrackt wirkende Männer in den kargen Krankenhausgängen herum, eine prächtige Pflegerin zeigt sich im Türrahmen.
Mariam Chachia und Nik Voigt wissen in ruhigen Einstellungen und mit wenigen szenischen Strichen den großen Zusammenhang von Vergangenheit, Krankheit, Werden und Vergehen zu erzählen, die sie in schöne, farbentsättigte Bilder gießen. Das wirkt niemals nostalgisch und auch nicht anklagend, eher wie die Beschreibung einer versunkenen Welt. Magic Mountain beweist einmal mehr, dass das georgische Kino stilsicher, kinematographisch bedeutsam und zugleich politisch hellwach ist.
Dies sind drei Einblicke in das internationale Filmschaffen, die die Vielfalt dokumentarischer Erzählweisen erahnen lassen. Um sie wird es in den nächsten 10 Tagen in den Münchner Kinos gehen. Neben dem mit 10.000 Euro hochdotierten internationalen Wettbewerb dürfen auch deutschsprachige Werke in Konkurrenz um die Sieger-Trophäe »Viktor« antreten (Dotierung: 7.500 Euro). Ebenfalls zwölf Filme sind es, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die auch den unmittelbaren Vergleich zwischen den deutschsprachigen Dokumentarfilmstilen erlauben.
Wir und das Tier – Ein Schlachthausmelodram nennt David Spaeth seinen Dokumentarfilm über die Prozesse der Tiertötung zu Zwecken der Verspeisung. Dräuende, dann wieder sphärische Musik verraten die Dokumentarfilmschmiede Ludwigsburg in Baden-Württemberg, aus dem der Filmemacher (heute Dozent an der HFF München) kommt. Er eröffnet zu Beginn des Films einen vielsagenden Raum; die dunklen, nichts offenbarenden Bilder werden von der Stimme einer Protagonistin übertönt, die ohne Umschweife und mit handfester Pragmatik vom Schlachten erzählt. Elisabeth, Schlachterin, wird eingeblendet, als sie im Bild zu sehen ist. Zunächst aber bleibt der Film ganz dunkel und führt suggestiv in die Sphäre wenn nicht des Bösen, dann doch zumindest des Todes hinein. Eines der ersten klaren Bilder, die wir gezeigt bekommen, ist dann der tödliche Bolzen, mit dem Schweine im Schlachtbetrieb zur Strecke gebracht werden. Formal verfällt Spaeth mit den Talking Heads auf dem Sofa immer wieder in eine sehr deutsch anmutende Betroffenheits- und Beichtstuhlrhetorik, ein Verfahren, das ihm in seinem letzten Film Betrug (2019) viel Aufmerksamkeit eingebracht hat. Dazwischen dann Schlachtungsszenen von europäischen Familienbetrieben.
Zärtlicher geht es in Pia Lenz’ Für immer zu, der der Utopie einer das ganze Leben lang andauernden Liebe nachgeht und bereits im Vorfeld des DOK.fests mit dem VFF-Produktionspreis ausgezeichnet wurde. Im Zentrum des zurückhaltenden Films stehen Eva und Dieter, der Kunst und dem eigenen Garten zugewandt. Besonders eindrücklich sind die Begegnungen von Eva mit der Enkel-, vielleicht gar Urenkelgeneration, denen sie aus ihren Erinnerungen an die Kriegsgeschehnisse vorliest. Aber auch hier leider Topoi des deutschen Dokumentarfilmschaffens, wenn sich die Protagonisten gegenseitig ihre Erinnerungen für die Kamera erzählen. Eine jüngere Off-Stimme fasst aus Perspektive von Eva das Geschehen dann noch einmal zusammen, Songs illustrieren die immer trauriger werdende Atmosphäre. Da hätte man sich mehr Mut, auch für Stille und Leerstellen, gewünscht.
Eigentlich ist Julian Vogels Einzeltäter eine Trilogie über rechtsextreme Anschläge, die sich in den letzten fünf Jahren in Deutschland ereigneten. Einzeltäter Teil 1: München ist der letzte fertiggestellte Teil, nach Teil 3: Hanau (Uraufführung im April 2023 auf dem Lichter Filmfest) und Teil 2: Halle (Uraufführung auf dem Max Ophüls Festival). Einzeltäter Teil 1: München wendet sich den Hinterbliebenen des tödlichen Anschlags zu, der auf Menschen mit Migrationshintergrund in der Shopping-Mall »OEZ« im Norden Münchens verübt wurde.
Nachrichtenbilder geben Auskunft von der Strategie, das Attentat als »Amoklauf« zu klassifizieren. Demgemäß war ein »psychisch Kranker« – und Einzeltäter – für den Tod der neun Jugendlichen verantwortlich. In den Interviews mit den Hinterbliebenen jedoch wird deutlich, dass hier vor allem rechtsextreme Motive wirkten. Gerne hätte man nachvollzogen, wie der Einzelfilm im Zusammenhang der Trilogie Bedeutung entfaltet hätte – zu vermuten ist eine tiefgehende Bestandsaufnahme, gar Analyse rechtsextremen Wirkens –, jedoch ist in München, mit Rücksicht auf die Zuschauer, nur der regional relevante Teil zu sehen. So bleibt das Attentat von München für das DOK.fest-Publikum am Ende – filmisch – nur ein Einzelfall.
Österreich ist derzeit das angesagte Alpenland, was die Literatur, aber auch den Film angeht. »Beste Sprache der Welt: Österreichisch« titelte die »Süddeutsche Zeitung« vor wenigen Tagen euphorisch. Das Bild der Schriftstellerin Stefanie Sargnagel wurde gar untertitelt mit »Humor statt Handke«, um den Beweis anzutreten, dass Österreich derzeit für eine Erfrischungskur aller deutschsprachigen Leser*innen sorgt. Feminism WTF kann sich da durchaus einreihen, auch wenn die versammelten Protagonist*innen meist lupenreines Hochdeutsch sprechen. Katharina Mueckstein lässt in monochrom gestalteten Räumen die regenbogenschillernde Varianz des Neuen Feminismus antreten. Die lebendigen Statements werden durch queere Performances gerahmt.
Das wirkt verspielt und sexy, nicht zuletzt auch durch die hochkarätigen Wortbeiträge der Interviewten. Dies ist unter anderem die in München lehrende Soziologin Paula Villa Braslavsky, deren Name die ganze Leinwand füllen darf. In ihrem queerpositiven Statement geht sie auch auf die gesellschaftliche »Tradition« ein, das dritte Geschlecht in der Öffentlichkeit als eine Art liminales Monsterwesen darzustellen, womit sich auch Gewalt, Mobbing und Rechtlosigkeit verknüpfen.
Oder Maisha Auma. Die Professorin für Diversity Studies wendet sich in kluger Argumentation gegen das »Gelesenwerden« von »Race« und »Gender«. Als Frau wahrgenommen werden, ist für sie nur eine weitere Zuweisung auf der Basis sekundärer Indizien. Die Herleitung von Fähigkeiten oder Eigenschaften aus biologistischen Natürlichkeiten ist ein handfestes Problem, das bis heute in den Neuen Feminismus hineinwirkt.
Neben dem großen Erkenntnisgewinn der Ausführungen sind es
vor allem die Inszenierungsinseln, die das soziale Universum als vorurteilsgesteuertes Experimentierfeld entlarvt. Hier nutzt Katharina Mueckstein die prinzipielle, sehr große Freiheit der dokumentarischen Formen.
Neben dieser einen österreichischen Produktion ergänzen noch zwei Schweizer Filme den deutschsprachigen Wettbewerb. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Andreas Müller und Simon Guy Fässler für ihren Film Ruäch, der, so der Untertitel, eine »Reise ins Jenische Europa« unternimmt und sich damit einem nomadischen Volk nähert, von dem nur wenig bekannt ist (eine Ausnahme bilden die spielfilmhaften Dokumentarfilme des Jenischen Jean-Charles Hue). In Ruäch geht es zunächst in den französischen Sprachraum in Savoyen. Gefilmt werden die Menschen in ihren kargen Behausungen, die Gänse vor dem Wohnwagen. Im Hintergrund dröhnt die Autobahn, als Versprechen dafür, dass es bald wieder on the road gehen kann. »Ich kann in keiner Wohnung leben«, sagt mit Entschiedenheit eine Jenische, die vom Bürgermeister aufgefordert wird, sich eine Bleibe zu suchen. Überraschend die deutschsprachigen Jenischen, die ein fahrendes Volk mit deutscher Bodenständigkeit suggerieren. Die Filmemacher erzählen auch ihr eigenes Roadmovie mit, ihre Fahrten zu den Dreharbeiten werden zur formalen Annäherung an ihre Protagonisten, stets auf dem Weg zu sein.
Insgesamt 130 Filme aus 55 Ländern präsentiert die 38. Ausgabe des Münchner DOK.fest in insgesamt 13 Reihen. Neben den bereits erwähnten großen Wettbewerben lassen sich in dem kompetitiven DOK.horizonte 10 internationale Filme eines »Cinema of Urgency« entdecken, wie die Reihe im Untertitel heißt. Schwerpunktthema ist dieses Jahr »The Power of Media?«, mit Fragezeichen. Fünf Filme kreisen rund um die Medien als vierte demokratische Macht. Mit dabei: Iron
Butterflies des Ukrainers Roman Liubyi über den Abschuss der MH17, die sich anschließende russische Desinformationskampagne inklusive. Aufschlussreich auch And The King Said, What A Fantastic Machine der Schweden Axel Danielson und Maximilien van Aertryck, die einen Durchgang durch die Geschichte der audiovisuellen Medien wagen.
Hervorgehoben sei unter den vielen Reihen noch die Hommage an den österreichischen Filmemacher Nikolaus
Geyrhalter, der stets mit ruhiger Hand unkommentierte Tableaux seiner Sujets einfängt. Anlass für die Hommage ist sein neuester Film Matter Out Of Place, der in ruhigen Einstellungen den Rohstoffkreislauf unseres konsumatorischen Lebens erarbeitet. Unser täglich Brot taucht in die hochindustrialisierte Landwirtschaft ein, Abendland in das nächtliche Treiben in Europa, von Prostituierten bis zum klandestinen Grenzübertritt.
Gastland ist dieses Jahr mit vier Filmen die Türkei, dem Land zwischen Europa und Asien, zwischen Rückschritt und Aufbruch. Hervorzuheben ist die einzige türkische Produktion der Reihe, Kanun Hükmü (The Decree) von Nejla Demirci, die die Zeit nach
dem Putschversuch von 2016 festhält, mit einer Welle von Entlassungen und Repressionen. Von der Brandmarkung der Kritik als Terrorismus bleibt am Ende auch das Filmprojekt nicht verschont.
Pünktlich zum DOK.fest-Auftakt hat der wichtigste deutsche Dokumentarfilmverband AG Dok zusammen mit dem Produzenten-Verband und der Produzentenallianz Film und Fernsehen eine Protestnote gegen die veränderte Sperrfrist für geförderte Filme lanciert, weil sie die spezielle Situation des Dokumentarfilms übergeht. Wer es nicht weiß: Geförderte Filme haben einem vorgegebenen Schedule zu gehorchen, nach dem sie zunächst im Kino gezeigt werden müssen und erst nach einer gewissen Zeit ins nächste »Auswertungsfenster« gehoben werden dürfen, also im TV, in Video on Demand, Streaming-Diensten, oder, immer seltener, als DVD herausgebracht werden können. Zwischen Kino und dem Rest müssen nach neuer Regelung vier statt bislang sechs Monate vergehen, »um den Auswertungszeitraum für das Kino zu gewährleisten«, wie die maßgebliche Filmförderungsanstalt (FFA) schreibt. Die AG Dok weist darauf hin, dass sich Dokumentarfilme kaum je so lange im Kino halten – im Allgemeinen, so die Praxis-Erfahrung, sind Dokumentarfilme sogar nur wenige Tage in den Kinos zu sehen, anders als die meisten geförderten deutschen Spielfilme. Dennoch wurde keine Ausnahmeregelung für den Dokumentarfilm getroffen, was auch deutlich macht, wie liebend gerne die Förderungsanstalt auf die nur wenig gewinnbringende Filmsparte »künstlerischer Dokumentarfilm«, die ohnehin nur selten in ihrem Fördertopf landet (zuständig sind für die kleineren Budgets vor allem die BKM und die Fernsehsender), verzichten könnte. Anstatt die Filmschaffenden aber in die Eigenverantwortung zu entlassen, werden sie weiterhin durch unsinnige Gesetze geknebelt – ungeachtet auch der oftmals hohen Aktualität oder akuten Relevanz der Filme. Die unter Umständen eben nicht endlos, oft noch nicht einmal das halbe Jahr bis zum nächsten Auswertungsfenster, anhält. Auf verblüffende Weise straft sich damit die FFA Lügen, als sie unter dem Eindruck der Pandemie und der Kreativität der Branche, die geförderten Filme trotz Kinoschließungen sichtbar zu machen, eine grundlegende Neuregelung der Sperrfristen in Aussicht stellte.
So mag der Streamingbetrieb, in den das DOK.fest seine Filme ab dem 8. Mai und damit noch mitten im Kino-Festival schickt, durchaus auch als politisches Aufbegehren von DOK.fest-David gegen den FFA-Goliath verstanden werden. Der Feier des Dokumentarischen tut dies auf keinen Fall einen Abbruch.
38. DOK.fest München
Im Kino: 03.–14.05.2023
Im Stream: 08.–21.05.2023
Einzelticket ab 8 Euro