40. Filmfest München 2023
Ein weites Feld |
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Der Drang nach immer mehr, immer gewagteren und verrückteren Bildern... (in: And The King Said, What A Fantastic Machine) | ||
(Foto: 40. Filmfest München) |
Von Christel Strobel
In der Filmfestival-Landschaft ist es schon etwas Besonderes, dass ein Kinderfilmfest genauso lange existiert wie das »große« Filmfest. Dieses Ereignis würdigte auch das jetzige Kinderfilmfest-Leitungsteam Tobias Krell & Tobias Obermeier:
»Ende Juni heißt es wieder eine Woche lang: KINDERFILMFEST MÜNCHEN. Und in diesem Jahr feiern wir eine ganz spezielle Ausgabe. Denn genau wie das FILMFEST MÜNCHEN haben wir Geburtstag und werden stolze 40 Jahre alt! Und das muss gebührlich
gefeiert werden – und das am besten mit ganz viel Schabernack.«
Das war schon mit dem Eröffnungsfilm Neue Geschichten Vom Pumuckl – von Marcus H. Rosenmüller mit Gespür für diese urbayrische Geschichte überzeugend neu verfilmt – in jeder Hinsicht garantiert. Mit der Fernsehserie Meister Eder und sein Pumuckl (1979-1988; TV-Erstausstrahlung 1982) sind schon ganze Generationen aufgewachsen. Die neuen Geschichten (drei gefühlvolle wie zauberhafte Folgen waren für den Eröffnungsfilm zusammengefasst und ergaben ein rundes Ganzes) werden weitere Generationen und deren Eltern erfreuen, schon allein weil es keine Geschichten aus der alten Zeit sind, sondern außer vergnüglichen Szenen mit viel Sinn für Situationskomik auch nachdenkliche Begegnungen vorkommen, wie der gemeinsame Besuch der Kinder an Meister Eders Grab am Friedhof. Der Münchner Schauspieler Florian Brückner ist eine kongeniale Besetzung für Meister Eders Neffen Florian Eder und dass die Stimme des Kabarettisten Maxi Schafroth in der Rolle vom Pumuckl dank KI wie die des legendären Hans Clarin seinerzeit klingt, ist ein sicheres Zeichen für eine moderne Verfilmung.
Dass die Neuen Geschichten vom Pumuckl schließlich den Kinderfilmfest-Publikumspreis erhielten und damit eine weitere ausverkaufte Vorstellung, war kein Wunder bei dieser hörbaren Begeisterung des Kinopublikums.
Eine zweite – fast namensgleiche – Neuverfilmung im Kinderfilmfest-Programm war mit der österreichisch-deutschen Koproduktion Neue Geschichten vom Franz zu sehen. Die Vorlage war hier der zweite Teil des bekannten und erfolgreichen Kinderbuchs von Christine Nöstlinger. Mit viel Sinn für das Wiener Milieu inszenierte Johannes Schmid eine Sommergeschichte von Franz, Gabi und Eberhard, eigentlich Freunde, die aber in diesen Sommerferien in Streit geraten, dann aber doch wieder zusammenhalten, als es um die des Diebstahls verdächtige Nachbarin geht. Die Geschichte nimmt aber einen ganz anderen Verlauf. Mit diesem turbulenten Krimi knüpfte Johannes Schmid an seine früheren Filme für ein junges Publikum an (Blöde Mütze!, Wintertochter).
Die für das 40. Kinderfilmfest ausgewählten Filme umfassten in diesem Jahr ein besonders breites Spektrum: Richteten sich die »Neuen Geschichten« eher an ein jüngeres Publikum, so behandeln die folgenden drei Filme Themen, die für Jugendliche interessant und nachvollziehbar sind. Die Sektion »Generation« bei der Berlinale hat aus diesem Grund die Zweiteilung in »Generation Kplus« (6-12 J.) – man mag über diesen »technokratischen« Begriff irritiert sein – und »Generation 14plus« schon vor Jahren eingeführt, was sich bewährt hat.
Im Münchner Kinderfilmfest wäre die deutsche Produktion Boyz von Sylvain Cruiziat (Buch und Regie – FSK: 12, hier empfohlen ab 14 J.) dafür ein gutes Beispiel. Der Film lief auch in der Reihe »Neues deutsches Kino«.
»Sylvain Cruiziat nutzt die Vertrautheit zu seinem Bruder, um ein faszinierend intimes Dokumentarporträt über die Sorgen und
Wünsche einer jungen Generation zu zeichnen.« Entstanden ist das sympathische Bild einer unbeschwerten Studentengruppe in München, einer intimen Freundschaft – und »es wird sichtbar, was hinter der Fassade der männlichen Jugend nur schwer zu erahnen ist.«
Auch der kanadische Film Before I Change My Mind von Trevor Anderson (FSK und empfohlen ab12 J.) wendet sich an Zwölfjährige aufwärts und erzählt – sensibel und humorvoll – in seinem Coming-of-Age-Film, der 1987 in der kanadischen Provinz spielt, vom non-binären Robin, der neu in die Klasse kommt und zunächst auf Ablehnung stößt. Überraschend entsteht mit dem rüpelhaften Schulkameraden Carter eine Verbindung, die für Robin plötzlich problematisch wird. Dieser Film war auch für die Reihe »International Independents« programmiert.
Mit dem türkischen Film Schuld von Ümran Safter (Buch und Regie – FSK ab 6, hier empfohlen ab 12) wurde das eindringliche Beispiel eines emanzipatorischen Mädchenfilms vorgestellt. Wie immer verbringt Reyhan, inzwischen 13 Jahre, die Sommerferien mit ihrer Mutter in einem anatolischen Dorf bei der strengen und nach althergebrachten
Regeln lebenden Großmutter. Reyhan ist in einem Alter, das nicht mehr alles gläubig hinnimmt und so kommt es immer wieder zu angespannten Situationen. Als die 13-Jährige ihre erste Periode bekommt, beseitigt sie – unter den primitiven ländlichen Umständen – alle Spuren aus Angst vor den religiösen Ritualen der Großmutter. Diesem »Ferienleben« widersetzt sich Reyhan immer stärker, zunächst auf ihre leise, aber beharrliche Art, doch der Wunsch nach Unabhängigkeit lässt
sich nicht unterdrücken, was der Schluss des Films eindrucksvoll zeigt.
Eine spontane Ergänzung des anschließenden Filmgesprächs kam mit Reyhan (!), der türkisch-stämmigen Übersetzerin und Einsprecherin, die nach dem Film ihren Platz in der Kabine verließ, zur Bühne wechselte und eigene Erfahrungen in das Gespräch einbrachte.
Mit Ernest & Célestine:, dem fantasievollen Animationsfilm von Jean-Christophe Roger & Julien Chheng, Frankreich 2022, war eine neue Geschichte der beiden liebenswerten Figuren zu sehen. Diesmal begeben sich der Bär Ernest und seine beste Freundin, die kleine Maus Célestine, auf eine Reise ins Unbekannte. Nachdem Ernests Geige kaputt gegangen ist, wollen sie diese in Ernests ferner Heimat reparieren lassen. Doch als sie ankommen, stellen sie fest, dass seit vielen Jahren dort jegliche Art von Musik verboten ist und ein strenges, Furcht einflößendes Regime darüber wacht. Unvorstellbar! Das kann so nicht bleiben – und dafür lassen sich Ernest und Célestine was einfallen, denn die Gegner sind stark. In der gegenwärtigen Weltlage bietet der Film eine Reihe von aktuellen Bezügen zum Gespräch.
Auch Nelly Rapp, die Heldin der gleichnamigen Buchreihe von Martin Widmark, gewinnt in ihrem zweiten Film Nelly Rapp – Der dunkle Wald an Stärke, nachdem sie im ersten Teil das Familiengeheimnis gelüftet hat und nun selbst als unerschrockene Monsteragentin auftritt. Die Suche nach dem geheimnisvollen Spiegel des Todes führt sie in den gefürchteten dunklen Wald, in dem schreckliche Gestalten und Werwölfe hausen und in dem einst ihre Mutter verschwand. Matilda Gross als Nelly Rapp ist ein Glücksfall, sie verkörpert diese Rolle ganz souverän, weiß, was sie will und was notwendig ist für die Suche ihrer Mutter, die aber in dieser Folge noch nicht erfolgreich ist.
CineKindl Award – Preisträger
Der 2022 erstmalig verliehene Preis CineKindl Award ist mit 2.500 € dotiert und wird von megaherz gestiftet. In die dreiköpfige Jury, die den Gewinnerfilm wählt, waren in diesem Jahr die Regisseurin Joya Thome, der Kameramann Philip Henze und die Produzentin Maite Woköck berufen. Ihr eindeutiger Favorit der nominierten Filme war Nelly Rapp – Der dunkle Wald von Johan Rosell, Schweden 2023:
»Der Film hat sowohl die Kinder als auch uns als Erwachsene auf vielen Ebenen begeistert. Er erzählt das große Abenteuer von Monsteragentin Nelly Rapp auf sehr spannende, lustige und berührende Art und Weise. Dabei zeichnet er all seine Figuren unterhaltsam und immer authentisch. Der Film wertschätzt Kinder als anspruchsvolles Publikum und funktioniert dadurch quasi als
Nebeneffekt für jedes Alter. Das tolle Zusammenspiel der Inszenierung von Regisseur Johan Rosell mit allen anderen Gewerken lässt die Zuschauer in Nellys Welt eintauchen und bescherte uns ein begeisterndes Kinoerlebnis.«
Lobende Erwähnung
Den Drang nach immer mehr, immer gewagteren und verrückteren Bildern, macht der temporeiche Dokumentarfilm And The King Said, What A Fantastic Machine von Axel Danielson und Maximilian Van Aertryck (Schweden / Dänemark 2022, 88 Min., FSK und empfohlen ab 12) zum Thema. Ausgehend von der Frage, welchen Einfluss das zunächst
fotografische Standbild hatte, dem die rapide Entwicklung des bewegten Bildes folgte, bis hin zur Bilderflut der sozialen Medien, die uns heute tagtäglich umgibt. Wie bereits der Titel andeutet, ist es ein außergewöhnlicher Film: mit Archivmaterial überbordend und atemberaubend belegt – aber auch nachdenklich und medienkritisch – für das junge Publikum ausdrücklich empfohlen!
Der Film erhielt von der Kinderfilmfest-Jury eine Lobende Erwähnung: »Es ist uns ein besonderes Anliegen, diesen Film hervorzuheben. Statt das Thema nur auf theoretischer Ebene zu erfassen, hat er uns ermöglicht, die Macht der Bilder am eigenen Leib zu erfahren.«
Alles in allem hat das Kinderfilmfest München in seinem 40. Jahr einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das ausgewählte Filmprogramm war vielseitig, mit Geschichten, die Spaß machten, aber auch Filmen mit ernsten Begebenheiten, die die Kinder herausforderten. Die Frage der Alterseignung unter dem allgemeinen Begriff »Kinderfilmfest« bzw. deren Differenzierung sollte strukturell überdacht werden – auch wenn die empathische Begrüßung von »CheckerTobi« Tobias Krell vor jedem Film schon eine erwartungsfreudige Atmosphäre schafft – besonders, wenn die Vorstellung im vollen Audimax der Hochschule für Film und Fernsehen HFF stattfindet, und das war oft der Fall. Überhaupt ist die HFF der ideale Ort fürs Kinderfilmfest, der sowohl den Kinderfilmfest-Leiter am Podium als auch das Publikum im großzügigen Saal beflügelt! In diesem Sinne können wir uns auf weitere Jahre freuen…