Bilder von morgen und das cinephile Reservoir von gestern |
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Beeindruckender Umwelt-Film: Marias Wave | ||
(Foto: DOXS RUHR 2023) |
Von Christel Strobel
»DOXS RUHR ist ein Festival, das von Bildern etwas wissen will. Daher kommen Filme auf die Leinwand, die anregen und aufregen, denen es um etwas geht: die Wirklichkeit. In das Dokumentarische sind wir gleichermaßen verliebt, wie in das Kino und das Ruhrgebiet.
Unser Programm stammt aus Europa, unser junges Publikum aus einer Region, deren Topografie das dezentrale Festivalkonzept inspiriert und initiiert hat. … Mit unseren Partnern aus der Film- und Bildungsszene
ziehen wir kollaborativ an einem Strang und mobilisieren Kinder und Jugendliche für eine Filmkultur, die sie so noch nicht gesehen haben. Nicht in Gesellschaft, nicht an diesen Orten.«
Gudrun Sommer, langjährige Leiterin von »doxs! – dokumentarfilme für kinder und jugendliche« / Filmwoche Duisburg, zu ihrem persönlichen Anspruch an ihr jüngstes Projekt DOXS RUHR (Bochum – Bottrop – Essen – Dortmund – Gelsenkirchen – Moers), das in diesem
Jahr zum zweiten Mal als eigenständiges Festival stattfindet. Nicht zuletzt verweist sie auf den Vorteil der Vielfalt von Spielstätten im Ruhrgebiet: »Vom 20er Jahre Filmpalast bis zur umgenutzten Industrielocation sind Charme und Atmosphäre unserer Kinos so divers wie unverwechselbar, um junges Publikum für die Bilder von morgen und das cinephile Reservoir von gestern zu interessieren.«
Hinzu kommen ganzjährig außerschulische filmpädagogische Projekte. (siehe auch
der Bericht über das erste Doxs Ruhr-Festival 2022).
Bereits der diesjährige Eröffnungsfilm widmet sich einem brisanten aktuellen Thema: Planet B (R: Pieter Van Eeck, Belgien 2023, 74 Min., empfohlen ab 14 J., nominiert für den ECFA DOC Award) dokumentiert die fantasiereichen Aktionen junger leidenschaftlicher Menschen in Brüssel, die sich für den Erhalt eines gesunden Klimas allerhand einfallen lassen. Am Beispiel der engagierten Schülerinnen Bo und Luca, Freundinnen und Klimaaktivistinnen, wird deutlich, welche Überzeugung und welche Kraft bei den Demonstrationen notwendig sind, wo es auch zu Konfrontationen kommt (»We are peaceful, what are you?!«) Pieter Van Eeck vermittelt mit Planet B ein differenziertes Bild und damit eine gute Grundlage für ein Gespräch nach dem Film.
Auch Maria’s Wave (R: Ligia Resende, Portugal/Deutschland 2019, 14 Min., empfohlen ab 8 J. im Schulfilmprogramm) ist ein beeindruckender Umwelt-Film, der in seiner Kürze eine fantastische Geschichte erzählt. Das Mädchen Maria lebt auf der Azoren-Insel Faial und liebt den Strand, aber »der ist einer der portugiesischen Strände mit der größten Verschmutzung durch Plastik.« Maria will den Menschen bewusst machen, dass die Zukunft der Ozeane davon abhängt, wie sie an Land mit Plastik umgehen. Sie will eine mahnende Skulptur schaffen, was ihr mit Hilfe einer befreundeten Künstlerin, die den Entwurf zeichnet, und beharrlicher Plastikmüll-Sammlung auch gelingt. Maria ist besorgt, dass die Leute beim Anblick der Skulptur nicht über das Problem nachdenken und dass ihnen alles egal ist. Andererseits hofft sie, dass die Menschen, die die Skulptur sehen, verstehen werden, wie groß das Problem wirklich ist und dass sie jetzt handeln müssen. Ein kurzer, aber nachhaltiger Film mit einer in ihrer sanften Beharrlichkeit überzeugenden Protagonistin.
Waking up in Silence (R: Mila Zhluktenko / Daniel Asadi Faezl, Deutschland/Ukraine 2023, 17 Min., empfohlen ab 10/12 J. nominiert für den ECFA DOC Award) begleitet ukrainische Flüchtlinge in Schweinfurt, die dort in einem Wohnblock aus dem Dritten Reich untergebracht wurden, was noch an den faschistischen Reliefs über den Eingängen und an Wandmalereien zu sehen ist. Die Kinder spielen, fahren Rad, schauen die Besucher aufmerksam an. Es sind scheinbare Nebensächlichkeiten, die anders sind, als sie es von ihrer Heimat gewohnt sind, z. B. schmeckten die Kirschen in der Ukraine besser. Der Anruf eines in der Ukraine gebliebenen Vaters bringt den Krieg wieder nahe, denn er berichtet von Raketenangriffen in ihrer Nähe. Bei der Betrachtung der Wandmalereien in ihrem Domizil, die auch Kriegsszenen zeigen, meint ein Junge ängstlich, dass es der Krieg in ihrer Heimat ist, wird aber beruhigt, da es sich hier um deutsche Soldaten im vergangenen, im Zweiten Weltkrieg handelt – damals haben deutsche Soldaten russisches Gebiet überfallen… So beiläufig wie eindringlich fällt hier der Blick auf eine heikle Situation.
Ramboy (R: Matthias Joulaud / Lucien Roux, Schweiz 2022, 30 Min., empfohlen ab 10/12 J., nominiert für den ECFA DOC Award) führt in eine raue, zugleich großartige Landschaft an der Westküste Irlands. Cian verbringt hier die Sommerferien bei seinem Großvater, einem erfahrenen Schafzüchter. Der Junge – immer im Fußball-Shirt und Sneakers unterwegs – wäre in den Sommerferien lieber mit seinen Freunden zusammen, als seinem Großvater zu helfen, der den
Enkel fest in die Arbeit einbezieht. Das ist nicht leicht und es sind neue Erfahrungen, z.B. den wilden Hund für die Schafherde abzurichten, mit störrischen Schafen umzugehen, Hörner abzusägen, die Herde im Zaum zu halten. Dass Cian seine Sache gut macht, ist immer wieder auf dem Gesicht des Großvaters zu sehen, der den Enkel genau beobachtet und mit einem zuweilen schelmischen Lächeln seine Zufriedenheit zeigt. Dieser Sommer wird für Cian zu einem unerwarteten und vielleicht
Weichen stellenden Erlebnis. Ramboyvon Matthias Joulaud und Lucien Roux überzeugt durch seine visuelle Gestaltung und eine besondere Atmosphäre, die sich zunehmend auf das Kinopublikum überträgt.
Ramboy erhielt von der Jury den ECFA DOC Award für den besten dokumentarischen Kinderfilm. Die internationale Fachjury betont, dass dieser Film »Raum zum Nachdenken und Diskutieren lässt. Mit starken cineastischen Bildern und einem
Augenzwinkern erzählt der Film zwischen den Zeilen«.
Ein interessanter Film sei noch erwähnt, und zwar Chemkids (R: Julius Gintaras Blum, Deutschland 2021, 27 Min., empfohlen ab 16 J.), der wieder in Kooperation mit dem Arras Film Festival bei DOXS RUHR zu sehen war. Es ist das Zeitdokument von Jugendlichen, die im Osten, in »Karl-Marx-Stadt«, geboren und aufgewachsen sind und sich nach der Wende im Westen zurechtfinden mussten, wo ihr Geburtsort
wieder Chemnitz hieß. Sehr genau sind hier die Befindlichkeiten registriert: Ihre Bemühungen, die neuen Gegebenheiten zu verstehen, sie treffen sich irgendwo im leeren Gelände und verlassenen Häusern. Geradezu poetisch formuliert ein Mädchen diese Umbruchzeit: »Wir nahmen uns gerne Räume und gaben ihnen eine neue Bedeutung. An diesen Orten versprachen wir uns große Abenteuer. Das war aufregend und diese Abende schienen uns für immer«.
Gudrun Sommer, leidenschaftliche Organisatorin von Kinder- und Jugendfilmfestivals, hat sich viel vorgenommen und diese zweite DOXS RUHR – Ausgabe ist ein viel versprechendes Angebot in einer ehemaligen Industrieregion.
Erfreulicherweise ist die von Gudrun Sommer und Nadia Paschetto initiierte Festivalpartnerschaft mit dem Arras Film Festival – mit Unterstützung des Goethe Instituts Lille – fortgesetzt worden. Die Vorführungen der französischen Filme im Ruhrgebiet fanden erneut in Zusammenarbeit mit dem deutsch-französischen Kulturzentrum Essen statt. Weiterhin soll es also einen deutsch-französischen Filmaustausch und ein gemeinsames Projekt zur jungen Filmkritik geben; vorausgesetzt, dass die brisanten Schließungspläne für eine Reihe von Goethe-Instituten – so auch in Lille – von der deutschen Außenministerin und anderen Fürsprechern dieser Pläne noch einmal überdacht und fallengelassen werden – im Sinne einer lebendigen Kulturszene hier und dort.