Im Geradeaus verlaufen |
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So jung wie weise: Emre Und Nemo | ||
(Foto: 22. doxs! Duisburg) |
Von Christel Strobel
IM GERADEAUS VERLAUFEN – das gemeinsame Motto der 47. Duisburger Filmwoche und doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche, zum 22. Mal im Rahmen der Duisburger Filmwoche – »versteht sich als Einladung, dort abzubiegen, wo andere weiterlaufen. Seiner eigenen Intuition zu folgen, statt den Algorithmen des Navigationssystems. Manchmal braucht es Schlaufen und Umwege, um sich und die Welt neu zu entdecken. Unsere Dokumentarfilme projizieren genau das. Sie
sind Routenplaner gegen die Routine. … Die diesjährigen Filme stellen junge Protagonist*innen in den Mittelpunkt, die den Mut haben, ihre Stimme zu erheben und mit beeindruckender Kreativität um ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu kämpfen. Die Themen sind ein Spiegel unserer Zeit. Es geht um Machtdenken, Identität und Zugehörigkeit. … Wem gehört der öffentliche Raum und wer entscheidet über Zugänge?«
IM GERADEAUS VERLAUFEN – das gemeinsame Motto macht
auf den ersten Blick stutzig, erweist sich aber nach Betrachtung der ausgewählten Filme als originelle wie sinnvolle Metapher.
Ein erstes Beispiel ist bereits im Programm »Ab 10 J.« zu sehen:
Skate The City (Regie: Lies van der Auwera, Belgien 2023, 15 Min)
Pippa, ein leidenschaftliches Skate-Girl, zieht mit Freund und Freundin durch ihre Stadt Antwerpen, immer auf der Suche nach spektakulären Plätzen, das sind Treppen und Geländer für ihre »Kickflips«. Ihr Spielraum wird aber zunehmend eingeengt durch immer neue Verbotsschilder, die vor allem ihre besten Spots unzugänglich
machen. Pippa kann das nicht verstehen, denn für sie ist »Skaten eine Form von Kunst«. Schließlich gehen die drei Skater zum Rathaus, um sich an Ort und Stelle für ihre Rechte im öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen. Hier beweist Pippa ihren Mut und spricht sehr deutliche Worte. Doch beim verbalen Protest bleibt es nicht – um ihr Anliegen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, organisieren sie einen Skate-Wettbewerb. Diese drei engagierten Skater haben sich nicht »im
Geradeaus verlaufen«, sondern verfolgen ihr Ziel mit klarem Blick geradeaus. Mit seinem universellen Thema spricht »Skate the City« nicht nur Skater an und ist schließlich auch ein visuelles Erlebnis.
Nicht verlaufen hat sich die griechische Landschildkröte Testudo Hermanni (Regie: Anthony Svatek, Österreich 2023, 7 Min.), sondern überwintert im Kühlschrank bei beständig 5 Grad, und zwar bei der Familie des Regisseurs, die in der Nähe von Salzburg lebt
– die winterliche Burg gibt gleich ein stimmungsvolles Entree ab. Die träge, fast starr erscheinende Schildkröte wird behutsam aus dem Gemüsefach gehoben, dieses frisch versorgt, danach ebenso bedächtig wieder in sein »Winterquartier« gesetzt und geradezu zärtlich mit Salatblättchen bestreut. Das ist ein Vorgang, dem man mit Staunen sieben Minuten folgt – und zum weiteren Studium über dieses Wesen, das bis zu 100 Jahre alt werden kann, angeregt wird…
Nikita
Diakur, der 3D-Künstler und Regisseur des Kurzfilms Backflip (12 Min,), hat seinen Traum, einen Rückwärtssalto, nicht selbst realisieren können und dafür einen Avatar entwickelt. Der hüpft, springt und stürzt nun durch den mit Matratzen ausgelegten virtuellen Raum. Das ist nur möglich durch die Programmierung von Parametern und den Computer mit genügend Informationen zu versorgen, und mittels künstlicher Intelligenz, die aus jedem Versuch neue Daten für
weitere Erfahrungen generiert – und schließlich unzählige Versuche rund um die Uhr, die den Avatar einem perfekten Rückwärtssalto näher bringen sollen. Auch wenn es sich um ein künstliches Wesen handelt, das ungelenk wie stürmisch loslegt, aber auch immer wieder mit missglückten Sprüngen hart am Boden landet, reagiert das Publikum (ab 12 J.) sehr menschlich. Der in Leipzig lebende Regisseur erhielt bereits den Deutschen Kurzfilmpreis 2023 für seinen außergewöhnlichen
Animationsfilm.
Linda Und Irina (Frankreich 2023, Regie: Guillaume Brac, 38 Min.) Eigentlich ist es eine unbeschwerte Zeit, so kurz vor den Sommerferien, die Linda und Irina in dem französischen Film (Originaltitel: Un Pincement au Coeur) zusammen verbringen. Aber Lindas Familie scheint unstet zu sein, denn sie ziehen schon bald wieder woanders hin. Das ist keine gute Grundlage für den Beginn einer Freundschaft, noch dazu guckt Linda eher pessimistisch
in die Welt, redet sehr viel darüber und findet, dass sie »einen Fehler gemacht« hat, als sie sich mit Irina anfreundete. Das wiederum fordert die dritte Freundin im Bunde zu sehr deutlichen Worten an Linda heraus: »Du hast kein Vertrauen und denkst immer, die Leute wollen dir nichts Gutes!« Dies ist nun wieder ein wunderbares Filmbeispiel zum interpretierbaren Thema »Im Geradeaus verlaufen«…
EMRE und NEMO (Schweden 2022, Regie: Andja Arnebäck & Annika Ivarsson, 16 Min.), auch ein Film zum Thema Freundschaft, wirkt wieder so ganz anders. Hier geht es um zwei junge Musiker, die im Jugendclub beste Freunde geworden sind und die sich schon in ihrem Outfit unterscheiden: Der »g'standne« Emre sorgt als Rapper auf der Bühne für Stimmung, während Nemo den opulenteren Bühnen-Auftritt mit Glamrock und Kajal im feinen Gesicht pflegt. Während der Pandemie
haben sie ein gemeinsames Konzert organisiert: »Wenn Dinge schief gehen, brauchst du Menschen, mit denen du darüber lachen kannst.« So jung und so weise, aber keineswegs abgehoben oder belehrend.
Beide Filme waren für 13-Jährige empfohlen,
Junge Aus Holz (Niederlande 2022, Regie: Eva Oestervald, 25 Min.) thematisiert eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Der 14-jährige Stijn ist das, was man einen »Schwererziehbaren« nennt. Nach einem tätlichen Angriff auf einen Mitschüler ist er von der Schule verwiesen worden und lebt seit der Trennung der Eltern beim Vater. Sie bemühen sich um ein sachliches Verhältnis, das fällt Stijn sichtlich schwer und er rastet schnell wieder aus, aber es ist ihm auch bewusst, dass er sein Verhalten ändern muss. Jetzt steht ein Neustart an einer anderen Schule bevor. Noch wichtiger ist ihm aber, mit seiner Mutter wieder in Kontakt zu kommen. Handwerklich geschickt fertigt Stijn in der Tischlerei ein Geschenk für sie an – ein aussichtsreicher Versuch. Man wünscht ihm, dass sein Weg geradeaus weiter führt.
Vaterland (Deutschland 2023, Regie: Antje Schneider und Carsten Waldbauer, 45 Min.,
ab 16 J.), ebenfalls eine Vater-Sohn-Geschichte, hier eine sehr dynamische. Beide sitzen am liebsten im Sattel ihrer Pferde auf ihrer Ranch in Thüringen, trainieren das Roping, schwingen die Lassos, und träumen von einer Teilnahme beim Turnier in Las Vegas…
»Vaterland« entstand in der doku.klasse,, einem Projekt von doxs!, das seit fast zehn Jahren in Kooperation mit
ZDF/3sat, Deutschlandfunk Kultur, der Grimme-Akademie und der FSF Berlin konzipiert und durchgeführt wird. In jeweils eintägigen Workshops vor dem doxs!- Festival diskutieren junge Filminteressierte ab 16 J. mit den Filmemachern und Filmemacherinnen die eingereichten Stoffe, was ein Gewinn für beide sein kann – die einen lernen Sehgewohnheiten u.a. kennen, die anderen erfahren aus erster Hand, wie filmisches Arbeiten funktioniert. Die in der dokuklasse entstandenen
Filme sowie die Erfahrungen aus den Workshops werden während des doxs!-Festivals präsentiert.
Hervorzuheben ist nicht zuletzt die gemeinsame Eröffnung der Filmwoche Duisburg und doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche, ein sichtbares Zeichen des »Filmfestivals unter einem Dach« mit einem anspruchsvollen Werk:
Achshav At Ahat Mishelanu von Maya Steinberg (Israel/Deutschland 2022
die sehr persönliche Reise der Filmemacherin zur Grabstätte von Rabbi Schimon ben Joachai in Galiläa, dem Ort, der ihren Vater so tief beeindruckt hat,
dass er sein bisheriges Leben aufgab und ganz der jüdischen Tradition widmete. Die Tochter, die in Berlin ein ganz anderes Leben führt, versucht, diese Entscheidung zu – ein Film, der nachdenklich macht.)
Tradition bei doxs! hat der Preis der Jugendjury »Große Klappe«, der zum 13. Mal verliehen wurde, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung.und dotiert mit 5.000 Euro. 2023 verlieh die Jugndjury ihren Preis an
A History Of The World According To Getty Images
(Richard Misek, Großbritannien / Norwegen 2022, 15 Min.)
Begründung der Jury (Auszug):
»Wir möchten mit ›A History Of The World According To Getty Images‹ einen Film auszeichnen, der in seiner grafisch reduzierten Ästhetik einen Akt der Rebellion darstellt. (...) Diese Simplizität wird unserer Meinung nach dem Ziel des Filmes, verschlossene Aufnahmen ans Tageslicht zu bringen, gerecht. Der Film plädiert dafür, Dokumentationen wichtiger historischer Ereignisse nicht zu kapitalisieren. (...)
Dadurch, dass der
Filmemacher Richard Misek mit seinem Film die Aufnahmen hinter der Paywall von Getty Images hervorholt, begeht er einen Geniestreich, mit dem der Film gegen die kapitalistische Geldgier dieser Firmen vorgeht. Misek äußert somit Kritik an kommerziellen Archiven, die sich an eigentlich öffentlichen historischen Aufnahmen bedienen, die im Besitz der Allgemeinheit sein müssten.
Dabei geht der Film über die Kritik an diesen Archiven hinaus und bemängelt zudem den Kapitalismus
hinter dem Geschäft mit Wissen. Er verleitet uns dazu, sich mit dem Urheberrecht im 21. Jahrhundert kritisch auseinanderzusetzen.«
Daher zeichnen wir »A History Of The World According To Getty Images« als diesjährigen Gewinnerfilm der Großen Klappe aus.
Tanja Tatlik, doxs!-Leiterin, hat mit ihrem Team ein themenreiches und formal beachtliches Programm organisiert, verstärkt auch mit politischen Inhalten, wovon hier nur ein Eindruck vermittelt werden kann. Ein Merkmal sind auch die nach jedem Film unter fachkundiger Leitung geführten Gespräche mit den Schulklassen im Kino. Und jede Vorführung begann mit einem Trailer, der ein geradezu feierliches Ende hatte: »Künstler sein ist keine Arbeit, sondern eine
Lebensberufung.«
Tanja hierzu: »Der Satz des Jungen aus dem doxs!-Trailer von Zauri Matikaschvili bleibt mir im Kopf. Ich mag, wie reflektiert und selbstbewusst er es sagt. Bei Lebensberufung denke ich an Überzeugung, Sinnhaftigkeit, Erfüllung oder gar Bestimmung. Etwas, das nicht aus finanziellem Interesse gemacht wird, sondern aus Leidenschaft, Den Filmen aus dem diesjährigen Programm ist die Leidenschaft für das Filmemachen anzusehen. Das Festival etwa lebt
davon, dass es Künster*innen gibt, die auch weiterhin Dokumentarfilme für und mit Kindern und Jugendlichen machen und sich für ihre Lebenswelten interessieren.
Und Künstler sein ist eben doch auch Arbeit…Das ist keine neue Erkenntnis, aber ich möchte es hier nochmal betonen.«