Wo Pommes???
Wo Pommes ??? |
||
Pattern against workers von Olena Newkryta – die Textur der Filmwoche | ||
(Foto: Sixpack Film) |
Von Nora Moschuering
PREQUEL
Angenommen man radelt vom Süden am Rhein entlang nach Duisburg, dann kommt man auch an Mainz vorbei und macht da vielleicht Station. Die Autorin hat das gemacht. Abends überlegte sie sich, ins Kino zu gehen, und suchte im Netz: zuerst verwundert, dann erstaunt und schließlich traurig. Mainz hat ein CineStar, dann ein kleines Kino, das CinéMayence, mit sehr viel Sonderprogramm, und sonst? Man ist zeitlich haarscharf an den Programmkinos Palatin und Kapitol
vorbeigeradelt, die es noch bis Ende Oktober gab. Jetzt ist Mainz die einzige Landeshauptstadt ohne Programmkinos, und das in der Stadt, in der das ZDF beheimatet ist – wenn auch außerhalb und auf einem Hügel. Man liest nach: Gegen die Schließung wurden 30 000 Unterschriften gesammelt und der Appell wurde erhört, es gibt eine Wiedereröffnung. In den Neubau auf dem Gelände muss der neue Eigentümer drei Kinosäle einbauen, die die Stadt – zu Geld gekommen durch Biontech
– mietet. Für die Begleitung des Prozesses ist eine Kommission zusammengestellt worden, die Ideen für eine neue Kinokultur einbringt. Das ist einzigartig und ziemlich spannend und könnte ein Beispiel von zukünftiger, offizieller, kultureller Filmförderung werden. Die Daumen sind gedrückt.
DUISBURG
Damit, und nach ein paar weiteren Anreisetagen, zur Duisburger Filmwoche (06.-12.11.23) und zu den einleitenden Katalog-Pro-Kino-Worten des Filmwoche-Leiters Alexander Scholz: »Digitaler Kater sowie volle Kinosäle bei Veranstaltungen, die auf Begegnung und Austausch setzen, zeigen indes, dass das Kino, dass sich Dialog, kaum auf virtuelle Leinwände verlegen lässt!« Duisburg setzt schon immer auf ein gemeinsames Kinoerlebnis, auch wenn es die Filme zusätzlich
digital zu sehen gibt. In dieser Woche wird konzentriert Film im Kino geschaut und im Anschluss darüber diskutiert. So ergibt sich ein demokratischer Raum, in dem man sich trifft und spricht, denn Sehen, Einschätzen und Einordnen können ist wichtig und das besonders in dem Rahmen, den wir das Dokumentarische nennen, denn der dehnt sich schon seit Jahren immer mehr aus, besonders auf kleinere Bildschirme.
DUISBURGER FILME
Patterns Against Workers, ein etwa halbstündiges Essay von Olena Newkryta (Preis der Stadt Duisburg), ist inhaltlich und formal ein Gewebe, in den horizontalen und vertikalen Linien eines Stoffes und dem Sliden auf einem leuchtenden Handybildschirm vor dem Hintergrund einer organischen und bergigen Decken-Landschaft, eingehüllt in Schlaflosigkeit. Die Augen schwer, das Herabfallen der Lider von oben nach unten, die Augen
offenhalten, nicht richtig wach sein und noch nicht richtig müde, etwas im Netz suchen, das Handy zwischen den Händen, ein horizontales Wischen. Immer wieder. Diese Geste, dann die Bewegung der Arbeiterinnen in der Deckenfabrik: Wiederholung um Wiederholung, um ein Gewebe, auch aus Wissen, zu erstellen. Die ersten Webmuster, die Entkopplung dieses Wissens vom menschlichen Körper in sich wiederholende, industriell nutzbare, schematische Abläufe in Webereien. Die Maschinen
können dieses »Wissen« schließlich selbstständig weiterentwickeln, für den menschlichen Körper bleiben allein sehr rudimentäre, simple Abläufe: das Einsäumen und Legen von Decken, das Schieben unter Nähmaschinen, das Wegschieben, das Falten. Patterns Against Workers ist vielleicht die Textur der Filmwoche, in dem sich zeitlich zwar nichts überlagert, das aber inhaltlich und formal Verbindungen schafft, die aber weniger schematisch, als eher individuell
geknüpft werden: Stoffentwicklung.
Von diesem halbstündigen Insomnia-Essay, das verträumt Schlüsse zieht, zwischen Industrialisierung und Informationstechnologien, Handarbeit und rasterartigen Aufbau von Industriegebieten, zu Julian Vogels Trilogie Einzeltäter 1-3 (Einzeltäter-München (Teil 1), Einzeltäter-Halle (Teil 2), Einzeltäter-Hanau (Teil 3) (3sat-Dokumentarfilmpreis). Hier stehen individuelle Geschichten und Schicksale und scheinbar weniger Systeme im Mittelpunkt. Man begleitet die Angehörigen der
Opfer der Anschläge: wie leben sie mit dem Verlust und natürlich schält sich das Gitter, das Gewebe, die Systeme, in denen auch sie eingebettet sind, immer mehr heraus.
In München, wo 2016 neun Menschen erschossen wurden, begleitet man zwei Familien und ihre Anwältin. Sie kämpfen dafür, dass die Tat nicht als Amoklauf eines Einzelnen eingestuft wird (und in die Statistik eingeht), sondern als rassistisches, rechtsextremes Attentat. Es geht um Erinnerungskultur, um
Verantwortlichkeit und natürlich auch um Konsequenzen. Die Einordnung von München wird erst über drei Jahre später, nach dem rechtsextremen Amoklauf in Hanau, geändert.
2019 in Halle erschoss der Täter, nachdem er an der Tür der Synagoge gescheitert war, zwei Menschen. Kevin ist einer von ihnen. Im zweiten Teil begleitet man vor allen Dingen dessen Vater. Das andere Opfer Jana oder die Gemeindemitglieder der Synagoge kommen leider so gut wie gar nicht vor – was beim Gespräch
auch angemerkt wurde, leider, so Vogel, waren sie aus Gründen, die er auch erläutert, nicht bereit mitzumachen, und so fällt dieser Trilogie-Teil auch etwas raus. Es geht um das Aufwachsen in der DDR und sehr viel um Fußball, genauer den Hallesche FC, die Vereinskultur, die Solidarität untereinander, aber eben auch um Ansichten, die denen der drei Täter nicht fern sein dürften.
In Hanau 2020 starben neun Menschen. Nach der Tat bildeten sich Initiativen gegen Rassismus,
solidarische Kundgebungen. In diesem Teil werden noch persönlichere Geschichten der Opfer erzählt, von Freundschaften, aber auch von dem Stadtviertel, in dem sie lebten: wie ist er aufgebaut, wo lebte der Täter und wo die Opfer.
Alle drei Teile erzählen viel über die Gesellschaft in Deutschland, Politik, Rechtsprechung, Polizeiarbeit- und Gewalt. Eine Trilogie, die man sehen sollte und die exemplarisch für das oben beschriebene Duisburg-Gewebe steht (einzeln
funktionieren sie aber auch).)
ANQA (ARTE-Dokumentarfilmpreis) von Helin Çelik, versucht die Folgen der Gewalt von Männern gegen Frauen in Jordanien haptisch erfahrbar zu machen und sich, ähnlich wie Einzeltäter, auf die Überlebenden zu konzentrieren. ANQA ist ein visuell kraftvoller Film: zu Beginn ist man in einem Gefängnis, die Atmosphäre ist kalt, unheimlich, dunkel, man weiß nicht, ob man sich in einem konkreten Raum befindet, einer Erinnerung oder einem Gefühl. Der Raum verändert sich: Drei Frauen in ihren Wohnungen. Die eine reibt sich unablässig die Augen, als könnte sie etwas nicht begreifen, oder wolle es sich ganz wortwörtlich aus den Augen reiben, die andere ist blind, ihr wurden die Augen herausgerissen, die dritte hat ein Neugeborenes und sieht aus dem Fenster. Alle drei haben Gewalt erfahren, die im Film nur angesprochen wird und leiden unter posttraumatischer Belastungsstörung. Im Gesprächsprotokoll meint Helin Çelik: »Poetik ergebe sich für sie gerade durch die Abwesenheit von Informationen und sie habe ohnehin keinerlei investigativen Ehrgeiz gehabt«. Sie fragmentiert das Trauma, die Erzählung und irgendwie auch die Frauen selber, in dem sie ihnen sehr nahe kommt. Allerdings ist das eine oder andere, was man im anschließenden Gespräch erfährt, im Film schwer verständlich. Meist fehlt Wissen z.B. darüber, dass es beispielsweise in Jordanien Schutzhaft für Frauen gibt und diese Räume Gefängnissen gleichen. Auch ist das Schicksal der einen Frau in Jordanien durch die Medien gegangen, wie Çelik erzählt, dort würde der Film, den sie dort aber nicht zeigen kann, sicher anders rezipiert werden. Der Film überträgt also ein Gefühl, über dessen Ursprung man rätselt. Natürlich ist die berechtigte Frage: Wie viel der Gewalt reproduziert man, aber die andere sicher auch: Wie viel Informationen braucht man. Vielleicht den klarsten Hintergrund an Informationen bildet ein ägyptischer Film von 1957, der immer wieder aus dem Off zu hören ist, in ihm geht es um einen Mord an einer Frau durch einen Mann.
Das Fiktionale spielt in Duisburg immer wieder eine große Rolle, z.B. in André Siegers La Empresa (Lobende Erwähnung ARTE-Dokumentarfilmpreis). Der Film und das Filmteam, das sich selber immer wieder lakonisch einordnet, schwebt in einem Zwischenraum: auf der Suche nach einer dokumentarischen Geschichte (oder?) wird das Team auf das mexikanische Dorf El Alberto aufmerksam, das man sich als Set mieten kann, inklusive der »Caminata Nocturna« einem fiktiven, nächtlichen Mexiko-USA-Grenzübertritt. Auf den muss man dann allerdings ein paar Tage warten, auch das Wetter spielt nicht so recht mit. Als Zuschauer*in sollte man einerseits hinterfragen, sich aber auch mal hineinziehen lassen und lachen, denn La Empresa macht Spaß. Der Film hinterfragt damit spielerisch und gleichzeitig sehr ernsthaft die Mischung von Fiktion und Dokument, die unsere heutigen Bilder permanent durchzieht und damit auch die Kommerzialisierung von ihnen, z.B. von Katastrophenbildern. Was passiert, wenn man in ein Geschäftsmodell hineingerät, in dem neben einem Set für Telenovelas, die »Caminata Nocturna« angeboten wird, die man, eifrig bestätigt durch den Verkäufer, auch als Dokumentation nutzen kann. Da beißt sich doch irgendetwas in den Schwanz oder die Verwirrung ist komplett. Und das ist es vielleicht auch, woran Duisburg arbeitet, das zu entknoten oder zumindest sichtbar zu machen.
Die Diskussion um Fiktion und Dokument gibt es jedes Jahr und sie ist ja auch eine der Interessantesten, ohne jemals abgeschlossen zu sein. In Füür Brännt von Michael Karrer z.B. folgt man jeweils einer Gruppe Kindern, Jugendlicher und junger Erwachsener durch eine Nacht, aber anders als bei Siegers Film fragt man sich nach dem Gespräch schon ein bisschen, was der Film hier tut (was ja auch ok ist), denn auch wenn teilweise Laien spielen und es improvisierte Szenen gibt und die Sprache in Dynamik und Dialekt dokumentarisch sein soll, so Karrer, so scheinen alle Szenen doch stark geplant. Dass Karrer von seinen eigenen Erfahrungen erzählt, geschenkt, das machen Spielfilme oft. Karrer selber scheint reflektiert und ehrlich, auch wenn man sich bei allen Gedanken, die er sich um Team und kollektive Arbeit macht, doch fragt, warum er nicht zugibt, dass er ein Regisseur ist, der seine Idee umsetzen will und damit anderen auch seine Haltung aufzwingt (was ja auch ok ist). Ein bisschen verheddert er sich also während des Gesprächs in seinem eigenen Anspruch. Schön ist der Film trotzdem, die immer trunkener werdenden Gespräche, die großen und kleinen Geschichten durchlebter Nächte, sich finden, kurz verlieben, sich wieder trennen, am Fluss, gemeinsame Spiele oder einfach nur alleine ins Feuer schauen und innerlich wegdriften.
Zimmerwald von Valeria Stucki erscheint absurderweise künstlicher und inszenierter als Füür Brännt, ist es aber nicht. Es geht um die reale Zimmerwald-Konferenz von 1915, zu der sich eine Gruppe von Kommunisten, getarnt als Ornithologen, im Geheimen getroffen hat, um die Kommunistische Internationale auszurufen. Zimmerwald ist das Schweizer Dorf, in dem sie zufälligerweise oder unauffälligerweise, stattgefunden hat. Sonst ist hier, wie auch angeblich im Rest der Schweiz, nie etwas historisch Relevantes passiert. Eine Gruppe von Schüler*innen macht sich auf die Suche nach der Konferenz und was von ihr übrig geblieben ist. Sie sprechen mit Dorfbewohner*innen und stellen einen Antrag auf eine Gedenktafel, die schließlich zu einer Informationstafel, aber dann doch niemals aufgestellt wird. Zimmerwald wirkt seltsam steif und nach Füür Brännt war der Zweifel etwas größer, aber sie sind wirklich da gewesen: Die Kommunisten!
DUISBURGER DISKUSSIONEN&PROTOKOLLE
Zum zweiten Zentrum der Filmwoche, den Gesprächen, die manchmal länger sind als die Filme selber. Man ist zurückgekehrt, über den Flur, in den gegenüberliegenden Raum, auf der Bühne: Zwei Stühle, ein kleiner, niedriger Tisch. Es ist offener und freundlicher, als mit diesem relativ massiven Tisch, der sonst immer auf der Bühne stand. Die Protokolle der Gespräche sind hier nachzulesen. Weiterhin versuchen sie, einen Eindruck der Situation und der Stimmung zu geben, allerdings erscheinen sie mir kürzer und allgemeiner als in den letzten Jahren. Dort waren sie doch kleinteiliger, aber auch ausführlicher, vielleicht auch protokollartiger, was mir besser gefallen hat.
Die Liebe zur Schrift und die Treue zu Personen zeichnete Duisburg schon immer aus, dieses Jahr gab es eine sehr schöne Lesung mit Film- und Tonausschnitten
in Kooperation mit dem Harun Farocki Institut, gelesen wurden Texte, die zwischen 1964 und 2014 geschrieben wurden, und die im letzten Jahr in sechs Bänden veröffentlicht wurden.
Zum Schluss noch ein paar Fäden, neben dem Fiktionalen, immer auch Arbeit, auch ein großes »Farocki«-Thema, z.B. in Patterns Against Workers, La Empresa oder auch in Vista Mare von Julia Gutweniger und Florian Kofler (Publikumspreis der Rheinischen Post), der hinter die Oberfläche des Massen-Tourismus an der italienischen Adria-Küste blickt oder in MâNA CARE TAIE von Alexandra Tatar, in dem sich Mutter und Tochter auf Weinlese in Österreich ein Zimmer und ein großes Bett teilen und die Tochter die Feldarbeit mit der künstlerischen Arbeit kombiniert. Tatar verändert Fotos, arbeitet mit Material, wie auch Martin Paret in Operation Namibia (»Carte blanche«, Nachwuchspreis des Landes NRW), der seinen Film aus Archiv-Fotos, -Texten und –Filmen zusammenstellt. Er verfolgt die Aktion einer Gruppe internationaler Aktivist*innen ab 1976 nach, an der sein Onkel beteiligt war und die, zumindest bis zu einem bestimmten Moment, gut dokumentiert ist. Die Gruppe macht sich mit einem Segelboot auf die Reise nach Namibia, um tausende verbotene Bücher dorthin zu bringen. Das Boot ist ein Symbol, doch die Reise zieht sich, vier Monate, ein Jahr, drei Jahre? Wann gibt man auf. Dürfen Symbole überhaupt an realen Umständen scheitern? Die Stimmung kippt, aber Love&Peace wird sich in den immer müderen und bittereren Briefen weiterhin gewünscht. Viele Diskussionen aus den Briefen kennt man aus dem Heute und man könnte sie in dem Boot führen, das mittlerweile als Restaurant an der Küste von Südamerika liegt. Auch Die Richtige Haltung von Ole Steinberg und Jonas Hermanns dreht sich um die Arbeit mit Archivmaterial. Ausgehend von den Buckelbergwerken, Miniaturmodellen des Bergbaus, gehen sie der Geschichte des Bergbaus im Erzgebirge nach, in dem auch der Buckel selber immer wieder zu Wort kommt. Das Thema Landschaft, an sich schon ein Gewebe, besonders wenn man es von oben sieht, zieht sich u.a. durch Daniel Kötters LANDSHAFT, zu Nikolaus Geyrhalters Stillstand zu Corona-Zeiten, Background von Khaled Abdulwahed und wieder zu Zimmerwald und Patterns Against Workers. Zu dem Thema gab es auch eine Diskussion: »Wem gehört die Landschaft, wem ihr Bild?« mit Daniel Kötter und Lukas Marxt, die man hier nachsehen kann.
So funktioniert jeder Film für sich allein, aber auch das Festival als organisches Gewebe, mit Chaos und System. Ein Festival als Werk. In meinem Kopf ist es zu einem dichten Teppich geworden, denn nicht nur technische Geräte erkennen Muster, sondern auch Menschen.