Kritiken-Kaleidoskop |
Hier gibt’s Punkte-Bewertungen auf einen Blick!
All My Scars Vanish in the Wind | Programm 3
R: Angélica Restrepo Guzmán, Carlos Velandia | Hochschule für Film und Fernsehen der Nationalen Universität von Kolumbien
Fast wie Schneetreiben muten die animierten Bilder dieses Films an, rücken ihn die Nähe eines Kunstfilms. Ein schwarzer Hintergrund, keine Tiefe. Die gerade so erkennbaren Objekte nur angedeutet durch Massen an roten Punkten, Partikel, die die gezeigte Welt nur (alb)traumartig erahnen lassen. Jeder neue Horror dieser Lebensgeschichte, den die stummen Untertitel erzählen, sind begleitet von einem bedrohlich wirkenden Klangteppich. Durchbrochen werden sie nur von
einzelnen, mehrfarbigen Sequenzen die durch Geräusche und Formen eine idyllische Natur imitieren.
Keines der Bilder steht still, sie sind flüchtig wie Erinnerungen, aber dennoch die Bausteine eines großen Ganzen: die Kulmination in der Figur einer Mutter, geprägt durch ihr Leben, die ihrem Kind die Freiheit verspricht. – Anna Schellkopf
Vergangenheit wird zur Gegenwart. Der Film thematisiert die Erfahrung des Erinnerns, traumatische sowie tröstende Gefühle, die durch den raffinierten Einsatz von Farben erkennbar werden. Mithilfe von spielend leuchtenden Partikeln vermittelt der animierte Kurzfilm eine narrative Kulisse wie in einem 3D-Space. Das visuelle Experiment zeigt Formen und Orte, die an ein Gefühl aus einer Erinnerung gebunden sind und mithilfe eines Geräusch-Ambientes ein einzigartiges audiovisuelles Erlebnis projizieren. Das 'erkennende Sehen' der Zuschauenden wird auf die Probe gestellt, da die Momentaufnahmen vergänglich und ständig in Bewegung sind. Man wird Teil eines aktiven Prozesses des Erinnerns und kehrt an Orte zurück, die nur in der Erinnerung einer Mutter fortbestehen. Eine seltene Erfahrung, lohnenswert! – Ellen Trautwein
Allégresse | Programm 6
R: Gillie Cinneri | Institut des Arts de Diffusion (IAD)
Eine Komödie der kleinen Abseitigkeiten. Die kriselnde Beziehung zwischen einem unbeholfenen Vater und seiner betont patenten achtjährigen Tochter steht im Zentrum dieses Films. Er verliert sich etwas in den vielzähligen, aber selten konsequent ausgenutzten, humoristischen Techniken, die hier zusammenkommen und dabei eine Fragmentsammlung von Lachern auslösen. Frei nach dem Konzept: Da wird schon für jede*n was dabei sein. Passend dazu offenbart sich das zentrale komische Element als das sanft Skurrile, was sich bemüht verträglich nie in Bereiche der Angreifbarkeit wagt. Nur widerwillig ergibt sich Allégresse dem Kurzfilmformat und scheint vielmehr wie eine langgeratene Vorschau eines Featurefilms. So spielt sich diese seichte Typenkomödie in ein massenverträgliches Mittelfeld, in dem sie weder anecken noch begeistern kann. – Lee Redepenning
Cadáver | Programm 5
R: Benjamin Kodboel | National Film and Television School Dänemark
Sie sind bei der Überfahrt von Gibraltar nach Spanien ums Leben kommen. Der Dokumentarfilm begleitet Bestatter Martín bei seiner täglichen Arbeit, zeigt bildgewaltige und detailverliebte Aufnahmen, ohne Scheu vor starken Kontrasten in Licht- und Farbgebung oder davor, die gesamte Breite der Leinwand zu nutzen. Respektvoll kümmert sich der Familienvater um die Bestattung der Menschen und Benachrichtigung der Angehörigen. Und ebenso respektvoll beleuchtet Regisseur Benjamin Kodboel die Tragödien, die sich im Mittelmeer tagtäglich abspielen. Er erinnert daran, dass das Mittelmeer, das beliebte Ferienziel, auch die Seegrenze zu Europa bildet – und damit ein Massengrab von einst hoffnungsvollen, jungen Menschen. – Lilith Pape
Devil | Programm 4
R: Jan Bujnowski | The Polish National Film, Television and Theatre School in Łódź
Ein Teufel geht um im Polen der 90er Jahre. Naja, eigentlich handelt es sich um einen Mann in kitschiger Verkleidung, der arglosen alten Leuten herrlich selbstgemachte Weihwasserbrunnen und ähnliche pseudoreligiöse Mittel gegen Dämonen und böse Geister andrehen will. Doch wie seine Hörner, ist auch die Conman-Attitüde eine Verkleidung, der »Teufel« wirkt einfühlsam und im besten Sinne menschlich. Betont nostalgisch gehalten, weckt Devil Assoziationen an alte Horrorfilme: Die warmen Farben und das Flackern des 16mm Films generieren eine unwirkliche Camp-Ästhetik, die aber zugleich einen träumerisch-positiven Charakter entwickelt. Der Film oszilliert rapide und leichtfüßig zwischen Komik und einer Melancholie, in der Einsamkeit und die Frage nach Existenzsicherung in einem frisch post-sowjetischen Land mitschwingt. – Lee Redepenning
Father.Son | Programm 7
Regisseur: Jakub Gomółka | Polish National Film School in Łódź
Show the bright side. Der polnische Dokumentarfilm zeigt auf einzigartige Weise das Wiedersehen von Mariusz und seinem erwachsenen Sohn. Beide waren im Knast und versuchen, sich wieder im Alltag zurechtzufinden. Drogensucht, Hoffnungslosigkeit und der Ausschluss aus der Gesellschaft bestimmen ihr Leben nach dem Gefängnis. Der Film thematisiert eindrucksvoll die fehlende Perspektive von verurteilten Straftätern und schafft es, dabei eine gefühlvolle Vater-Sohn-Beziehung zu erzählen. Er richtet den Blick auf die Lebenswelt der beiden Straftäter, dadurch stehen ihre Gefühle und Erfahrungen im Zentrum der Aufmerksamkeit, ohne jedoch die Straftaten zu verharmlosen. Die außergewöhnliche emotional offene Beziehung zwischen Vater und Sohn prägt die Doku und gibt einen neuen Blick auf das Leben nach dem Gefängnis. – Jakob Gerstmayr
The Fuse | Programm 10
R: Kevin Haefelin | Columbia University
Wenn aufgeben doch nur so einfach wäre. Müllmann Cassius hätte seinem Leben nach seiner unverhofften Entlassung am liebsten kurzerhand ein Ende gesetzt. In einer heruntergekommenen Wohnung zu sterben, in der er ohne Einkommen nicht bleiben kann, scheint ihm jedoch so leicht nicht vergönnt. Im finsteren Setting der nächtlichen New Yorker Bronx eröffnet die düstere Tragik in kurzweiligen 18 Minuten sukzessive eine komödiantische Ebene. Der Plot kommt dabei völlig ohne Kitsch aus und der Protagonist, ohne sich an mehr als einer Handvoll einsilbiger Wörter zu bedienen. Denn die kontrastreiche Bildgewalt und sein ausdrucksloser Blick, der Cassius keineswegs an Eindruck verlieren lässt, sprechen für sich. – Anne Krones
Kinship | Programm 10
R: Orin Kadoori | Tel Aviv
Zwischen zwei Köpern schwindet mit der Einführung einer dritten Person die Hoffnung, dass der Kurzfilm von einem porträtierten Paar handelt – statt von inzestuöser Intimität. Die Perspektive auf Vater und Tochter ist schonungslos, provoziert voyeuristisches Unbehagen. Auch wenn der familiäre Bann zwischen dem Vater und seinem adoleszenten Kind niemals explizit gebrochen wird: das transgressive Spiel hält an und ebenso die Abscheu beim Betrachten. – Kinship löst eine ganze Menge aus. Doch auch wenn die Kameraarbeit pointiert ist, und durchaus für Begeisterung sorgt, überwiegt doch die Verärgerung über schamlos ausgeschlachtete Grenzen. – Anne Krones
Mud Crab | Programm 2
R: David Robinson-Smith | Australian Film Television and Radio School
Düster und bedrohlich vermittelt Mud Crab mehr eine Impression als eine Geschichte. Aus dem Off berichtet eine Erzählerin von ihrer Beobachtung eines jungen Mannes, während die Kamera ihn förmlich seziert. Mit ihren Augen sehen wir ihn, den sehnigen, durchtrainierten Oberkörper entblößt, mehr Fleisch als Person. Wir werden – ohne je einen Faustschlag zu sehen – Zeug*innen und Mittäter*innen der Gewalt, die an ihm verübt wird. In ständiger Begleitung von drückender Streichmusik, die zwischen Assoziationen von kunstvollem Horror und Trance changiert, entsteht eine soghafte, verstörende Atmosphäre. David Robinson-Smith konstruiert in 12 Minuten ein Portrait eines Leidenden, das wie ein Gemälde keine Geheimnisse preisgibt, den Blick bannt und lange im Gedächtnis bleibt. – Lee Redepenning
The Night Practice | Programm 5
R: Bogdan Alecsandru | Universitatea Națională de Artă Teatrală și Cinematografică »I.L. Caragiale« (UNATC)
Ein Spiel mit Erwartungen. Anfangs wirkt der Film fast ein wenig platt, erinnert an queeres Jugend-Kino, das in poetischer Langsamkeit die Begegnung zweier Jungen bei einem vor toxischer Maskulinität strotzenden Fußballtraining erzählt. Die beiden umkreisen einander zaghaft, elegisch, immer an der Grenze zum Streit. Als der Protagonist den Kuss des mysteriösen Neuzugangs in einen Vampirbiss transformiert, wirkt der Twist doppelt: Neben der Überraschung über den Genresprung, erstaunt besonders, wer hier als das Monster gezeichnet wird. Statt einer gängigen Lesart des Vampirs, dessen Homosexualität die heteronormative Ordnung angreift, gelingt in der Umkehrung der Rollenzuweisung ein zeitgemäßer Kommentar zu der Monstrosität internalisierter Homophobie. – Lee Redepenning
Phalène | Programm 7
R: Sarah-Anaïs Desbenoit | ENS d’arts Paris-Cergy
Auf der Suche nach Nähe und Distanz. Wie zwei Nachtfalter – so die Übersetzung des titelgebenden französischen »Phalène« – wandern die beiden Zwillingsschwestern durch ihre eigene Geschichte. Dabei erscheint diese nicht an die Zeit gebunden, es entfaltet sich eine fast bedrückenden Ruhe. Diese wird nur untermalt von den Geräuschen der Natur, die einen Rhythmus vorzugeben scheint. Die Schwestern bewegen sich beinahe synchron, in tiefer Verbundenheit. Bald jedoch zerbricht etwas zwischen den ihnen. Ob Traum oder Realität: dies bleibt verborgen. Ein magischer Kurzfilm, in dem die Bilder ihren ganz eigenen Zauber erhalten. – Clara Mittlmeier
Of Kisses and Capes | Programm 8
R: Eléna Weiss | Hamburg Media School
Eine ganz normale Beziehung. Das sucht die Protagonistin Isi in ihrer Partnerschaft mit Finn. In diesem packenden Kurzfilm über Intimität und Sexualität zwischen Menschen mit körperlicher Behinderung wird ein authentischer Blick auf die Unsicherheiten und Zweifel in Intimsituationen geworfen. Isi führt mit Finn eine glückliche Beziehung, es fehlt nur eins zu einem »normalen« Liebesverhältnis: Sex. Der Film zeigt auf eine nahbare Weise die Angst vor Intimität und rückt ein Tabuthema in den Fokus. Mit allerlei popkulturellen Anspielungen passt dieser Film genau in den Zeitgeist und schafft es, mit seiner witzigen, aber dennoch ernsten Art, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Dazu kommt ein herausragender Cast um Leonard Grobien und Florentine Schlecht, der dem Film glaubwürdig Leben einhaucht. – Jakob Gerstmayr
Poisoned Well | Programm 1
R: Radek Ševčík | Academy of Performing Arts in Bratislava
Eindringlich und vollständig in schwarz-weiß zeigt der Dokumentarfilm die Folgen eines tödlichen Attentats auf drei queere Menschen vor einem slowakischen Nachtclub. Es wäre ein Leichtes gewesen, nur die Täter zu thematisieren. Die Bilder von Protesten, Solidarität und des Selbstverteidigungskurses fokussieren aber viel mehr die Stärke und Resilienz einer Gruppe von Menschen, die noch immer für ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft kämpfen muss – und vermittelt dennoch gnadenlos die Ausmaße der Bedrohung, der sie ausgesetzt sind. In vierzehn Minuten entwickelt der Film durch die harte, unbeschönigte Darstellung der Gewalt und der Tiefe des Hasses gegen LGBTQ+- Personen eine starke emotionale Wirkung, die noch lange nachhallt. – Anna Schellkopf
Superdupermegagigasingle | Programm 1
R: Håkon Anton Olavsen | Norwegische Filmschule (Den norske filmskolen)
Après-Ski im Fellkostüm. Der Kurzfilm entfaltet eine humorvolle, und dennoch nachdenklich stimmende Geschichte über die Herausforderungen der modernen Liebe. Er folgt Vebjørn, einem jungen Mann, der als Ski-Maskottchen tätig ist. Die zufällige Begegnung mit einer jungen Frau führt ihn in ungewohnte emotionale Tiefen. Hier zeigt der Film seine Stärke: Er balanciert zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, ohne dabei ins Klischeehafte abzudriften. Die Entwicklung von Vebjørns Charakter und sein Ringen mit der eigenen Unsicherheit bieten einen fesselnden Einblick in seine Psyche. Der Film versteht es, auf einzigartige Weise mit seiner humoristischen, fast schon lächerlichen Art auf aktuelle Probleme hinzuweisen. Alkoholismus und unerfüllte Sexualität in Beziehungen werden en passant miterzählt und machen den Film absolut sehenswert. – Jakob Gerstmayr
Im fröhlichen superduper Eisbärkostüm in Diensten einer Kinderskischule (ver)steckt (sich) ein megagiga-trauriger norwegischer Skilehrer (Martin Marki) mit Clownqualitäten. Als Maskottchen braucht und darf er nicht reden. Gut: Das macht seinen Charme aus, aber es isoliert ihn auch, schützt vor Nähe. Der Abschlussfilm des jungen Norwegers Håkon Anton Olavson hält die Schwebe zwischen dem Bewusstsein der Leere und Beliebigkeit aller plappernden Näherungsversuche und der Sehnsucht nach Öffnung. Dazu muss man sich trauen (auf Aufforderung einer begehrten Frau), das Allerpeinlichste in Worte zu fassen: ich bin fast dreißig und habe noch nie mit einer Frau geschlafen, oder auch wortlos: ich häng mich auf, ich jag mir eine Kugel durch den Kopf, es sei denn du lässt dich von meiner pantomimisch geworfenen Angel aus dem kalten Meer auf meine Eisbärenscholle ziehen. – Martin Wagner
Ein singendes und tanzendes Bärenmaskottchen. So beginnt der norwegische Kurzfilm, der das Filmschoolfest eröffnet und sichert sich mit seinem lustigen Einstieg sogleich die Aufmerksamkeit des Publikums. Im Laufe des Films lernen die Zuschauer den Protagonisten besser kennen, der als Maskottchen eines Skiresorts arbeitet und der sozial etwas ungeschickt ist und daher auch noch nie eine Freundin hatte. Als er dann jedoch auf der Skipiste mit einer jungen Frau zusammenstößt, könnte sich das für ihn ändern. Der Film nimmt die Zuschauer mit auf die gefühlvolle Reise eines jungen Mannes, der sich seinen Unsicherheiten stellen muss, als eine junge Liebe zu knospen beginnt. Durch charmante und humorvolle Szenen und Figuren kann der Film überzeugen und dem Publikum immer wieder einen Lacher entlocken. – Marion Biendl
Einsam sein, wo andere Urlaub machen. Das ist das Schicksal von Vebjørn, der als Skipistenmaskottchen seine späten 20er bestreitet. Er ist verklemmt, tollpatschig und chronisch vereinsamt, unterstrichen durch seine fusselige Eisbären-Arbeitskleidung, die ihn visuell isoliert und als etwas kindlich-rückständig zeichnet. Nach dem Zusammenstoß mit der hübschen und charmanten – aber sonst mit wenig charakterlicher Tiefe gesegneten – Polina, entfaltet sich diese Romcom brav nach Schema F. In Aufbau und Gestaltung lassen sich altbewährte Muster erkennen, die von angenehmer Musik und einem auffällig evokativen Lichtdesign bis zur leicht antiquiert anmutenden Darstellung der weiblichen Hauptfigur reichen. Ein diskursiver Blick auf das Stigma des Single-Seins und der Existenz an Transitorten bleibt dabei leider nur ein B-Plot. – Lee Redepenning
Taste of Home | Programm 5
R: Âni Võ | HFF München
Die eigene Freiheit oder die der Familie: Vor diese schwierige Wahl wird die vietnamesische Protagonistin gestellt. Wir erleben das harte Schicksal einer jungen Frau, die versucht, sich aus den Fängen des Menschenhandels zu entwinden. Der Film gibt einen Einblick in die Ängste einer Betroffenen und schafft es, mit ihr zu hoffen, dass sie sich befreien kann. Dabei schließt sie Freundschaft mit dem kleinen Mädchen Linh, welches dem Film mit seiner Unschuld und Gutherzigkeit trotz des düsteren Themas eine gewisse Wärme verleiht. Diese rührende Verbindung zwischen den zwei jungen Frauen bildet das Herzstück des Films. Auch wenn das Ende nicht so kommt, wie man es sich wünschen würde, werden Gefühle der Sympathie und des Verständnisses für die jungen Vietnamesinnen erzeugt. – Marion Biendl
The Things to Come | Programm 3
R: Santiago Ráfales | Escuela Superior de Cine y Audiovisuales de Catalunya
Eine Gruppe von Kindern genießt das Ende des Sommers in der Abgeschiedenheit des katalanischen Inlands: Abzählverse bestimmen Zufalls-Paare, die sich hinter einem Baum küssen dürfen. Als es die Kinderfreunde Sara und Biel trifft, geht etwas kaputt: Die Unbeschwertheit, mit der sie sich im Haus der Eltern versteckten, sich gegenseitig schminkten und dabei filmten, ist weg. »Was ist passiert?« fragt sie ihn später angesichts einer Schramme am Knie. »Ich bin gefallen!« Sie bläst ihm sanft über die Haut. Santiago Ráfales' Kurzfilm bleibt konsequent in der Welt der beiden 10jährigen Protagonisten, die ihre Zuneigung auch über ihren Sündenfall hinter dem Baum der Erkenntnis hinaus retten. Die autobiographische Vignette endet mit einem Countdown, der im Versteckspiel des Lebens das Startsignal ist für die Suche nach dem/r Vermissten. – Martin Wagner
Through Gloom | Programm 1
R: Arnas Balčiūnas | Litauische Akademie für Musik und Theater
Warmes Gelb, goldene Lichter, der Hintergrund der Autoscheibe ein verwischtes Dunkel ohne erkennbare Details. Die Welt schrumpft auf den Innenraum eines Autos, besteht nur noch aus zwei Personen. Eine junge Frau, erschöpft von ihrem Leben, und ein alter Mann, unglücklich gefangen in seinem Job. – Die Situation ist untermalt mit phänomenaler Musik, die die Zusehenden in eine liminale Welt entführt und vollständig der bedrückenden, doch gleichzeitig sehr zarten Stimmung ausliefert. Der kammerspielartige Film mutet an wie eine Vater-Tochter-Geschichte, erfüllt sie aber doch nicht. Er bleibt auch mit seinem Ende in diesem zwiespältigen Raum, arbeitet nur mit der Andeutung des »Zugs nach Nirgendwo«, und lässt das Publikum nur ein schreckliches Ende ahnen, das gleichzeitig hofft, falsch zu liegen. – Anna Schellkopf
Today’s Sunlight Falls Weakly on You | Programm 6
R: Lim Yuzheng | Puttnam School of Film & Animation in Singapur
Dichter Dschungel, Regen und Nebelschwaden: Die stillen, ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Aufnahmen werden nur von einigen wenigen Aufnahmen einer Frau durchbrochen. Die Bilder wirken ein wenig, als würden sie außerhalb der Zeit existieren. Eine leise Stimme erzählt von Geistern und seltsamen Träumen, sie verschmilzt mit den assoziativen Bildern von einer bedrohten, verschwindenden Natur zu einer fast schon traumartigen Erfahrung.
Abwechselnd sehr weit
entfernte und sehr nahe Aufnahmen der Frau lassen sie fast wie einen Fremdkörper erscheinen, ein Element das gleichzeitig dazugehört, aber dennoch nicht ganz passt.
Einem Dokumentarfilm ähnlich und in der Machart eines Kunstfilms erschafft der Film ein tiefberührendes Erinnerungsstück über die Natur und den Fortschritt, der sie bedroht. – Anna Schellkopf
The Voice of Others | Programm 9
R: Fatima Kaci | La Fémis Paris
Es ist ein schmerzhafter Film, der es in Sekunden, in Blicken, in dem (Nicht-)Öffnen eines Fensters schafft, die Entmenschlichung, die an europäischen, hier französischen, Migrationsbehörden stattfindet, erfahrbar zu machen. Neben der Behandlung der Asylsuchenden als subhumane Aktenzeichen, wird auch die Protagonistin, eine Übersetzerin bei Abschiebungsverfahren, rein als ein neutrales »Gerät« behandelt. Eindrucksvolle Großaufnahmen kontrastieren die Emotionen in den Gesichtern der Anwesenden mit der entwürdigenden, gewaltvollen Kälte der Beamtinnen – stets junge, weiße Frauen, die schlussendlich die Entscheidungsgewalt über den Wert dieser Leben haben. In den empathischen Akten der tief bewegend gespielten Protagonistin zeigt sich die Zerrissenheit zwischen der Menschlichkeit des Individuums und dem Käfig der stählernen und brutalen Macht der Bürokratie. – Lee Redepenning
Eine Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München.