Cinema Moralia – Folge 308
Das Berlin-Problem der deutschen Kultur |
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Szene aus Pourquoi Israël von Claude Lanzmann | ||
(Foto: absolut MEDIEN) |
»The sad truth is that most evil is done by people who never make up their minds to be good or evil.« – Hannah Arendt
»Der Antisemitismus ist kein jüdisches Problem, er ist unser Problem.« – Jean-Paul Sartre, 1946
»Sie wissen, dass jeder nur verlieren kann« sagt ein Mitstreiter auf meine etwas ratlose Bemerkung, warum bestimmte Leute aus den Berliner Medienzusammenhängen und von der UdK den Aufruf deutscher Filmschaffender gegen Antisemitismus und Judenhass nicht unterschrieben haben. Das mag so sein.
Aber falls das stimmt, gilt: Wir müssen die Verhältnisse so verändern, dass man in Zukunft nur verlieren kann,
wenn man nicht unterschreibt.
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Weit über 1000 deutsche Filmschaffende haben bisher den hier veröffentlichten Aufruf zur Solidarität mit Jüdinnen und Juden in aller Welt und mit Israel unterschrieben. Wir danken sehr und freuen uns darüber. Aber genaugenommen sind 1100 keine große Zahl. Erschreckend wenig angesichts der Tatsache, dass das wichtigste Branchennetzwerk »Crew United« über 18.000 Mitglieder hat und über 35.000 Empfänger seiner Newsletter.
Erkennbar ist: Wir bekommen breite Zustimmung aus München, aus NRW, aus Hamburg, aus Frankfurt. Die Zustimmung aus Berlin hält sich dagegen vergleichsweise in Grenzen. Das deckt sich mit dem subjektiven Befund aus Nachrichten von Freunden, Bekannten, Ex-Freunden und Ex-Bekannten. Den Berlinern ist das Nicht-Bekennen, das schale sowohl-als-auch und das Verharren in den Diskursschleifen des Post-Kolonialismus und seiner Relativierungsdiskurse, der postmodernen Kontextualisierungen und der BDS-Sympathien unterschiedlicher Intensität wichtiger als das unmissverständliche Bekenntnis zum »Nie Wieder!«.
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So klärt der aktuelle Antisemitismus-Streit vieles; er macht eindeutig erkennbar, was bereits bei dem Antisemitismus-Skandal der »Documenta 15« unübersehbar war, und was jede zweite Veranstaltung im HKW oder »Sinema-Transtopia« sensible Besucher ebenfalls erkennen lässt: Berlin hat ein Problem. Berlin ist das Problem. Die deutsche Kulturszene leidet unter der einseitigen Ausrichtung der Berliner Kulturszene und ihrer Debatten in Richtung sogenannter »postkolonialer« Diskurse, also tatsächlich antiwestlicher, oft genug antidemokratischer und oft genug antisemitischer Ideologien.
Das lange Schweigen des deutschen Films in der Frage des Antisemitismus und der Terroranschläge in Israel am 7.Oktober ist ein sprechendes Symptom.
Es folgt daraus: Wir müssen die Berliner Kultur vom postkolonialen Denken befreien. Wir müssen die Berliner Kultur entkolonialisieren.
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Ein paar Beispiele für das Phänomen:
Die TAZ beschreibt wie repräsentative Vertreter der Berliner Kunst- und Kuratorenszene direkt nach dem 7. Oktober Sympathien für die Hamas äußerten und dies auch später nicht zurücknahmen.
Wie von der »Poetic Justice« der Hamas die Rede ist, und wie sich Vertreter dieser Terrorsympathien, wenn Kritik aufkommt, als Opfer einer »Hexenjagd« darstellen. Oder sie
sprechen wie Deborah Feldman, die Lieblingsjüdin der Israelfeinde, von Zensur und Redeverboten.
Der Spiegel beschreibt das dröhnende Schweigen und »die Angst, etwas falsch zu machen« in der Kulturszene. Der moralische Instinkt ist komplett verloren gegangen.
Aber wie die Autoren feststellen: »Diese Kopflosigkeit ist vor allem im Vergleich zu den Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bemerkenswert.«
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Ein paar Beispiele dafür, wie es auch geht:
PEN Berlin, im Oktober. Deniz Yücel begrüßt zur Lesung von Adania Shibli: »Als PEN Berlin teilen wir auch nicht die Ansicht, dass palästinensische Stimmen in Deutschland nicht gehört würden und sich niemand für das Leid der Palästinenser interessieren würde.
Tatsächlich sind palästinensische Stimmen seit dem 7. Oktober auf der Straße: Oft –
ich erinnere an die Süßigkeiten, die am Tag des Angriffs verteilt wurden – auf unerträgliche Weise; immer radikal, unversöhnlich.«
Was fehlt, ist etwas anderes: Was fehlt, sind palästinische Stimmen – Intellektuelle, Künstler, Aktivisten – die die auf die Ereignisse in Israel und Palästina natürlich einen anderen Blick haben als, sagen wir, das Feuilleton der taz oder die Meinungsseite der FAZ, die aber ihre Stimme erheben. Für eine friedliche Ko-Existenz von Israelis und Palästinensern, für Mäßigung und Austausch, gegen Hass und Gewalt. Die die Wortführerschaft nicht den, ob religiösen oder säkularen Radikalen auf der Straße überlassen. Es fehlt nicht der Satz 'Wir distanzieren uns'; es fehlt der Satz 'Wir haben ein Problem'.
PEN Berlin, im November. Deniz Yücel hält eine Rede auf der Hamburger Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, in der er unmissverständlich klarmacht, dass Israelhass und Antisemitismus nicht zu trennen sind.
Yücel, der Einwandererdeutsche, benennt unverblümt, was viele »Biodeutsche« nicht hören oder anerkennen wollen: »die verstörenden Reaktionen auf den Massenmord der Hamas vom 7. Oktober sowie die Halb- und Nicht- und Ja-Aber-Reaktionen aus Teilen der Einwanderercommunitys haben vor Augen geführt, dass es hier noch Klärungsbedarf gibt.«
Und weiter, über die Araber und Muslims, mit oder ohne deutschen Pass: »Nicht, weil ihnen das jemand abverlangt, sondern aus eigenem Interesse sollten die palästinensischen und arabischen Einwanderer die Wortführerschaft nicht länger den Radikalen auf der Straße überlassen. Und als Ideal formuliert: Nicht, weil sie es als Ausländer müssen, sondern weil sie es als Inländer und Bindestrich-Deutsche wollen, werden sie jede Form des Antisemitismus verurteilen – auch den, der sich als vermeintliche Kritik an Israel tarnt.«
Aber auch: »es war meines Erachtens auch kein Zufall, dass diejenigen deutschen Politiker, die nach dem 7. Oktober mit die deutlichsten Worte fanden, Özdemir, Nouripour oder Bayaz hießen.«
Es gibt, was Yücel auch sagt: »keinen Bekenntniszwang. Mitsingen und mitbeten und mitmarschieren muss man nur in autoritären und erst recht in totalitären Regimen, aber nicht in einer offenen Gesellschaft. Zum Recht auf Meinungsfreiheit gehört auch das Recht, zu schweigen.«
Aber ich darf mir wünschen, dass die Menschen, die sich so gern bei jedem Scheiß bekennen, und die immer gegen jedes tatsächliche Unrecht eintreten, also gegen fast jedes Unrecht, dass sie auch ihrem Bekenntnisreflex nachgeben würden, anstatt ihn sorgfältig einzuhegen, aus Angst, aus Unsicherheit...
Der schlechte Witz der Situation ist ja der, dass wenn es woanders in der Welt rassistische, homophobe, frauenverachtende Terrorakte gegeben hätte, wenn nicht Juden die Opfer gewesen wären, sondern Frauen im Iran oder Kurdinnen, oder Musliminnen in Deutschland, und nicht Araber die Täter, sondern zum Beispiel Chinesen oder Russen, dass dann das linke und liberale Deutschland Kopf gestanden hätte, dass es zu Demonstrationen und Solidaritätsaktionen gekommen wäre. Und falls jemand mit den Tätern Solidarität geäußert hätte, wären die Verantwortlichen ruckzuck weg vom Fenster gewesen.
Nun ging es aber um Antisemitismus. Der wird öffentlich ganz anders bearbeitet. Bei Aiwanger genauso wie bei den Berliner Linken, und bei Künstlern aus dem »Globalen Süden«. Er wird geleugnet, relativiert und als unberechtigter Vorwurf behandelt.
Pech für die Opfer.
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Geben wir Lars Henrik Gass ein bisschen Raum, dem Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, dessen Raum gerade beschränkt und verunsichert wird, seit er von einem digitalen Mob von über tausend Filmemachern und Filmkuratoren in Unterstützung einer von anonymen Verfassern in die Welt gesetzten Erklärung mit Cancelphantasien und Boykottaufrufen überzogen wird, weil er einen Demonstrationsaufruf des Zentralrats der Juden geteilt hat, in dem sich eine Formulierung findet, die manche in böswillig-einseitiger Lesart als »rassistisch« charakterisieren – und damit bewusst oder aus Naivität vom eigentlichen Thema ablenken und der Forderung, die sie sich weigern zu erfüllen: Solidarität mit Israel und mit angegriffenen Juden zu zeigen – ohne Einschränkungsfloskeln, ohne Wenn und Aber.
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In einem Interview mit der Welt spricht Gass gut begründet über dieses vergiftete Denken in Teilen ehemaliger Linker, über das Phantasma des Globalen Südens und über Einschüchterungskampagnen:
»Das ist ein Stellvertreterkrieg, der hier geführt wird und der auf die Meinungshoheit im Kultur-
und Wissenschaftsbetrieb abzielt. Dieser Anspruch begründet sich auf der Identitätspolitik des Globalen Südens. Im Kern dieser Theorie ist Israel der Urfeind, eine perverse Projektion. ...
Das große Projekt dieser Szene – ich nenne es bewusst Szene – besteht darin, den Globalen Süden im Mainstream des Kunst- und Wissenschaftsbetriebs zu verankern. ...
Ich halte es für schädlich, wenn Leute, die sich schon im Vorfeld als Unterstützer oder gar Aktivisten von BDS
und so weiter zu erkennen gegeben haben, weiter großen Einfluss auf die Gestaltung solcher Veranstaltungen haben. Es gibt einen Beschluss des Bundestages und einen des Landtages NRW, auf deren Grundlage wir arbeiten. Dadurch sind wir gehalten, solchen Leuten kein Forum zu bieten. Und da geht es nicht um Gegen-Canceln, sondern darum, überhaupt die Grundlage dafür zu schaffen, dass wir für die Zivilgesellschaft unsere Arbeit leisten können. Denn was mit den rabiaten Aktionen verhindert
werden soll, ist ja gerade, dass wir diese Arbeit der offenen Gesellschaft leisten können. ...
Auf einer anderen Ebene werden wir nicht darum herumkommen, auch im Wissenschaftsbetrieb, wo das Ganze herkommt, einen Paradigmenwechsel zu befördern. Caroline Fourest erzählt in ihrem Buch ›Generation beleidigt*g die Geschichte dieser Denkrichtung. Mit Nancy Fraser, Etienne Balibar oder Judith Butler hat sich deren Avantgarde gerade mit der palästinensischen Seite
solidarisiert und von‹ Genozid*g gesprochen. Anhänger davon haben auch in deutschen Institutionen hohe Positionen inne.«
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»Es gibt kein Deutschland ohne Auschwitz – auch kein Multikulti-Deutschland, kein weltoffenes, liberales, klimaneutrales und erst recht kein selbstbewusstes Deutschland, kein anderes, neues, besseres Deutschland. Gar keins.«
– Deniz Yücel
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Das gute Gewissen der Deutschen, der, sagen wir es offen Urenkel und Enkel der SS, der Einsatzgruppen, der ganzen Nazis, des Wachpersonals in den Vernichtungslagern, dieses gute Gewissen äußert sich heute gern daran, dass man jetzt Solidarität mit »den Palästinensern« zeigt, das heißt mit einem Volk, das in seinen einzigen offiziellen Stimmen von der Vernichtung des Staates Israel faselt.
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Zu spät. Zu wenig. Zu wenige. Es bleibt die Feststellung: die Filmszene in Deutschland wie in der Welt hat versagt. Sie hat versagt, wie der größte Teil der Kulturszene. Sie hat auf die Herausforderung des Hamas-Terrors bestenfalls halbherzig geantwortet und mit Schutzreflexen in die falsche Richtung: Schutzreflexen, die die Täter und ihr Umfeld geschützt haben, nicht die realen und potentiellen Opfer.
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Etwas anderes fällt noch auf. Wir zitieren aus dem Schreiben einer Person, die den Offenen Brief unterzeichnet hat: »Angesichts der immer wieder gebetsmühlenartig eingeforderten und praktizierten multi-kulturellen Diversität bei Beschäftigungen in der deutschen Filmbranche ist es schon erstaunlich, dass sich unter den Namen der mittlerweile über 900 (!) Filmschaffenden, die den offenen Brief unterzeichnet haben, nicht einmal eine Handvoll sind, deren Namen auf einen
türkisch, arabischen Migrationshintergrund schließen lassen.
Fällt das eigentlich irgendjemandem auf ?
Soll/darf man das thematisieren oder ist das schon wieder politisch unkorrekt?
Ich persönlich finde das einfach nur erschütternd.«
Natürlich darf man das thematisieren, und natürlich werden es manche Leser unangemessen finden, überhaupt so zu fragen, wie in der Mail gefragt wird.
Wir finden: es ist notwendig, solche unangenehmen Fragen zu stellen.
Aber wie lautet die Antwort? Warum sind Filmschaffende mit Migrationshintergrund aus Vorderasien so auffallend oft unfähig oder unwillig zu klaren Bekenntnissen gegen Antisemitismus? Und was folgt daraus, falls diese Vermutung stimmt?
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Gespräch mit dem Filmstudenten an einer deutschen Filmhochschule. Auf die Frage, warum er den Offenen Brief nicht unterschrieben habe, obwohl er ihn doch gut findet, kommt die Antwort: »Ich habe Angst zu unterschreiben, weil ich die Debatten scheue, die ich dann mit meinen Kollegen aus dem Libanon und anderen arabischen Ländern führen muss.« Ich frage ihn, ob er denn die Debatten mit den jüdischen Kollegen nicht scheue. Er wüsste von niemanden, sagt er. Darauf dann noch meine Anmerkung, er solle sich doch überlegen, dass es auch ganz sicher sogar einige arabische und libanesische Kollegen gibt, die total dankbar wären, wenn er diesen Aufruf unterschreiben und sich damit gegen die verkappten Hamas-Unterstützer und eine bestimmte fehlgeleitete Form des propalästinensischen Aktivismus wenden würde. Außerdem sei es jetzt wichtig, Flagge zu zeigen.
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Ich spreche von Juden und sie wechseln das Thema und sprechen von Palästinensern. Wir können aber diese zwei Themen nicht immer miteinander vermischen; wir können nicht immer sagen, wenn von Juden die Rede ist: Ja, aber. Die Palästinenser.
Diese ja aber ist toxisch. Es gibt toxische Diskurse, und zu diesen toxischen Diskursen gehört dieser sehr sehr allgemeine, viel zu allgemeine Diskurs, der schrecklichen Vereinfacher, die von Postkolonialismus reden.
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Die deutsche Kultur hat ein Berlin-Problem. Es liegt darin, dass sich in Berlin eine sehr spezielle und mächtige Blase gebildet hat, die sich zwar für wahnsinnig progressiv und weltoffen hält, in Wahrheit aber zutiefst provinziell und borniert ist, und reaktionär. Die in einzelnen Fällen von faschistoidem Gedankengut geprägt ist. Von Intoleranz und Machtphantasien, von Identifikation mit dem, was man selbst vor 1945 mal gewesen ist: Dem Aggressor, dem Judenmörder, dem Weltfeind.
Die Morde an Israelis und die Ablenkungsdiskurse der antiwestlichen Terrorrelativierer- und Verteidiger machen gerade etwas in seltener Klarheit sichtbar. Wir können erkennen, wie die Feinde des Westens und der Freiheit, die Feinde der Offenen Gesellschaft stehen.
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Der Postkolonialismus ist die Kolonisierung des europäischen Geistes durch US-amerikanischen Ungeist. Wenn wir sagen, wir müssen die Berliner Kultur vom postkolonialen Denken befreien und entkolonialisieren, dann bedeutet es, diesen Diskursen, dort wo sie Macht haben, vor allem im Kulturfunktionärsbetrieb und Wissenschaftsmilieu der Hauptstadt, die kulturelle Hegemonie grundsätzlich streitig zu machen.