23.11.2023

Keineswegs im Rentenalter

Rosa and the stone troll
Karla Holmbäcks Rosa And The Stone Troll: Liebevoll und originell
(Foto: 65. Nordische Filmtage Lübeck)

Die »Young Audience« der 65. Nordischen Filmtage in Lübeck überzeugte dieses Jahr mit dem Schwerpunkt Geschlechteridentität und der Suche nach dem richtigen Platz im Leben

Von Christel Strobel

In die altehr­wür­dige und sehens­werte Hanse­stadt Lübeck kommen alljähr­lich Anfang November Cineasten und Film­in­ter­es­sierte aus ganz Deutsch­land sowie aus den skan­di­na­vi­schen und seit der Öffnung auch aus den balti­schen Staaten zu den Nordi­schen Filmtagen, die in diesem Jahr vom 1. -5. November 2023 zum 65. Mal stattfand. Das veran­lasste Thomas Hailer, seit 2020 künst­le­ri­scher Leiter, nicht nur zu betonen, dass damit noch keines­wegs das »Renten­alter« des Festivals erreicht sei, sondern auch auf die Frage einzu­gehen, was denn nun den »nordi­schen Film« ausmacht, wovon Jahr für Jahr heraus­ra­gende Beispiele zu sehen sind:
»… Es geht immer ums große Ganze. Die nordi­schen Filme­ma­cher sind mutiger als andere – und das müssen sie auch sein, wenn sie als kleine Nationen auf dem Markt bestehen wollen. Sie müssen eine eigene Hand­schrift entwi­ckeln. Die nordi­schen Filme inter­es­sieren sich für das Leben in seiner Tragik, in seinen Wider­sprüchen. Sie weichen den großen Fragen nicht aus: Wer bin ich? Woher komme ich? Was soll das Ganze? Auch wenn sie die Antworten nicht haben – die Leute kommen, auch wenn sie sich schon ein Vier­tel­jahr vor den Nordi­schen Filmtagen unter­halten, wie düster und aufwüh­lend die Filme wohl sein werden…«

Unter dem Label »Young Audience« wurden aber auch zehn Langfilme und vier Kurz­film­pro­gramme für ein junges Publikum vorge­stellt. Die Frage der Geschlech­ter­iden­tität und die Suche nach dem richtigen Platz im Leben war hier in diesem Jahrgang ein Schwer­punkt.

In der dänischen Lang­zeit­do­ku­men­ta­tion It’S Always Been Me begleitet die Regis­seurin Julie Bezerra Madsen die beiden Jungen Max und Bastian – beide zwischen Kindheit und Jugend. Doch für sie ist es nicht nur eine Zeit des allge­meinen Umbruchs, sondern sie stellen sich auch die Frage nach ihrem Geschlecht, denn beide iden­ti­fi­zieren sich nicht damit. Trotz der Unter­s­tüt­zung ihrer Familien, Freunde und Freun­dinnen ist ihr Weg steinig und sie erleben auch Anfein­dungen. Julie Bezerra Madsen ist ein respekt­volles Porträt dieser beiden Jungen gelungen, die offen über die Erfah­rungen auf »einer komplexen Reise zu sich selbst« reflek­tieren.

Die Regis­seurin Malene Choi hat in ihrem von eigenen Erleb­nissen geprägten Film The Quiet Migration (Dänemark 2023,102 Min.) auf den ersten Blick ein fast idyl­li­sches Bild vom Landleben erschaffen. Carl, der Adop­tiv­sohn südko­rea­ni­scher Herkunft, ist nach seiner Inter­nats­zeit auf den elter­li­chen Hof zurück­ge­kehrt, den er mal über­nehmen soll, davon gehen die Eltern aus. Doch die ersten Bilder täuschen auch, denn die Leute, die dort arbeiten, vermit­teln Carl, dass er anders, ein »Fremdling« ist. Trotz so mancher unfrei­willig komischen Szenen ist es ein trauriger Film, der auf leise Weise umso deut­li­cher das Fremdsein zeigt.

Der Beitrag aus Lettland Neon Spring / Neona Pavasatis (Lettland 2022, Matiss Kaza) zeigt eine kalte Welt, in der Laine (»kleine Welle«) einer großen Welle an Problemen ausge­setzt ist. Das beginnt mit der plötz­li­chen Trennung der Eltern, so dass Laine sich um ihren kleinen Bruder kümmern muss, ihr Studium vernach­läs­sigt und schließ­lich an allem – und sich selbst – zweifelt. Sie taucht in die Rave­kultur der letti­schen Haupt­stadt Riga ein, mit Drogen und Partys – und einer unge­wissen Zukunft. Ein harter, wohl auch ein realis­ti­scher Film aus einer düsteren Welt, der in Lübeck ab 16 J. im Programm war.

In Kopen­hagen gibt es mit dem Joan­nahuset (Dänemark 2023, 71 Min.) die einzige Einrich­tung in Dänemark, die Kindern und Jugend­li­chen in Not eine Zuflucht bietet. In ihrem Film Brave­he­arts / De Umyndige hat sich die Regis­seurin Mette Konsgaard viel Zeit für Gespräche mit den jungen »Bewohnern auf Zeit« genommen. Wenn sie keinen anderen Ort haben, an dem sie sich geschützt fühlen, können sie im Joan­nahuset über­nachten, etwas essen und Beratung bekommen und sich über ihre Rechte infor­mieren. »Es entsteht ein eindring­li­ches Bild verletz­barer, aber doch starker junger Menschen, die der Gefahr ausge­setzt sind, zwischen gewalt­vollen Herkunfts­si­tua­tionen und büro­kra­ti­scher Schwer­fäl­lig­keit verloren zu gehen.«

Auch ein Film für die ab 6-Jährigen war im Programm von »Young Audience« dabei:
Rosa And The Stone Troll (Rosell Og Sten­trolden)
Regie: Karla Holmbäck, Dänemark 2023, 75 Min.
Liebevoll wie originell sind Geschichte und farbige Gestal­tung dieses Anima­ti­ons­films.
Nicht mehr allein zu sein, das wünscht sich die Blumenfee Rosa am meisten. Tag für Tag kümmert sie sich darum, die Blüten ihres Rosen­buschs am Morgen zu öffnen. Zwar hat sie viele Tiere, Feen und andere Wesen um sich herum, aber niemand hat wirklich Zeit für sie. Dann schlüpft eines Tages ein Schmet­ter­ling, der sich mit Rosa anfreundet und unbedingt ein großes Abenteuer mit ihr erleben möchte. Was für ein Glück für Rosa – bis der Schmet­ter­ling entführt wird und die vorsich­tige Rosa eine wichtige Entschei­dung treffen muss. Dass ROSA auch auf den englisch­spra­chigen Markt zielt, lässt sich aus der engli­schen Origi­nal­ver­sion schließen.

Das Young Audience-Programm enthielt noch zwei sehens­werte Filme, die bereits auf anderen Film­fes­ti­vals gezeigt wurden und mitt­ler­weile im Verleih sind:
Nelly Rapp – The Secret Of The Black Forest
(Johan Rosell, Schweden 2023, 95 Min.)
sowie
DANCING QUEEN
(Aurora Gossé, Norwegen 2023)
Ein span­nender wie lebens­kluger Film: Mina, ein nettes, aber etwas unge­lenkes Mädchen im Teen­ager­alter, das im neuen Schuljahr einfach dazu­gehören möchte. Eine verlo­ckende Möglich­keit sieht sie im Tanzen. Von ihrer tempe­ra­ment­vollen Groß­mutter erfährt sie volle Unter­s­tüt­zung und so manche Lebens­weis­heit, und so nach und nach entwi­ckelt sich Mina zur perfekten Hip-Hop-Tänzerin mit dem nötigen Selbst­be­wusst­sein. Mit einem Partner, den sie dazu motiviert und trainiert hat, tritt sie zum span­nenden Wett­be­werb an.

Die Lübecker Kinder­jury verlieh ihren Preis an diesen Film mit der Begrün­dung: »Wir haben im Laufe der letzten Tage die Filme Rosa and the Stone Troll, Titina – Ein tieri­sches Abenteuer am Nordpol, Dancing Queen, Nelly Rapp 2 und It’s always been me angesehen. Alle Filme haben uns auf ihre eigene Art überzeugt und deshalb danken wir allen, die uns ermög­licht haben, diese schönen Filme zu sehen. Aber ein Film hat uns besonders gut gefallen, da er sowohl für Erwach­sene als auch für Kinder verschie­denen Alters geeignet ist. Besonders hat uns die schau­spie­le­ri­sche Leistung der Kinder und die Einbin­dung von Musik und Choreo­gra­phie überzeugt. Trotz der wichtigen und ernsten Themen, wie zum Beispiel Schön­heits­ideale und Wett­kampf­druck, hatten wir sehr viel Spaß beim Zuschauen. Der Ausgleich zwischen den bedrü­cken­deren und humor­vollen Szenen ist gut gelungen. Deshalb geht unser Preis dieses Jahr an den Fillm Dancing Queen von Aurora Gossé.«

Der Preis der Kinder­jury wurde 1998 vom Schleswig-Holstei­ni­schen Jugend­mi­nis­te­rium ins Leben gerufen und wird seither von der jüngsten Jury der Nordi­schen Filmtage Lübeck vergeben: Sieben Lübecker Kinder im Alter von 11 bis 13 Jahren wählen den besten Film des Festivals für Kinder. Das Preisgeld in Höhe von 5000 Euro wird von Finnlines Deutsch­land gestiftet.