Stimmungsaufhellung im dunklen Kino |
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Gewinner des Großen Preises in Generation: Mira Fornays Mimi | ||
(Foto: © MIRAFOX, RTVS) |
Von Christel Strobel
Die einschneidenden Änderungen bei der diesjährigen Berlinale, von denen man schon vorher dies und das erfahren hatte, wurden mir, der langjährigen Berichterstatterin – vormals »Kinderfilmfest«, ab 2007 »Generation« – erst vor Ort voll bewusst. Radikal digital hieß die Devise – also Online-Ticketing mit dem Handy, Katalog und Programme der Sektionen – bisher immer eine übersichtliche Orientierung fürs ganze Programm – nur noch im Internet. Die Akkreditierung etc. fand in nüchternen Hallen statt, wo sich auch das Berlinale-Fachpublikum kaum noch trifft, ebenso Fehlanzeige bei den belebten wie beliebten Meeting Points, wie es die Berlinale-/Generation-Empfänge waren. Aber ein Filmfestival besteht doch zu gleichen Teilen aus einem kompetent ausgewählten Filmprogramm und aus einem Branchentreffen, dem kollegialen Erfahrungsaustausch. – Fazit der langjährigen Fachbesucherin nach zehn Tagen: Wären da nicht die vereinbarten Termine mit befreundeten Kolleginnen oder zufällige Treffen im Kino bzw. auf dem Weg von einem Filmtheater zum anderen gewesen, wäre diese Berlinale als ziemlich unpersönlich und unkommunikativ in Erinnerung geblieben.
Die Filmauswahl – hier für das Kplus-Programm – trug wesentlich zur Stimmungsaufhellung bei und so waren es oft intensiv gefühlvolle Stunden im Zoo-Palast, in der Urania, im Cubix am Alexanderplatz und im Filmtheater am Friedrichshain. Und schon mit dem ersten Film – Mimì von Mira Fornay, Slowakische Republik 2023 – war es ein Glück.
Mimi, so heißt der Wellensittich des siebenjährigen Mädchens Romy, der von einem »Ausflug« nicht mehr zurückgekommen ist. Romys Mutter hat bereits einen neuen gekauft, den das Kind aber gar nicht haben will – höchstens, um Mimi wieder anzulocken. Entschlossen zieht sie mit dem neuen Vogel im Käfig, den sie verächtlich »Kleiner Salat« – fortan »Salätchen« – nennt, in den idyllisch am Fluss gelegenen Wald. Während ihrer beharrlichen Suche trifft sie in dieser wie verzaubert wirkenden Gegend seltsame Menschen, und alle wirken, als seien sie auf der Suche nach etwas. Nur der scheinbar herrenlose Hund, der sogleich bellt, wenn jemand in seine Nähe kommt, ist Romy nicht ganz geheuer. Aber auch in dieser Situation bewährt sich ihre Entschlossenheit. »Mimi« ist der vierte Spielfilm von Mira Fornay, die an der FAMU in Prag und der National Film and Television School London Regie studierte.
Mimi hat auch die Internationale Jury von Generation Kplus überzeugt, und so ging der vom Deutschen Kinderhilfswerk gestiftete Große Preis, dotiert mit 7.500 Euro, für den Besten Film an Mimì mit der Begründung: »Vielfältige Themen, Charaktere und Komplexitäten treffen im Mikrokosmos eines Waldes aufeinander, der zur Bühne seiner eigenwilligen jungen Protagonistin wird. Der Film zelebriert Einfallsreichtum, Kreativität und Offenheit. Durch seinen Ton, sein Tempo und seinen Sinn für Humor gelingt ihm ein beeindruckender Drahtseilakt zwischen Realität und Fantasie.«
Mit der Lobenden Erwähnung der Internationalen Jury wurde der stille wie sensibel beobachtende Film L’amour du monde von Jenna Hasse, Schweiz 2023, ausgezeichnet, der in der überwältigend schönen, sonnendurchfluteten Landschaft des Genfer Sees entstanden ist. Hier macht die vierzehnjährige Margaux nicht sonderlich motiviert ihr Sommerpraktikum in einem Kinderheim. Sie selbst ist erst vor kurzem mit dem Vater in diese Gegend gezogen und fühlt sich noch fremd hier. Am besten versteht sie sich mit der siebenjährigen Halbwaise Juliette, aber ihre gemeinsamen Ausflüge ans Wasser werden vom Heimleiter und den Erzieherinnen argwöhnisch beobachtet. Als Margaux auf ihren – nun heimlichen – Ausflügen am See den jungen Fischer Joël kennenlernt, der zeitweise in Indonesien eine Tauchschule betreibt, spürt sie ein bis dahin unbekanntes Gefühl, das sie so unbefangen wie selbstverständlich mit dem einfachen Satz »Ich will mit dir gehen« ausdrückt. Aber die Tauchschule wurde geschlossen und Joël muss sich neu orientieren. Und für Margaux beginnt nach den Sommerferien ein neuer Lebensabschnitt. Alles in allem ein einfühlsames Spielfilmdebüt der in Portugal geborenen und in der Schweiz aufgewachsenen Theater- und Filmschauspielerin sowie Regisseurin Jenna Hasse.
Die Internationale Jury begründete ihre Lobende Erwähnung wie folgt: »Die ruhige und präzise Darstellung der Sehnsüchte der Protagonistin des Films hat uns gepackt. Der Film beschreibt eine vielschichtige Konstellation von Charakteren, die sich alle auf unterschiedliche Weise im Übergang und Dazwischen von Transiträumen befinden. Die überraschende, poetische, Generationen übergreifende Erzählung des Coming-of-Age Narrativs ist beeindruckend.«
Überrascht hat die Kinderjury mit ihrer Vergabe des Gläsernen Bären an den australischen Film Sweet As der Regisseurin Job Clerc, die selbst den Nyul Nyul/Yawuru im westaustralischen Kimberley angehört und hier eine therapeutische Foto-Exkursion für Jugendliche durch uralte – und grandiose – Landschaften ihrer Vorfahren begleitet. Für die 15-jährige Murra hat diese Reise zu den historischen indigenen Orten eine besondere Bedeutung. Sie lernt ihre indigene Herkunft kennen, entdeckt dabei die Fotografie für sich und es entstehen neue Freundschaften. Ein bildgewaltiges, hoffnungsvolles Spielfilmdebüt, dem die Kinderjury (sieben Berliner Jungen und Mädchen) den »Gläsernen Bären« für den besten Film verlieh mit der Begründung: »Ein Film, der uns durch die persönlichen Geschichten der Figuren und seine beeindruckenden Kulissen berührt hat. Man hat gesehen, wie verschiedene Charaktere zusammenwachsen und zuvor nicht für möglich gehaltene Freundschaften entstanden.«
In eine geradezu entgegengesetzte Welt führt die belgisch-niederländische Koproduktion Zeevonk (See Sparkle) von Domien Huyghe. Es beginnt mit einer stürmischen Segelbootfahrt – Lena, ein Mädchen, das am Meer aufgewachsen ist, kämpft sich entschlossen und mutig durch die Wellen genauso wie es ihr Vater auf dem Fischkutter tun muss. Als er eines Tages vom Fischfang nicht mehr zurückkehrt, rätseln die Leute über die Ursachen: War es ein Unfall oder mangelnde Vorsicht? Für Lena aber ist es eindeutig, dass der Kutter ihres Vaters von einem Meeresungeheuer zum Kentern gebracht wurde. Ihre Vermutung sieht sie durch geheimnisvolle Schatten im Meer und seltsame Funde wie einen abgebrochenen Zahn bestätigt, aber eindeutige Beweise fehlen. In ihrer Verzweiflung und Wut sucht Lena immer weiter, auch wenn sie damit ihre Freundschaften zu verlieren droht.
Ein aufregender und mitreißender Film, der eine Lobende Erwähnung der Kinderjury erhielt:
»Ein entschlossenes und wütendes Mädchen, das nie die Hoffnung aufgegeben hat, löste bei uns Spannung und Trauer aus. Das raue Meer und die passende Musik haben eine tolle Atmosphäre geschaffen.«
Le proprietá die metalli (Die Eigenschaften des Metalls) führt in die archaisch anmutende Welt des Jungen Pietro in einem italienischen Bergdorf. Ihm wird nachgesagt, dass er Gegenstände aus Eisen verbiegen kann, wovon auch ein Universitätsprofessor gehört hat. Er ist interessiert an den vermeintlich psychokinetischen Fähigkeiten des Jungen und besucht ihn von Zeit zu Zeit. Ansonsten ist es ein karges Dasein für den Jungen, der seit dem Tod seiner Mutter allein mit dem verbitterten Vater in der Abgeschiedenheit lebt, aber auch ungestüm und rabiat werden kann, wenn ihn jemand reizt. Die Einladung des Professors, einem Gremium in der Stadt Pietros geheimnisvolle Fähigkeit vorzuführen, lässt den Vater auf eine auch finanzielle Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse hoffen, doch für den Jungen bedeutet es einen hohen Erwartungsdruck, der in einer Zeit des Umbruchs auf ihm lastet.
In diesem eindringlichen Film bleibt vieles offen, und Antonio Bigini, Regisseur und Autor, hatte auch kein Zielpublikum im Auge; dass sein Film für »Generation« ausgewählt wurde, ist für ihn eine interessante Erfahrung, wie sich aus dem anschließenden intensiven Filmgespräch ergab. Bigini erinnerte auch daran, dass das »Metall verbiegen« früher in Italien öfter vorkam, was von Wissenschaftlern untersucht wurde. Besondere Erwähnung fand die hervorragend passende Filmmusik mit Flöte, Vibraphon, Holz- und Metall-Instrumenten, die eine geheimnisvolle Stimmung erzeugen.
Kiddo von Zara Dwinger, Niederlande, ein verrücktes Road Movie, beginnt im Kinderwohnheim, wo die zehnjährige Lu fantastische Geschichten von ihrer abwesenden Mutter erzählt, die sie bald abholen wird. Das stimmt zwar, aber die »Hollywood-Schauspielerin, die ihre Stunts selbst macht und mit den Sternen spricht«, erweist sich als von Lu erfundene Version, die sich in der Realität als Wunschtraum herausstellt. Außergewöhnlich ist die Mutter dennoch: Sie holt ihre Tochter tatsächlich ab, aber ein bisschen anders, als Lu sich das vorgestellt hat: in einem Chevrolet, der schon schwere Fahrten hinter sich hat und noch für manche Panne sorgt, mit Cowboystiefeln und Perücken im Gepäck und Polen als Ziel im Kopf, wo Lus Oma wohnt und viel Geld versteckt haben soll. So starten Mutter und Tochter – ab jetzt nur noch unter dem Namen Bonnie und Clyde – zu einem rasanten Roadtrip mit immer neuen Überraschungen, in dessen Verlauf Lus Traum von der großartigen Stunt-Karriere in Hollywood zur Fantasie wird und der Grund für die Abwesenheit der psychisch labilen Mutter Realität. Kiddo ist ein vordergründig witziger Film, der Spaß macht, mit einem ernsten Hintergrund, der aber nie die Stimmung kippt.
Ein Highlight war schließlich noch der norwegische Film Dancing Queen von Aurora Gossé über Mina, ein nettes, aber etwas ungelenkes Mädchen im Teenageralter, das im neuen Schuljahr einfach dazugehören möchte. Eine verlockende Möglichkeit sieht sie im Tanzen, wo sie zu ihrer Überraschung vom Trainer dem neu hinzugekommenen E. D. Win als Partnerin zugeordnet wird. Beim Training für den Hip-Hop-Tanz-Wettbewerb erweist sich bald, dass E. D. Win ein überheblicher Schnösel ist und Mina so manche Enttäuschung seitens der konkurrierenden »angesagten« Girls erlebt. Von ihrer temperamentvollen Großmutter erfährt sie volle Unterstützung und so manche Lebensweisheit, und so nach und nach entwickelt sich Mina zur perfekten Hip-Hop-Tänzerin mit dem nötigen Selbstbewusstsein. Mit einem neuen Partner, den sie dazu motiviert und trainiert hat, tritt sie zum spannenden Wettbewerb an. Entscheidend für die Preisrichterin sind hier – zur Überraschung der schon siegessicheren Tänzer – außer der perfekten Bewegung ein verantwortungsvolles Verhalten und die gegenseitige Achtung – nach diesen Kriterien hat Mina mit ihrem neuen Partner gute Chancen. Auch dieser sehr menschliche und kluge Film bleibt noch lange im Gedächtnis.
Die Filmauswahl war wieder tadellos, man kann sich darauf verlassen, dass jeder Film bei Generation ein besonderes Erlebnis ist, auch für Erwachsene.