09.03.2023

Stimmungsaufhellung im dunklen Kino

Mimi
Gewinner des Großen Preises in Generation: Mira Fornays Mimi
(Foto: © MIRAFOX, RTVS)

Exklusion und Vereinzelung durch Digitalisierung auf der 73. Berlinale – auch im Generationenprogramm Kplus. Immerhin war die Filmauswahl auch in diesem Jahrgang tadellos

Von Christel Strobel

Die einschnei­denden Ände­rungen bei der dies­jäh­rigen Berlinale, von denen man schon vorher dies und das erfahren hatte, wurden mir, der lang­jäh­rigen Bericht­erstat­terin – vormals »Kinder­film­fest«, ab 2007 »Gene­ra­tion« – erst vor Ort voll bewusst. Radikal digital hieß die Devise – also Online-Ticketing mit dem Handy, Katalog und Programme der Sektionen – bisher immer eine über­sicht­liche Orien­tie­rung fürs ganze Programm – nur noch im Internet. Die Akkre­di­tie­rung etc. fand in nüch­ternen Hallen statt, wo sich auch das Berlinale-Fach­pu­blikum kaum noch trifft, ebenso Fehl­an­zeige bei den belebten wie beliebten Meeting Points, wie es die Berlinale-/Gene­ra­tion-Empfänge waren. Aber ein Film­fes­tival besteht doch zu gleichen Teilen aus einem kompetent ausge­wählten Film­pro­gramm und aus einem Bran­chen­treffen, dem kolle­gialen Erfah­rungs­aus­tausch. – Fazit der lang­jäh­rigen Fach­be­su­cherin nach zehn Tagen: Wären da nicht die verein­barten Termine mit befreun­deten Kolle­ginnen oder zufällige Treffen im Kino bzw. auf dem Weg von einem Film­theater zum anderen gewesen, wäre diese Berlinale als ziemlich unper­sön­lich und unkom­mu­ni­kativ in Erin­ne­rung geblieben.

Die Film­aus­wahl – hier für das Kplus-Programm – trug wesent­lich zur Stim­mungs­auf­hel­lung bei und so waren es oft intensiv gefühl­volle Stunden im Zoo-Palast, in der Urania, im Cubix am Alex­an­der­platz und im Film­theater am Fried­richs­hain. Und schon mit dem ersten Film – Mimì von Mira Fornay, Slowa­ki­sche Republik 2023 – war es ein Glück.

Mimi, so heißt der Wellen­sit­tich des sieben­jäh­rigen Mädchens Romy, der von einem »Ausflug« nicht mehr zurück­ge­kommen ist. Romys Mutter hat bereits einen neuen gekauft, den das Kind aber gar nicht haben will – höchstens, um Mimi wieder anzu­lo­cken. Entschlossen zieht sie mit dem neuen Vogel im Käfig, den sie verächt­lich »Kleiner Salat« – fortan »Salätchen« – nennt, in den idyllisch am Fluss gelegenen Wald. Während ihrer beharr­li­chen Suche trifft sie in dieser wie verzau­bert wirkenden Gegend seltsame Menschen, und alle wirken, als seien sie auf der Suche nach etwas. Nur der scheinbar herren­lose Hund, der sogleich bellt, wenn jemand in seine Nähe kommt, ist Romy nicht ganz geheuer. Aber auch in dieser Situation bewährt sich ihre Entschlos­sen­heit. »Mimi« ist der vierte Spielfilm von Mira Fornay, die an der FAMU in Prag und der National Film and Tele­vi­sion School London Regie studierte.

Mimi hat auch die Inter­na­tio­nale Jury von Gene­ra­tion Kplus überzeugt, und so ging der vom Deutschen Kinder­hilfs­werk gestif­tete Große Preis, dotiert mit 7.500 Euro, für den Besten Film an Mimì mit der Begrün­dung: »Viel­fäl­tige Themen, Charak­tere und Komple­xi­täten treffen im Mikro­kosmos eines Waldes aufein­ander, der zur Bühne seiner eigen­wil­ligen jungen Prot­ago­nistin wird. Der Film zele­briert Einfalls­reichtum, Krea­ti­vität und Offenheit. Durch seinen Ton, sein Tempo und seinen Sinn für Humor gelingt ihm ein beein­dru­ckender Draht­seilakt zwischen Realität und Fantasie.«

Mit der Lobenden Erwähnung der Inter­na­tio­nalen Jury wurde der stille wie sensibel beob­ach­tende Film L’amour du monde von Jenna Hasse, Schweiz 2023, ausge­zeichnet, der in der über­wäl­ti­gend schönen, sonnen­durch­flu­teten Land­schaft des Genfer Sees entstanden ist. Hier macht die vier­zehn­jäh­rige Margaux nicht sonder­lich motiviert ihr Sommer­prak­tikum in einem Kinder­heim. Sie selbst ist erst vor kurzem mit dem Vater in diese Gegend gezogen und fühlt sich noch fremd hier. Am besten versteht sie sich mit der sieben­jäh­rigen Halbwaise Juliette, aber ihre gemein­samen Ausflüge ans Wasser werden vom Heim­leiter und den Erzie­he­rinnen argwöh­nisch beob­achtet. Als Margaux auf ihren – nun heim­li­chen – Ausflügen am See den jungen Fischer Joël kennen­lernt, der zeitweise in Indo­ne­sien eine Tauch­schule betreibt, spürt sie ein bis dahin unbe­kanntes Gefühl, das sie so unbe­fangen wie selbst­ver­s­tänd­lich mit dem einfachen Satz »Ich will mit dir gehen« ausdrückt. Aber die Tauch­schule wurde geschlossen und Joël muss sich neu orien­tieren. Und für Margaux beginnt nach den Sommer­fe­rien ein neuer Lebens­ab­schnitt. Alles in allem ein einfühl­sames Spiel­film­debüt der in Portugal geborenen und in der Schweiz aufge­wach­senen Theater- und Film­schau­spie­lerin sowie Regis­seurin Jenna Hasse.

Die Inter­na­tio­nale Jury begrün­dete ihre Lobende Erwähnung wie folgt: »Die ruhige und präzise Darstel­lung der Sehn­süchte der Prot­ago­nistin des Films hat uns gepackt. Der Film beschreibt eine viel­schich­tige Konstel­la­tion von Charak­teren, die sich alle auf unter­schied­liche Weise im Übergang und Dazwi­schen von Tran­siträumen befinden. Die über­ra­schende, poetische, Gene­ra­tionen über­grei­fende Erzählung des Coming-of-Age Narrativs ist beein­dru­ckend.«

Über­rascht hat die Kinder­jury mit ihrer Vergabe des Gläsernen Bären an den austra­li­schen Film Sweet As der Regis­seurin Job Clerc, die selbst den Nyul Nyul/Yawuru im west­aus­tra­li­schen Kimberley angehört und hier eine thera­peu­ti­sche Foto-Exkursion für Jugend­liche durch uralte – und grandiose – Land­schaften ihrer Vorfahren begleitet. Für die 15-jährige Murra hat diese Reise zu den histo­ri­schen indigenen Orten eine besondere Bedeutung. Sie lernt ihre indigene Herkunft kennen, entdeckt dabei die Foto­grafie für sich und es entstehen neue Freund­schaften. Ein bild­ge­wal­tiges, hoff­nungs­volles Spiel­film­debüt, dem die Kinder­jury (sieben Berliner Jungen und Mädchen) den »Gläsernen Bären« für den besten Film verlieh mit der Begrün­dung: »Ein Film, der uns durch die persön­li­chen Geschichten der Figuren und seine beein­dru­ckenden Kulissen berührt hat. Man hat gesehen, wie verschie­dene Charak­tere zusam­men­wachsen und zuvor nicht für möglich gehaltene Freund­schaften entstanden.«

In eine geradezu entge­gen­ge­setzte Welt führt die belgisch-nieder­län­di­sche Kopro­duk­tion Zeevonk (See Sparkle) von Domien Huyghe. Es beginnt mit einer stür­mi­schen Segel­boot­fahrt – Lena, ein Mädchen, das am Meer aufge­wachsen ist, kämpft sich entschlossen und mutig durch die Wellen genauso wie es ihr Vater auf dem Fisch­kutter tun muss. Als er eines Tages vom Fischfang nicht mehr zurück­kehrt, rätseln die Leute über die Ursachen: War es ein Unfall oder mangelnde Vorsicht? Für Lena aber ist es eindeutig, dass der Kutter ihres Vaters von einem Meeres­un­ge­heuer zum Kentern gebracht wurde. Ihre Vermutung sieht sie durch geheim­nis­volle Schatten im Meer und seltsame Funde wie einen abge­bro­chenen Zahn bestätigt, aber eindeu­tige Beweise fehlen. In ihrer Verzweif­lung und Wut sucht Lena immer weiter, auch wenn sie damit ihre Freund­schaften zu verlieren droht.

Ein aufre­gender und mitreißender Film, der eine Lobende Erwähnung der Kinder­jury erhielt:

»Ein entschlos­senes und wütendes Mädchen, das nie die Hoffnung aufge­geben hat, löste bei uns Spannung und Trauer aus. Das raue Meer und die passende Musik haben eine tolle Atmo­sphäre geschaffen.«

Le proprietá die metalli (Die Eigen­schaften des Metalls) führt in die archaisch anmutende Welt des Jungen Pietro in einem italie­ni­schen Bergdorf. Ihm wird nach­ge­sagt, dass er Gegen­s­tände aus Eisen verbiegen kann, wovon auch ein Univer­si­täts­pro­fessor gehört hat. Er ist inter­es­siert an den vermeint­lich psycho­ki­ne­ti­schen Fähig­keiten des Jungen und besucht ihn von Zeit zu Zeit. Ansonsten ist es ein karges Dasein für den Jungen, der seit dem Tod seiner Mutter allein mit dem verbit­terten Vater in der Abge­schie­den­heit lebt, aber auch ungestüm und rabiat werden kann, wenn ihn jemand reizt. Die Einladung des Profes­sors, einem Gremium in der Stadt Pietros geheim­nis­volle Fähigkeit vorzu­führen, lässt den Vater auf eine auch finan­zi­elle Verbes­se­rung ihrer Lebens­ver­hält­nisse hoffen, doch für den Jungen bedeutet es einen hohen Erwar­tungs­druck, der in einer Zeit des Umbruchs auf ihm lastet.

In diesem eindring­li­chen Film bleibt vieles offen, und Antonio Bigini, Regisseur und Autor, hatte auch kein Ziel­pu­blikum im Auge; dass sein Film für »Gene­ra­tion« ausge­wählt wurde, ist für ihn eine inter­es­sante Erfahrung, wie sich aus dem anschließenden inten­siven Film­ge­spräch ergab. Bigini erinnerte auch daran, dass das »Metall verbiegen« früher in Italien öfter vorkam, was von Wissen­schaft­lern unter­sucht wurde. Besondere Erwähnung fand die hervor­ra­gend passende Filmmusik mit Flöte, Vibraphon, Holz- und Metall-Instru­menten, die eine geheim­nis­volle Stimmung erzeugen.

Kiddo von Zara Dwinger, Nieder­lande, ein verrücktes Road Movie, beginnt im Kinder­wohn­heim, wo die zehn­jäh­rige Lu fantas­ti­sche Geschichten von ihrer abwe­senden Mutter erzählt, die sie bald abholen wird. Das stimmt zwar, aber die »Hollywood-Schau­spie­lerin, die ihre Stunts selbst macht und mit den Sternen spricht«, erweist sich als von Lu erfundene Version, die sich in der Realität als Wunsch­traum heraus­stellt. Außer­ge­wöhn­lich ist die Mutter dennoch: Sie holt ihre Tochter tatsäch­lich ab, aber ein bisschen anders, als Lu sich das vorge­stellt hat: in einem Chevrolet, der schon schwere Fahrten hinter sich hat und noch für manche Panne sorgt, mit Cowboy­stie­feln und Perücken im Gepäck und Polen als Ziel im Kopf, wo Lus Oma wohnt und viel Geld versteckt haben soll. So starten Mutter und Tochter – ab jetzt nur noch unter dem Namen Bonnie und Clyde – zu einem rasanten Roadtrip mit immer neuen Über­ra­schungen, in dessen Verlauf Lus Traum von der groß­ar­tigen Stunt-Karriere in Hollywood zur Fantasie wird und der Grund für die Abwe­sen­heit der psychisch labilen Mutter Realität. Kiddo ist ein vorder­gründig witziger Film, der Spaß macht, mit einem ernsten Hinter­grund, der aber nie die Stimmung kippt.

Ein Highlight war schließ­lich noch der norwe­gi­sche Film Dancing Queen von Aurora Gossé über Mina, ein nettes, aber etwas unge­lenkes Mädchen im Teen­ager­alter, das im neuen Schuljahr einfach dazu­gehören möchte. Eine verlo­ckende Möglich­keit sieht sie im Tanzen, wo sie zu ihrer Über­ra­schung vom Trainer dem neu hinzu­ge­kom­menen E. D. Win als Partnerin zuge­ordnet wird. Beim Training für den Hip-Hop-Tanz-Wett­be­werb erweist sich bald, dass E. D. Win ein über­heb­li­cher Schnösel ist und Mina so manche Enttäu­schung seitens der konkur­rie­renden »ange­sagten« Girls erlebt. Von ihrer tempe­ra­ment­vollen Groß­mutter erfährt sie volle Unter­s­tüt­zung und so manche Lebens­weis­heit, und so nach und nach entwi­ckelt sich Mina zur perfekten Hip-Hop-Tänzerin mit dem nötigen Selbst­be­wusst­sein. Mit einem neuen Partner, den sie dazu motiviert und trainiert hat, tritt sie zum span­nenden Wett­be­werb an. Entschei­dend für die Preis­rich­terin sind hier – zur Über­ra­schung der schon sieges­si­cheren Tänzer – außer der perfekten Bewegung ein verant­wor­tungs­volles Verhalten und die gegen­sei­tige Achtung – nach diesen Kriterien hat Mina mit ihrem neuen Partner gute Chancen. Auch dieser sehr mensch­liche und kluge Film bleibt noch lange im Gedächtnis.

Die Film­aus­wahl war wieder tadellos, man kann sich darauf verlassen, dass jeder Film bei Gene­ra­tion ein beson­deres Erlebnis ist, auch für Erwach­sene.