73. Berlinale 2023
73. Berlinale: Kurzkritiken |
Von Redaktion
Past Lives (USA 2022 · R: Celine Song · Wettbewerb)
Stell dir vor, du schreibst ein Drehbuch, das du jedem Publikum der Welt vorsetzen kannst, weil es universell ist und dennoch spezifisch erzählt? Das von unserer Zeit, aber irgendwie auch allen anderen Zeiten handelt? Wo mindestens die Hälfte mit feuchten Augen aus dem Kino rauskommt, weil diese Geschichte nachfühlbar persönlich ist und Mut zur Emotionalität hat, ohne dabei ins Kitschige abzugleiten? Die neben dem Liebesthema spielerisch und dennoch profund metaphysische
Themen bespielt, die einen riesigen Raum öffnen, daneben aber auch Politisches, wie etwa zwischen zwei Welten zu leben, oder verdammt nochmal, zwischen zwei Männern aus zwei verschiedenen Welten? In die du auch noch produktiv deine Autorenperspektive und das Wesen des Fiktionalen verpackst? Stell dir vor, das ist dann auch noch ein Debüt...?
Und jetzt stell dir vor, es gewinnt so ein Nicht-Drehbuch wie das von „Music“ die Kategorie – das nennt man dann wohl
Berlinale. See you at next year’s Oscars, baby. (Sedat Aslan)
Roter Himmel (D 2023 · R: Christian Petzold · Wettbewerb)
Roter Himmel, oder: Wie sich das Bürgertum selbst begafft. Ja, der Film hat Humor und Thomas Schubert verleiht einer eindimensional geschriebenen Figur so viel von seinem besonderen Charme, dass man bei der Stange bleibt. Doch die Themen – der kreative Schaffensprozess, die binäre und nicht-binäre Liebe, Gruppendynamiken, nicht zuletzt die Vergänglichkeit – kommen übers Triviale nicht hinaus. Der Film existiert in seiner eigenen Blase, und nur in dieser Blase findet er auch Resonanz. Eine Blase, in der die Leute dankbar sind, wenn man in einem durch und durch literarischen Film auch mal schmunzeln darf. Entsprechend kritisch muss man die Ästhetik des petzold’schen Grundkurs Filmemachen durchleuchten: Um eine hypnotisch-traumartige Wirkung zu erzielen, die nicht aus dem Material heraus entspringt, klatsche man einen entsprechenden Song an Anfang, Mitte und Ende; wenn dem Film Poesie abgeht, überhöhe man die Frauenfigur bis hin zum puren Symbolismus und lasse jemanden nicht ein-, sondern gleich zweimal Heine im On rezitieren; in einer Szene mehr als 1-2 Sachen zu verhandeln, würde ja die Möglichkeiten des Mediums ausreizen, damit wollen wir gar nicht erst anfangen; und der bildungsbürgerliche Seitenblick auf die Antike (hier: Pompeji) darf natürlich auch nicht fehlen. In einer besseren Filmkultur würden die jungen Filmschaffenden sich an Leinwände festkleben und sagen, es war lange gut, aber jetzt brauchen wir etwas Neues – anstatt dieses Kino auch noch nachzuahmen und zu einer de-facto Monokultur zu machen. (Sedat Aslan)
After (F 2023 • R: Anthony Lapia • Panorama)
Die Nacht endet trostlos. Eben noch im ekstatischen Taumel, Flirten, Heimweg, die Party zu Hause ausklingen lassen. Dann: Diskurs über Armut, Dekadenz, Klassenverhältnisse, Überheblichkeit, bis der Raum ins Dunkel stürzt. Die Zeit der Weltflucht ist vorbei. Anthony Lapia inszeniert selbige in einigen der intensivsten Partyszenen der letzten Jahre. Konsequent übersetzt er die Ausschweifung des Tanzes in filmische Form und haptische Bilder. Körperfragmente, Rauschen, Dunkelheit, entfesselte Kamera, Stroboskop, Musik, die Worte verschluckt. Eine Zeit, die Grenzen auflöst und Menschen zur kultischen Masse formt. Setzt sie sich im Alltag erneut zu einer revolutionären zusammen? Techno als Utopie. (Janick Nolting)
Seneca (DEU/MAR 2023 • R: Robert Schwentke • Berlinale Special)
Die große John-Malkovich-Show oder: Volksbühne im alten Rom. Wobei, Rom ist schon untergegangen. Da stehen teils nur noch Kulissen-Reste im Nirgendwo. Gestern und Heute im Kollaps: Soldaten reiten an Stromtrassen vorbei. Geschichtskino mit V-Effekt. Seneca, der große Prophet und Sozialkritiker oder doch nur ein dreister Opportunist, der von dem zehrt, das er anprangert? Schwentke holt in alle Richtungen aus, lässt seinen Antihelden quasseln und quasseln und überschätzt vielleicht seine konstruierte Ambivalenz. Aber, meine Güte, was für ein wahnwitziges, blutsprudelndes Sterbe-Spektakel, was für ein hemmungsloser Exzess! Filmisches Bürgerschreck-Theater. (Janick Nolting)
De Facto (DEU, AT 2023 • R: Selma Doborac • Forum)
Der wahrscheinlich extremste Berlinale-Film 2023. Mit Sicherheit einer der klügsten. Selma Doborac gelingt ein unheimlich faszinierendes Ringen mit psychologischem Spiel. Zwei Darsteller sitzen im grünen Idyll und lesen zwei Stunden in langen Einstellungen Barbarischstes vor, inspiriert von den Verbrechen des Dritten Reichs. Welche Performativität kann ein Film allein über verbale Äußerungen herstellen? Gesagtes und Gezeigtes erscheinen im verstörenden Kontrast. Wann wird der Darsteller zu dem, was er spricht? Welche Distanz kann er wahren, um das Böse zu spielen? Der Körper mit seinen Regungen ist immer schlauer. Spielend in den Abgrund steigen, der Tempel Bildung ist seiner Unschuld beraubt und langsam geht die Sonne unter. Dann der Lärm. Meisterhafte Formstrenge! (Janick Nolting)
Bis ans Ende der Nacht (D 2023 · R: Christoph Hochhäusler · Wettbewerb)
Robert ist Cop und liebt Lennart, der Drogen vertickt und Frau werden will. Beides findet Robert nicht so toll. Lennart, nunmehr Leni und im Knast, bekommt das Angebot auf Haftverkürzung, wenn sie mit Robert den ehemaligen DJ und jetzigen Drogenhändler Victor inkognito zur Strecke bringt, bei dem sie früher (als Lennart) Toningenieur war – und da fängt der Film erst an! Es spricht für Hochhäusler, dass man ihm die wacklige Grundprämisse abkauft. Was man ihm nicht abkauft: dass Michael Sideris ein gerissener Geschäftsmann/Krimineller sein soll; behauptete Szenen wie die am Sportplatz; sowie das arg klassisch geratene Ende mit unnötigem „Deppen-Doinel“ (s. „Totem“ – dass es dafür noch keine Website gibt…?!) Was man ihm aber sehr gerne abkauft: die Lust am Genre; die beiden Casting-Volltreffer Timocin Ziegler und Thea Ehre, die sich faszinierend abstoßen und sogleich wieder anziehen; wie er Frankfurt am Main gekonnt als facettenreichen Spielort nutzt, ohne ins Klischierte oder Pittoreske abzugleiten; und wie er der Versuchung nicht unterliegt, die Trans-Frau zu objektifizieren. Ein grafesker, manchmal sogar lynchesker Nachttrip, auf den man sich einlassen sollte. (Sedat Aslan)
Limbo (AUS 2023 · R: Ivan Sen · Wettbewerb)
Slowburner unter der gleißenden Sonne Australiens: Ivan Sen ist Kameramann, Regisseur und Editor dieses Neo-Noirs, der die prähistorisch-karge Landschaft des australischen Outbacks, analog zu den seelischen Narben der Figuren, in schwarz-weiß und Cinemascope in Szene setzt. Der Gegenpol sind die allgegenwärtigen Höhlen und Grotten als Sinnbild für äußere und innere Exile. Obwohl der Protagonist, einem 20 Jahre zurückliegenden Mordfall mit offenbar rassistischem Hintergrund auf der Spur, über die endlos weite Prärie brettert, hat der Film ein gemächliches Tempo, setzt auf Atmosphärisches statt auf Knalleffekte, zerzwiebelt tief verwurzelte Traumata statt auf ein befriedigendes Ermittlungsergebnis hinzuarbeiten. Ein gelungener (monochromer) „Farbtupfer“ im Wettbewerb. (Sedat Aslan)
Cidade Rabat (PRT/FRA 2023 ⋅ R: Susana Nobre ⋅ Forum)
Helena lässt das Leben wie etwas geschehen, was ihr einfach zustößt. Lässt es über sich ergehen, als hätte sie jede Möglichkeit eingebüßt, ein Resonanzverhältnis zur Wirklichkeit zu erzeugen. Als ihre alte Mutter anfängt, Erinnerungsfotos eines nach dem anderen zu zerreißen, schaut sie durch ihre großen Brillengläser zwar befremdet, vermag aber nicht, auf die Zeichen des Abschieds zu reagieren. Dann erstarrt die Wirklichkeit in protokollarischen Abläufen: Routinen des
Alltags, Begräbnis, Behörden, Auflösung der Wohnung der Mutter in der Rua Cidade Rabat.
Susana Nobre zeichnet eine subtil diagnostische Studie in Entfremdung, die immer Raum für Empathie bereithält. Das Ende bietet einen versöhnlichen Weg zurück ins Zusammen-Leben mit den anderen, wirkt aber vielleicht doch zu schlicht und ergreifend. (Wolfgang Lasinger)
Notes from Eremocene (SVK/ CZE 2023 ⋅ R: Viera Čákanyová ⋅ Forum)
Zwischen analoger Nostalgie und digitaler Euphorie, so lotet Viera Čákanyová unsere Gegenwart als die Zeit aus, in der womöglich alles vergeigt worden sein wird. Die Filmemacherin projiziert sich als virtuelles Ich in die Zukunft und wirft von dort einen Blick zurück auf unsere Epoche. Spuren hinterlassen, Zeugnis ablegen – die Stimme einer künstlichen Intelligenz tritt dabei in Zwiesprache mit der natürlichen Stimme der Regisseurin und steckt eine beklemmende Zone ab, die des Eremozäns. So nennt der amerikanische Biologe Edward O. Wilson das auf das Anthropozän folgende Zeitalter der Isolation, das unsere nämlich. Dieser Film ist ein experimentell-spielerischer Essay, der auf sensationelle Weise Intelligenz und Sinnlichkeit verknüpft. (Wolfgang Lasinger)
Im toten Winkel (DEU 2023 · R: Ayşe Polat · Encounters)
Jeder Täter kann das nächste Opfer sein. Ayşe Polats komplexes Drama über Täter wie Opfer im türkisch-kurdischen Konflikt überrascht mit einem gelungenen multiperspektivischen Ansatz, der vor allem mit der subtilen Schilderung von Lebensalltag überzeugt und einer unheimlichen, aber sinnvollen Einbeziehung transgenerationaler Traumata, wie wir es aus dem Shoa-Kontext und filmisch in Who’s afraid of Alice Miller? kennen. Hier ist aber nichts dokumentarisch, sind es die Geister, die einst gerufen, nicht mehr gehen und ein knallharter Polit-Thriller-Plot, der die kurdische Tragödie gelungen mit dem türkischen Blick verschränkt auch noch die Fragwürdigkeit westlicher Anteilnahme in den Raum stellt. (Axel Timo Purr)
Mal viver (PT 2023 · R: João Canijo · Wettbewerb)
Ein Rätsel der Berlinale lautet, warum sich das Diptychon Mal viver – Viver mal des Portugiesen João Canijo auf die zwei Sektionen Wettbewerb und Encounters aufteilt. Gab es zu wenig Filme für den Wettbewerb? In dem Zweiteiler, der wie Alain Resnais’ Smoking/No Smoking zwei Mal die gleiche Story in Variation erzählt, treffen drei Frauengenerationen aufeinander: die erwachsene Tochter, die Mutter, die Großmutter. Im mondänen Hotel, das im Familienbesitz ist, hebt eine heftige Familienaufstellung gegenseitiger Schuldzuweisungen und psychiatrischer Selbstdiagnosen an. In langen Einstellungen bettet sich der Streit der Frauen in die warme Holzarchitektur des Hotels, vor dem symbolisch aufgeladen der Swimmingpool lockt. (Dunja Bialas)
Viver mal (PT 2023 · R: João Canijo · Encounters)
Das Echo zu Mal viver, dem ersten Teil des portugiesischen Diptychons, das sich auf zwei Berlinale-Sektionen verteilt. Der zweite Teil ist nicht so sehr Gegenschuss, wie im Programmheft angekündigt, vielmehr Seitenblick auf das etablierte Thema: das allzu problematische Mutter-Tochter-Verhältnis. In drei Episoden tauchen wir in das verkorkste Leben dreier Familien ein, das im Hotel der Hauptfamilie seinen Höhe- und Endpunkt findet. Immer geht es um die freie Entfaltung von Libido und Persönlichkeiten, und wie Mütter wehleidig, narzistisch und ödipal dazwischenstehen. Am Ende hätte man sich doch auch noch eine optimistischere Variante gewünscht, aber wie hätte das wohl zu einem Zweiteiler über das schlechte Leben gepasst? (Dunja Bialas)
Allensworth (USA 2022 · R: James Benning · Forum)
Der 72. Film von Landscape-Spotter James Benning führt ins kalifornische Allensworth. Gegründet 1908 war es die erste Siedlung von Afro-Amerikanern, ein historisches Bild im Abspann dokumentiert die Anfangszeit. Wie einen Wandkalender unterteilt Benning seinen Film, geht mit den Monats-Kalenderblättern Ansichten von Siedlungshäusern durch, die noch die bauliche Signatur der ersten Zeit haben. »Free Library« steht auf einem mintfarbenen Holzhaus mit Veranda, oder: eine dreigeteilte Scheune in der öden Landschaft. Nur im August schert er aus der strengen Komposition aus, ein Mädchen liest in historischem Kleid eine afroamerikanisches Langgedicht. Jede Einstellung hält Benning in gewohnt minutenlanger Einstellung, reizt das Bild aus, bis zum nächsten Monat. Ein weiterer Meilenstein in Bennings ganz eigener »Americana«. (Dunja Bialas)
Tótem (MEX/DEN/F 2023 · R: Lila Avilés · Wettbewerb)
Wie in Vinterbergs Das Fest drehen sich die Geschehnisse eines einzigen Tages um ein schwarzes Loch, oder besser: die im Film erwähnte schwarze Sonne, die für einen anfangs unsichtbar bleibt, auf deren Existenz man aber aufgrund der beobachteten Umlaufbahnen genau schließen kann. Wie rückwärts laufende konzentrische Kreise, wenn die sich klug zurückhaltende Kamera einen ganzen Familienkosmos streift, der Film dabei aber nie ins Klischeehafte oder Rührselige abgleitet, verengt sich das Sujet, bis es zur schönsten Vater-Tochter-Umarmung seit Aftersun kommt. Dann beginnt es, das große Fest, das aber auch ein Abschied ist, und ein Kind in Clownsperücke singt sich mit Playback auch in unser Herz, sind wir doch schleichend längst Teil dieser Familie geworden. Am Ende steht ein verlassener Raum da, wirft mehr Fragen auf als er beantwortet, doch darüber könnte man fast schon einen neuen Film drehen. (Sedat Aslan)
AI: African Intelligence (PRT/SEN/BEL 2022 · R: Manthia Diawara · Forum Expanded)
Eine 100-jährige tanzt sich die Seele aus dem Leib. Aber das ist natürlich nur die Oberfläche, geht es hier ganz im Sinne Ngũgĩ wa Thiong’os um eine Dekolonialisierung indigenen afrikanischen Denkens, das hier anhand des senegalesischen Ndeup-Rituals exerziert wird. Weiße Wissenschaftler vor Ort und der malische Regisseur stellen das Besessenheitsritual in die Nähe physikalischen Denkens, das mit anderen Methoden ebenfalls das Unsichtbare ergründen will. So erfrischend der Gedanke gerade mit der Verknüpfung zu AI-Blackboxen ist und mit klassischer ethnografischer Kamera festgehalten wird, so sehr nerven die selbstgefällig eingesprochenen Kommentare des Regisseurs, der sich am Ende auch nicht von seinem Material lösen kann und in endlosen Wiederholungsschleifen das tolle Thema fast zugrunde richtet. (Axel Timo Purr)
Infinity Pool (CA, HR, HU 2022 · R: Brandon Cronenberg · Berlinale Specials)
Naked Lunch meets Eyes Wide Shut. Ein Schriftsteller mit Schreibblockade sucht mit seiner Freundin in einem Resort nach Inspiration, gerät aber bald in die Fänge eines vermeintlichen Fans und findet sich nach drogengetränkten und maskenbewehrten Sex- und Blutrausch-Orgien allein am titelgebenden Infinity Pool. Cronenbergs Sohn spielt mit der Angst vor Doppelgängern, versackt dann aber in der einen Idee, anstatt die nächste Stufe zu zünden. Vielversprechend kündigt eine schwindelerregende Bilddrehung innovative Ästhetik an, mehr als eine 80er-Jahre-Orgienfantasie gibt’s dann aber nicht mehr. Auch politisch werden nur Korruption und Guantanamo serviert, wo erheblich mehr angelegt war. Und wenn Doppelgänger aus der Retorte kommen, verlieren sie sowieso ihren Schrecken. Ein kurzes gelungenes Weibliche-Brust-Phantasma ist dann auch schon geschenkt. (Dunja Bialas)
Die Fabelmans (USA 2022 · R: Steven Spielberg · Hommage)
Das Kino sieht mehr als der Mensch: Wie Spielberg in seinem semibiografischen Coming-of-Age-Film die Beziehungen der Erwachsenen aus der Sicht seiner ersten Kindheitserinnerungen andeutet und dann mit den Augen des Jugendlichen erst wirklich versteht, als er seine Kamera und den Film an seiner Seite hat, das ist nicht nur eine der schönsten Liebeserklärungen an offene Beziehungsarbeit, sondern auch eine der hellsichtigsten Bekenntnisse an die Macht des Kinos. Das hat zwar nicht die düstere Note des sehr ähnlichen Armageddon Time von James Gray, aber dennoch erzählt auch Spielberg über das Kleine das Große, erklärt er über die Familie die Welt. Große Filmkunst. → Langkritik (Axel Timo Purr)
Here (BEL 2023 • R: Bas Devos • Encounters)
Endlich Ruhe! Bas Devos befriedigt Sehnsüchte inmitten des Berlinale-Trubels, inmitten der lärmenden Ungewissheiten der Welt. Melancholische Abschiedsstimmung sucht sich ihre Flucht in andere Zonen. Ein Gastarbeiter steht vor der Abreise, ist weder richtig hier noch richtig dort. Samen in der Hand, ein Suchen nach Verwurzelung. Here durchmisst dabei in hinreißend schönen, kontemplativen 4:3 Aufnahmen die Stadt. Ein Film über das Gehen, das ziellose Umherstreifen und Abzweigen. Von den hohen Wolkenkratzern geht es hinein ins mikroskopische Moosgeflecht, vom Baulärm in die Stille. Leise beginnt der Regen zu tröpfeln. Menschen kehren gerade so aus der Natur zurück, wo eine zarte Romanze Kategorien sprengt. Ein Highlight in der Encounters-Sektion! (Janick Nolting)
Music (Deutschland/ Frankreich/ Serbien 2023 • R: Angela Schanelec • Wettbewerb)
Der Mythos ist wieder da und war nie weg. Angela Schanelec zerlegt ihn in Einzelteile und Begriffe, verstreut seine DNA und Störeffekte in alle Richtungen. Widerspenstig, langsam, elliptisch, aber auch faszinierend, wie man es von der Regisseurin kennt. Ihren Stoff lässt sie vom Donner sprengen. Wolken und Nebeldunst überziehen das Gebirge. Wo es nichts mehr zu sehen gibt, zerreißt Grollen die Stille. Wo Ödipus die Sicht verlieren müsste, beginnt er zu singen. Schanelec erzählt die Tragödie einer Autopanne, die Tragödie eines Gefängnisaufenthalts, die Tragödie des Überlebens. Das anschließende Satyrspiel zieht musizierend durch den Wald. Familienmitglieder und Freunde kommen und gehen, ein Sarg wird abtransportiert, Menschen kollabieren, verlieren ihr Leben. Aber wer soll dafür büßen? Der heimsuchende Mythos, der solchen Vorgängen Bedeutung gibt, ist er Segen oder Fluch? (Janick Nolting)
Talk to Me (Australien 2022 • R: Danny und Michael Philippou • Berlinale Special)
Die Philippous zeigen den Albtraum einer jungen Generation. Einfach die künstliche Hand auf dem Tisch berühren und schon sind die Toten da. Ein Partyspiel und neuer Social-Media-Trend setzt sich durch. Lebensgefahr und Selbstausbeutung, um Aufmerksamkeit zu erhalten und gehört zu werden. Oder ist das doch nur eine große Suchtmetapher, um mit den Krisen des Heranwachsens fertig zu werden? So oder so: Wer den Zenit überschreitet, wird das Grauen nicht mehr los. Talk To Me gruselt rabiat mit deformierten Schreckgestalten, Höllenvisionen, Verstümmelungen und fieser Pointe. Grauenerregender als die angelegte Mobbing-Thematik kann aber auch das nicht sein. Schade, dass der anfangs kluge Subtext hinterher im üblichen Familientrauma- und Trauer-Einerlei verwässert. (Janick Nolting)
Samsara (E 2023 · R: Lois Patiño · Encounters)
Auf der Suche nach dem verlorenen Urvertrauen: Lois Patiños Betätigung mit dem Dokumentarischen und Experimentellen fließen organisch in seinen zweiten Langspielfilm ein und formen eine meditative Reflexion über Leben, Tod und Wiederkunft, gegossen in Filmkorn. Eine wohlsame Schau von Mönchen, die Smart Gestures nutzen bis hin zu Babymuränen, die im Einmachglas schwimmen. Die Sinnlichkeit dieses Films drückt sich auch darin aus, dass der Schmutz ums Gate genauso zum Filmbild gehört wie das, was es umrahmt. Inmitten dieser metaphysischen Reise von Laos nach Sansibar setzt Patiño knappe 10 Minuten lang geschlossene Augen voraus, wo das Publikum in einer Art invertierter Stargate-Sequenz aus „2001: Odyssee im Weltraum“ transzendental übertritt und im Kollektiv von der eigenen Reinkarnation träumen darf. (Sedat Aslan)
Mit geschlossenen Augen sehen. Der Meister der umwerfenden Bilder zeigt erneut, wie sich auch das Unsichtbare filmisch darstellen lässt. »Samsara« meint den ewigen Kreislauf des Seins, den Übergang der Seele auf einen anderen Körper. Patiños Film beginnt im buddhistischen Laos, endet in Sansibar. Dazwischen liegen Minuten der Seelenwanderung. Man solle die Augen schließen, sich dem Sound anvertrauen, und erst wieder öffnen, wenn es still ist, fordert eine Texttafel auf. Licht und Farben brennen sich hinter den Lidern direkt auf die Retina. Und was im ersten Teil womöglich sehr religiös und für westliche Ratio esoterisch erscheint, findet bei Seegrasernterinnen eines Fischerdorfes zu einem ökonomisch-ökologischen Diskurs. Und zwischen ihnen hüpft die kleine Ziege Neema, Wiedergängerin einer alten Frau aus Laos. (Dunja Bialas)
Hello Dankness (AUS 2022 · R: Soda Jerk · Panorama)
The kids are alt-right. Die Pestjahre 2016-2022 als Samplefilm, in dem Neighbors, American Beauty, Pen15 und vieles mehr im selben Suburbia ums Eck der Elm Street liegen – und (dank etwas Digital-Retusche) inmitten der Kampfzone US-Politik. Wayne & Garth headbangen zu »Harambe«, die TMNTs entdecken Pizzagate, Napoleon Dynamite ist von dem Access Hollywood Mitschnitt angewidert, Herbert Loms Phantom of the Opera hat das Pee Tape im VHS-Schrank. Das ist allemal sehr gewitzt und virtuos (und umso amüsanter, je geläufiger einem das Film- und Meme-Reservoir ist). Vielleicht nicht groß mehr – aber immerhin überlässt es das Feld des subversiven Spiels mit Bildern, Zeichen nicht 4chan und seinen neurechten Konsorten. (Thomas Willmann)
Mammalia (ROM/POL/DEU 2023 · R: Sebastian Mihăilescu · Forum)
Ein feministischer Rite de Passage, die mit langen, festen Einstellungen Stillleben fixiert, die Gemälden gleichen und immer wieder verblüffen: eine nachlassende Peniserektion im Badeschaum, Fliegen auf einer Tischplatten mit schlafendem Mann. Männlichkeit wird gegenüber Weiblichkeit ausgespielt und völlig neu definiert – dazu gehören esoterische Horrormomente genauso wie lange, nicht enden wollende Monologe über verlorene Kinder und verlorene Haare, alles vor einer postsozialistischen Architekturtristesse, die den finalen, aber konsequent-feministischen Body Horror treffend surrealistisch grundiert. (Axel Timo Purr)
She Came To Me (USA 2023 · R: Rebecca Miller · Berlinale Special Gala)
Schmalzgebäck Amuse-Gueule à la Dieter: Ein Opernkomponist mit Schreibblockade. Eine krankhaft romantiksüchtige Schlepperkapitänin. Eine jüdisch-katholische Psychotherapeutin mit Putzfimmel, die sich wohl besser selbst therapieren sollte. Ihre polnische Zugehfrau ohne endgültige Aufenthaltsgenehmigung. Deren rassistischer Partner mit Fimmel für Bürgerkriegs-Rollenspiele. Und ihrer aller Kinder in einer Romeo & Julia-Beziehung. Der Eröffnungsfilm sieht sich an wie die Verfilmung eines National Book Award-Gewinners, inszeniert als erstaunlich liebesglücksgläubige RomCom der ‘90er via Woody Allen. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
The Survival of Kindness (AUS 2022 · R: Rolf de Heer · Wettbewerb)
Wir sind so frei! Und nehmen schon mal die künftige – und ggf. nicht ungerechtfertigte – Jurybegründung vorweg: »Der Film wird durch seinen bewussten Verzicht auf eine Verankerung in realen Nationen und realen Sprachen wahrlich universell menschlich. Doch durch seine sehr eigene Ästhetik und die Präsenz der markanten Landschaft und der intensiven Laien-Hauptdarstellerin werden abstrakte aktuelle Themen zu einer sehr konkreten persönlichen Erfahrung.« Wir persönlich finden, dass der Film ab der Hälfte seinen Punkt gemacht hat und ihn dann nur noch wiederholt. Aber was wissen wir schon? (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Kill Boksoon (KOR 2023 · R: Byun Sung-hyun · Berlinale Special)
Küche, Kinder, Killen. Das koreanische Kino erzählt gerne vom Druck der Leistungsgesellschaft im Genre-Gewand – und tut dies gerne mit allzu üppiger Laufzeit. Es steckt vermutlich ein schöner 90-Minüter über die Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Karriere in Kill Boksoon. Nur dass hier die alleinerziehende Mutter von Beruf Elite-Auftragsmörderin mit Festanstellung ist. Und dass der Film das leider unter einer weiteren Stunde Pseudo-Coolness, überflüssiger Nebenhandlungen und narrativer Bremsschleifen begräbt. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Arturo a los 30 (ARG 2023 · R: Martín Shanly · Forum)
So war das vor dem März 2020: Wie wir doch alle unablässig bemüht waren um unseren Platz im Getriebe der Welt! Der zweite Film von Regisseur, Hauptdarsteller und Autor Martín Shanly (nach JUANA A LOS 12) ist schon auch ein Stück performativer Selbstdarstellung. Aber zum Glück dabei mit einer Dosis Selbstdiagnose und einem Augenzwinkern gegenüber allzu eitler Kunst. Er ist sehr enstpannt, sehr unaufgeregt, ja wirkt manchmal fast ungeformt – und plaziert dann doch immer mal wieder präzise Pointen. Und im Hintergrund busselt sich Argentiniens unwissende Covid 19-Patient Zero munter durch eine Hochzeitsgesellschaft... (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
BlackBerry (CAN 2023 · R: Matt Johnson · Wettbewerb)
Zeit ist Geld: Es geht nicht um Gemeinschaft, nicht um Kommunikation – es geht darum, den Leuten möglichst viele Minuten zu verkaufen. Das ist es, was den Telefonkonzern überzeugt in eine Verbindung von Handy und Mail Computer zu investieren. Blackberry ist quasi das kanadische The Social Network – alles eine Ecke nerdiger, absurder, kleiner. Aber dabei nicht weniger als die Neuerfindung unserer Welt im Zusammenspiel von Tech-autistischen Kindsmännern und Risikokapital-Bros mit Aggressionsproblemen. Es ist Matt Johnson hoch anzurechnen, dass sein Film zwar enorm amüsant ist – aber den unangenehmen Kern dieser Männergesellschaft immer im Blick hält. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)
Jaii keh khoda nist – Where God Is Not (FRA/CHF 2023 • R: Mehran Tamadon • Forum)
Scheitert das Kino? Nach Mehran Tamadons Reenactment-Experiment sieht es allgemein schlecht aus für die Kunst, noch irgendetwas in der Welt verändern zu können. Aber es kann erfahrenen Schmerz verarbeiten, Worte finden, Unaussprechliches darstellen. Nur wie? Aus Stangen und Brettern entstehen Schauplätze eines iranischen Gefängnisses. Plündern einer Werkstatt: Aus Alltagsobjekten werden schnurstracks Folterwerkzeuge und Fesseln. Wie anmaßend kann und darf das Rollenspiel sein? Stößt die Illusion des Films an ihre Grenzen? In ungeschnittenen Einstellungen erstarrt die Gegenwart, verführen Worte und Gesten zum (wieder)erlebten Schrecken. Verstörend und klug in jeder Hinsicht. (Janick Nolting)
Past Lives (USA 2022 • R: Celine Song • Wettbewerb)
Die Verbindung hängt. Endlich haben sich die Kindheitsfreunde Nora und Hae Sung über das Internet wiedergefunden. Doch das Bild stockt bereits im Videotelefonat, sie sind inzwischen andere. Eine Zusammenkunft offenbart die Gräben und Unsicherheiten, die die Migrationserfahrung hinterlassen hat. Südkorea und New York: zwei getrennte Welten, verworfene Biografien. Ein anrührender Film über Heimat als Wandlung. All die Leben, die zurückgeblieben sind, konserviert in der Erinnerung. All die Leben, die man führen könnte und die jetzt sind. Gegenwart und Vergangenheit, tragikomisch überlagert. Feinfühlig, kompetent inszeniert. A24-Wohlfühlkino, Herzschmerz inklusive. (Janick Nolting)
Das Lehrerzimmer (DEU 2023 · R: İlker Çatak · Panorama)
Kohlhaas in der Schule. Und das heißt endlich einmal keine dummen Schulfilmdödeleien à la Eingeschlossene Gesellschaft mehr. Stattdessen eine großartige Leonie Benesch, die die Gerechtigkeit im Schulalltag in die Hand nimmt und in einer enervierenden Abwärtsspirale erkennen muss, dass Gerechtigkeit Ungerechtigkeit erzeugen kann, eine Lösung keine Lösung ist und Verstehen kein Verstehen. Dieser fast schon philosophische Überbau wird jedoch so fein mit einem genau beobachteten und realistischen Schulalltag verzahnt, dass die Theorie die Geschichte nie kapert und das Ende von einem fast schon surrealistischen Duell gekrönt wird, so ambivalent und klug wie die grundsätzlichen Prämissen dieses Dramas. (Axel Timo Purr)
Disco Boy (F/I/BL/PL 2023 · R: Giacomo Abbruzzese · Wettbewerb)
Le soldat inconnu: Giacomo Abbruzzeses erster Spielfilm ließe sich problemlos postmigrantisch, postkolonialistisch oder genderkritisch lesen. Die Stärke des Films aber ist die außergewöhnliche und dennoch stilsichere Ästhetik. In drei gleich langen, elliptisch und unberechenbar erzählten Akten liefert Disco Boy kein vordergründiges Narrativ und auch keine wohlfeilen didaktischen Fragen à la »Wie kann man ein guter Mensch bleiben in einer schlechten Welt?«. Stattdessen legt der Filmemacher seinen Fokus auf die Wirkung seiner Schauspieler (Franz Rogowski in einer seiner besten Rollen), der mit beängstigender Konstanz immer wieder großartigen Kamerafrau Hélène Louvart und eines hynotisch-tranceartigen Erzählkosmos, in dem Genres und deren Traditionen auf einer dauerdämmrigen Leinwand verschmelzen. Eine aufregende neue Stimme im Weltkino, wie ich sie seit Harmony Lessons nicht mehr auf der Berlinale gesehen habe. (Sedat Aslan)
Krieg als Chance als Realitätsverlust. Giacomo Abbruzzese zeigt Franz Rogowski auf dem Weg zur Desillusionierung, hinein in die Stimmungen der Nacht. Die Fremdenlegion als Aussicht auf Zugehörigkeit, dann das böse Erwachen. Surreale Ellipsen, kanonbewusst inszeniert und innovativ zugleich. Gegen Krieg, gegen eine naturalistische Gewaltdarstellung. Das gegenseitige Erkennen im angerichteten Schrecken färbt das Auge, teilt die Sicht. Ebenso unternimmt es dieser Film mit seinen spröden und sinnlichen, konkreten und abstrakten Visionen. Faszinierendes Irrlichtspiel in Neon, Matsch und Infrarot. (Janick Nolting)
Irgendwann werden wir uns alles erzählen (DEU 2023 · R: Emily Atef · Wettbewerb)
Der deutsche Film lebt doch noch. Und wie. Spätestens in dem Moment, als am Essenstisch das so identitätsstiftende wie heimatverlorene „Wir sind die Moorsoldaten“ erst zart, dann immer lauter angestimmt wird, ist klar, dass Emily Atef hier ein großer Wurf gelungen ist. Kongenial wird die archaische, hamsuneske Sprache von Daniela Kriens Roman (Kriens war mit am Drehbuch beteiligt) in Bilder und Farben übersetzt, die so stark sind, dass man meint, sie riechen zu können. Wie bei Fontane deutet die wuchtig fotografierte Natur das grollende Unheil einer stark gespielten Amour fou an, sehen wir endlich wieder den Mut zu ambivalenten Sexszenen und nackten Männern, wird wie nebenbei sogar noch ein politischer Diskurs über die zwei Deutschland geführt. Und gibt es Dialoge fern von Stangenware, die überraschen, auch wenn sie, wie kurz vor dem Ende, durch zu viel Pathos fast entgleiten. (Axel Timo Purr)
The Shadowless Tower (CHN 2022 • R: Zhang Lu • Wettbewerb)
Zwischenmenschliche Lähmung. Unausgesprochenes liegt mal wieder in der Luft, private Krisen sind untherapiert. Generationen als bloße Spiegelbilder? Welche Schatten werfen wir im Leben anderer? Sterben müssen alle, auch wenn es bis dahin bitter zugeht. Zhang Lu formt Universelles zu herausragendem Kino. Ein Film über Peking und seine Geister, das Verlieren in der Großstadt. Nostalgie und Traumata zersplittern das Jetzt. An der Ordnung will sich einfach nichts ändern. Trösten und Verletzen liegen eng zusammen und setzen sich unentwegt fort. Nur vorübergehend finden Menschen in melancholischen Miniaturen zusammen. In langen Einstellungen verläuft die Zeit. Alltagsgeräusche werden zum Rauschen oder Schlagen einer Uhr, die keinen Takt ergeben will. Jede Szene, jede Einstellung in diesem Film ist ein Meisterwerk für sich. (Janick Nolting)
Das Lehrerzimmerr (DEU 2023 · R: İlker Çatak · Panorama)
Als wenn man eine AI mit Dramaturgielehrbüchern füttert: Setting und Grundsituation sind spannend, endlich mal kein plumper Pennälerfilm, denkt man, sondern etwas, wo die Institution Schule ernst genommen wird, doch wird schnell klar, dass es sich um eine von einem MacGuffin befeuerte Versuchsanordnung handelt, die ebenso in einem Sanatorium oder auf hoher See hätte spielen können. Alle Figuren verbeißen sich stumpf in den sprichwörtlichen Hügel, für den man unterzugehen bereit wäre, und Co-Autor und Regisseur İlker Çatak steht auf dem Hügel der größtmöglichen Zuspitzung und sieht runter. Wie lebendig Maren Ades wesensverwandtes (und nicht weniger manipulatives) Debüt Der Wald vor lauter Bäumen dagegen ist. Der rettende Hafen ist European Shooting Star Leonie Benesch, die ungleich nuancierter agiert als der Film um sie herum. (Sedat Aslan)
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (DEU 2023 · R: Sonja Heiss · Generation 14plus)
Eine gute Entscheidung – die Generation 14plus eröffnet mit Sonja Heiss‘ Verfilmung von Joachim Meyerhoffs frühen Jahren! Zwar ist es immer wieder entsetzlich, was Heiss an inhaltlich wichtigen Lücken reißt, doch letztendlich kann es bei einer zeitlich derartig begrenzten Verfilmung tatsächlich nur ein „Best-Off“ sein, ein „Medley“, das durch die Vorlieben und Interpretationen der Drehbuchautoren Sonja Heiss und Lars Hubrich austariert werden musste. Das funktioniert überraschend gut. Vor allem auch, weil Heiss und Hubrich nicht den Fehler begehen, den so viele deutsche Kinder- und Familienfilme begehen, in denen nur allzu gern die erodierenden Beziehungen der Eltern und ihr Leben als Trottelparade dargestellt werden. → Langkritik (Axel Timo Purr)
The Survival of Kindness (AUS 2022 · R: Rolf de Heer · Wettberwerb)
Cormac McCarthy goes Corona. Rolf de Heers Introspektion einer verseuchten Welt, in der nur noch die Indigenen ohne Gasmaske überleben können, ist jedoch nicht nur Statusbericht über den Verlust von Menschlichkeit während und nach Corona, sondern auch ein symbolisch und allegorisch aufgeladenes Paket über Rassismus, Kolonialismus und den Verlust von Sprache. So viel von allem und so wenig von nichts, dass man am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. (Axel Timo Purr)
Notre corps (FRA 2023 • R: Claire Simon • Forum)
Körper als Schlachtfeld. Claire Simon betritt sie in zyklischer wie fragmentarischer Form: Gebären, Kämpfen, Formen, Vergehen und dann alles von vorn. Routinen einer gynäkologischen Klinik. Die Geschichte der einen Person setzt sich in der einer anderen fort oder endet abrupt. Simon öffnet die Tür zur Tabuzone der Behandlungsräume: Krankheit, Schwangerschaft, Identitätskonflikte, Tod. Bewegende Konfrontationen in Nahaufnahme. Notre corps verbindet Menschen in biologischer Überwältigung. Operiert wird dabei doppelsinnig mit Bewegtbildern. Menschen verschmelzen mit Robotern im OP, um in andere einzudringen. Gewebeformen auf Monitoren. Zugleich: ein Versuch in puncto Empathie, wo objektivierende Blicke regieren. Ein Film, der die Berlinale, wahrscheinlich das ganze Kinojahr überdauern wird. (Janick Nolting)
She Came to Me (USA 2023 · R: Rebecca Miller · Berlinale Special Gala)
Es gehört schon eine Menge Mut dazu, die Berlinale mit einer romantischen Komödie zu eröffnen, einem aussterbenden und viel gescholtenen Genre. Aber jeder hat eine zweite Chance verdient, das gilt für die Berlinale genauso wie für die Protagonisten dieses leichten und harmlosen, dann aber auch feinfühligen und am Ende auch politischen Films, der einmal mehr die soziopolitischen Gräben in den USA bloßlegt und ein Schaulaufen für Peter Dinklage ist. Und dem es tatsächlich glaubhaft gelingt, ein in amerikanischen Filmen bislang nie gesehenes Berufsbild zu romantisieren. (Axel Timo Purr)