30.11.2023

Auf dem Sprung

Animal
Wie ein schmerzhafter Schnitt ins Fleisch: Sofia Exarchous Animal
(Foto: IFFMH 2023)

Das Internationale Filmfest Mannheim Heidelberg bot 2023 mit seinen bewährten Sektionen »On the Rise« und »Pushing the Boundaries« wieder aufregende und vitale Filmkunst, die viele Facetten und verschiedenste Strömungen des Weltkinos vorstellt, eines Weltkinos, bei dem ästhetische und kulturelle Diversität Hand in Hand gehen

Von Wolfgang Lasinger

Im Newcomer-Programm des Inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs »On the Rise« findet sich eine beacht­liche Auswahl an ersten und zweiten Filmen, die starke erzäh­le­ri­sche Posi­tionen zwischen Härte und Zärt­lich­keit vertreten.
Auf der einen Seite finden sich hier Filme, die einen aufwühlen und rich­tig­ge­hend durch­rüt­teln. Wie ein schmerz­hafter Schnitt ins Fleisch wirkt der mit dem Fipresci-Preis ausge­zeich­nete Animal von Sofia Exarchou. Kalia (in rück­halt­loser Perfor­mance gespielt von Dimitra Vlag­a­polou) leitet auf einer grie­chi­schen Insel eine Crew mit Animateur*innen, die für ein Hotel und Clubs die Pauschal­ur­lauber*innen unter­halten und in Stimmung bringen. Sie wirft sich mit uner­bitt­li­cher Hingabe in das ranschmeiße­ri­sche Anima­ti­ons­busi­ness, das auf gnaden­lose Bespaßung ausge­richtet ist. Der Film bleibt dicht und nah dran an den Figuren, fängt mit doku­men­ta­ri­schem Kame­ra­gestus Leben und Arbeit der Truppe ohne Beschö­ni­gung oder Über­höhung ein. Dabei wird alles Private, werden alle persön­li­chen Gefühlen bei Kalia verschlungen und aufge­sogen. Selbst an ihrem freien Abend zieht sie durch die Vergnü­gungs­lo­kale herum und beteiligt sich spontan an einer Karaoke-Veran­stal­tung für Touristen mit einer ihrer Bühnen­num­mern: Yes Sir, I can Boogie… Schiere Verzweif­lung wird unter der Ober­fläche spürbar.

Auf der anderen Seite finden sich ausge­spro­chen stille Filme, die ihre behutsam geführten Erzäh­lungen in eine stille Poesie der Land­schaft, der Atmo­sphäre einbetten.
Eher skiz­zen­haft, impres­sio­nis­tisch geschieht das bei Lucy Kerr in Family Portrait, die eine Groß­fa­milie auf ihrem parkähn­li­chen Anwesen in Texas bei den Vorbe­rei­tungen für ein Grup­pen­bild beob­achtet. Wie dabei immer mehr Irri­ta­tionen um die verschwunden schei­nende Mutter feine Risse in dem selbst­be­wussten Gefüge des Zusam­men­halts erkennen lassen, das ergibt einen großen kleinen Film mit unauf­dring­li­chem, fein­sin­nigem Gespür.

Mehr ins Para­bel­hafte, Hiera­ti­sche gewendet findet sich die leise Erzähl­weise in dem liba­ne­si­schen Riverbed von Bassem Breche, der eine kompli­zierte Mutter-Tochter-Konstel­la­tion in einer die Frauen bevor­mun­denden patri­ar­chalen Gesell­schaft zeigt. Die visuell eindring­li­chen Totalen erinnern immer wieder an Antonioni oder Ange­lo­poulos. Das ist zwar nicht immer von Bemüht­heit frei, doch die Gewollt­heit der Form ist als Ausdruck eben jener Beschrän­kungen, die den Frauen auferlegt sind, zu sehen und erlangen so auch eine sinnliche Anschau­lich­keit.

Auch der Italiener Marco Righi folgt in seinem Film Where the Wind Blows einem zurück­ge­nom­menen Erzähl­stil. Der italie­ni­sche Titel Il vento soffia dove vuole verweist direkt mit dem Titel eines Bresson-Films, Un condamné à mort s’est échappé ou Le vent souffle où il veut, auf eines seiner Vorbilder. Das aus dem Johannes-Evan­ge­lium stammende Zitat meint die Epiphanie des Brausens des Windes in der Natur und ist als Zeichen der gött­li­chen Gnade zu lesen. Die drama­tur­gi­sche Konzep­tion der Haupt­figur vermag zwar nicht ganz zu über­zeugen: doch ist die Geschichte des einstigen Pries­ter­zög­lings Antimo, der auf dem Bauernhof seines Vaters arbeitet, von einer einfachen Kraft, die an Unaus­sprech­li­ches rührt. Antimos verfehlte Berufung zum Heiligen holt ihn ein, als er den unge­tauften Lazzaro kennen­lernt und diesen in eigen­mäch­tiger Weise, zum Glauben zu bekehren beginnt und in die »Kirche der Erde« aufnimmt. Es überzeugt hier weniger der spiri­tu­elle Gehalt der Geschichte, es ist vor allem die schlichte Macht der Bilder, die die ländliche Umgebung des Bauern­dorfes in den Abruzzen und die darin arbei­tenden Figuren ohne Präten­tion zeigen. Das einfache Leben wird nicht verklärt oder um seine modernen und tech­ni­schen Elemente beschnitten, dennoch erhält es einen stillen Glanz, der ganz aus dem aufmerk­samen und gedul­digen Blick der Kamera erwächst.

Insgesamt zeigte sich die Reihe »On the Rise« auch mit Filmen aus Ländern mit sonst weniger reprä­sen­tierten Kine­ma­to­gra­phien wie Pakistan (der paki­sta­ni­sche Film In Flames von Zarrar Kahn gewann den Wett­be­werb), Indo­ne­sien oder Nepal als gelun­genes Programm, das auf den Spuren des Dritten Kinos ein schönes Bild des Global Art Cinema zeichnet.

Die Reihe »Pushing the Boun­da­ries« wartete neben großen bewährten Namen wie Wim Wenders mit seinem in Japan ange­sie­delten Perfect Days oder Sofia Coppola mit ihrem Priscilla-Biopic mit erzäh­le­ri­scher Power aus Latein­ame­rika auf. Der Argen­ti­nier Rodrigo Moreno verschiebt mit seinem dreis­tün­digen Alltags­thriller Los delin­cuentes über einen unkon­ven­tio­nellen Bankraub die Genre-Grenzen des Heist-Movies in surrealen Exis­ten­tia­limus mit hinter­grün­digem Humor.

Der andere groß­ar­tige Film aus Latein­ame­rika beim Filmfest Mannheim-Heidel­berg, der Sied­ler­wes­tern Los colonos von Felipe Gálvez aus Chile, lief in der neuge­schaf­fenen Reihe »Film­scapes«. Die Konzep­tion dieser Reihe wirkt noch etwas impro­vi­siert, scheint sie doch Filme zu sammeln, die auch in den anderen Sektionen gut aufge­hoben gewesen wären. Hier sind auch hoch­karä­tige Namen vertreten (der neueste Frederick Wiseman oder Nuri Bilge Ceylan etwa), aber auch neue aufstre­bende Regis­seure, die auf dem Sprung sind – der beein­dru­ckende viet­na­me­si­sche Inside the yellow Cocoon Shell von Pham Thien An wartete mit wirklich unge­heuren Plan­se­quenzen auf, wie man sie lange nicht mehr gesehen hat im Kino.