Auf dem Sprung |
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Wie ein schmerzhafter Schnitt ins Fleisch: Sofia Exarchous Animal | ||
(Foto: IFFMH 2023) |
Im Newcomer-Programm des Internationalen Wettbewerbs »On the Rise« findet sich eine beachtliche Auswahl an ersten und zweiten Filmen, die starke erzählerische Positionen zwischen Härte und Zärtlichkeit vertreten.
Auf der einen Seite finden sich hier Filme, die einen aufwühlen und richtiggehend durchrütteln. Wie ein schmerzhafter Schnitt ins Fleisch wirkt der mit dem Fipresci-Preis ausgezeichnete Animal von Sofia Exarchou. Kalia (in
rückhaltloser Performance gespielt von Dimitra Vlagapolou) leitet auf einer griechischen Insel eine Crew mit Animateur*innen, die für ein Hotel und Clubs die Pauschalurlauber*innen unterhalten und in Stimmung bringen. Sie wirft sich mit unerbittlicher Hingabe in das ranschmeißerische Animationsbusiness, das auf gnadenlose Bespaßung ausgerichtet ist. Der Film bleibt dicht und nah dran an den Figuren, fängt mit dokumentarischem Kameragestus Leben und Arbeit der Truppe
ohne Beschönigung oder Überhöhung ein. Dabei wird alles Private, werden alle persönlichen Gefühlen bei Kalia verschlungen und aufgesogen. Selbst an ihrem freien Abend zieht sie durch die Vergnügungslokale herum und beteiligt sich spontan an einer Karaoke-Veranstaltung für Touristen mit einer ihrer Bühnennummern: Yes Sir, I can Boogie… Schiere Verzweiflung wird unter der Oberfläche spürbar.
Auf der anderen Seite finden sich ausgesprochen stille Filme, die ihre behutsam geführten Erzählungen in eine stille Poesie der Landschaft, der Atmosphäre einbetten.
Eher skizzenhaft, impressionistisch geschieht das bei Lucy Kerr in Family Portrait, die eine Großfamilie auf ihrem parkähnlichen Anwesen in Texas bei den Vorbereitungen für ein Gruppenbild beobachtet. Wie dabei immer mehr Irritationen um die verschwunden scheinende Mutter feine
Risse in dem selbstbewussten Gefüge des Zusammenhalts erkennen lassen, das ergibt einen großen kleinen Film mit unaufdringlichem, feinsinnigem Gespür.
Mehr ins Parabelhafte, Hieratische gewendet findet sich die leise Erzählweise in dem libanesischen Riverbed von Bassem Breche, der eine komplizierte Mutter-Tochter-Konstellation in einer die Frauen bevormundenden patriarchalen Gesellschaft zeigt. Die visuell eindringlichen Totalen erinnern immer wieder an Antonioni oder Angelopoulos. Das ist zwar nicht immer von Bemühtheit frei, doch die Gewolltheit der Form ist als Ausdruck eben jener Beschränkungen, die den Frauen auferlegt sind, zu sehen und erlangen so auch eine sinnliche Anschaulichkeit.
Auch der Italiener Marco Righi folgt in seinem Film Where the Wind Blows einem zurückgenommenen Erzählstil. Der italienische Titel Il vento soffia dove vuole verweist direkt mit dem Titel eines Bresson-Films, Un condamné à mort s’est échappé ou Le vent souffle où il veut, auf eines seiner Vorbilder. Das aus dem Johannes-Evangelium stammende Zitat meint die Epiphanie des Brausens des Windes in der Natur und ist als Zeichen der göttlichen Gnade zu lesen. Die dramaturgische Konzeption der Hauptfigur vermag zwar nicht ganz zu überzeugen: doch ist die Geschichte des einstigen Priesterzöglings Antimo, der auf dem Bauernhof seines Vaters arbeitet, von einer einfachen Kraft, die an Unaussprechliches rührt. Antimos verfehlte Berufung zum Heiligen holt ihn ein, als er den ungetauften Lazzaro kennenlernt und diesen in eigenmächtiger Weise, zum Glauben zu bekehren beginnt und in die »Kirche der Erde« aufnimmt. Es überzeugt hier weniger der spirituelle Gehalt der Geschichte, es ist vor allem die schlichte Macht der Bilder, die die ländliche Umgebung des Bauerndorfes in den Abruzzen und die darin arbeitenden Figuren ohne Prätention zeigen. Das einfache Leben wird nicht verklärt oder um seine modernen und technischen Elemente beschnitten, dennoch erhält es einen stillen Glanz, der ganz aus dem aufmerksamen und geduldigen Blick der Kamera erwächst.
Insgesamt zeigte sich die Reihe »On the Rise« auch mit Filmen aus Ländern mit sonst weniger repräsentierten Kinematographien wie Pakistan (der pakistanische Film In Flames von Zarrar Kahn gewann den Wettbewerb), Indonesien oder Nepal als gelungenes Programm, das auf den Spuren des Dritten Kinos ein schönes Bild des Global Art Cinema zeichnet.
Die Reihe »Pushing the Boundaries« wartete neben großen bewährten Namen wie Wim Wenders mit seinem in Japan angesiedelten Perfect Days oder Sofia Coppola mit ihrem Priscilla-Biopic mit erzählerischer Power aus Lateinamerika auf. Der Argentinier Rodrigo Moreno verschiebt mit seinem dreistündigen Alltagsthriller Los delincuentes über einen unkonventionellen Bankraub die Genre-Grenzen des Heist-Movies in surrealen Existentialimus mit hintergründigem Humor.
Der andere großartige Film aus Lateinamerika beim Filmfest Mannheim-Heidelberg, der Siedlerwestern Los colonos von Felipe Gálvez aus Chile, lief in der neugeschaffenen Reihe »Filmscapes«. Die Konzeption dieser Reihe wirkt noch etwas improvisiert, scheint sie doch Filme zu sammeln, die auch in den anderen Sektionen gut aufgehoben gewesen wären. Hier sind auch hochkarätige Namen vertreten (der neueste Frederick Wiseman oder Nuri Bilge Ceylan etwa), aber auch neue aufstrebende Regisseure, die auf dem Sprung sind – der beeindruckende vietnamesische Inside the yellow Cocoon Shell von Pham Thien An wartete mit wirklich ungeheuren Plansequenzen auf, wie man sie lange nicht mehr gesehen hat im Kino.