Filmvibrationen |
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Ausdruckstarkes Abdriften: Lucy Kerrs Familiy Portrait | ||
(Foto: IFFMH · Lucy Kerr, Familiy Portrait) |
Von Dunja Bialas
Wie eine weibliche Leiche, die sich ans Ufer gerettet hat, sieht sie aus. Ihr tiefnasses Haar klebt am Kopf, das zartrosafarbene Hemdchen glitscht Katy am Leib. Ihre Augen sind seltsam schwarz und ausdruckslos, als sei das Leben aus ihr entwichen. Sie ist ein bildliches Echo aus dem Traum, den sie ihrem Freund am Vormittag, noch schlaftrunken erzählt hat: von der Mutter, deren Augen ausdruckslos werden und die den Kontakt zur irdischen Welt verliert.
Dieses kurze Bild der Wiedergängerin aus dem Wasser schiebt sich als irritierender Störmoment in das Langfilmdebüt Family Portrait der amerikanischen Filmemacherin Lucy Kerr. Immer wieder kehren nach dem Sehen die Gedanken zu diesem Bild zurück, an eine Stelle, die auch wie ein Fehler wirkt, wie ein Anschlussfehler, der doch beabsichtigt ist. Wenn die Aufmerksamkeit an einer Stelle hängen bleibt, ist das – so hat es Roland Barthes für die Fotografie beschrieben – die Stelle oder das »Punctum«, das subversiv die Bildintention unterläuft und Rätsel aufgibt. Der kurze Filmmoment in Family Portrait ist das Punctum des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelbergs: Er ist enigmatisch, verstörend, abgründig, und zieht inmitten eines in Pastellfarben gemalten Portraits einer texanischen Familie tiefe Zweifel über das familiäre Konstrukt ein.
Kerrs Film war im Wettbewerbsprogramm »On the Rise« zu sehen und einer der wenigen Filme, die akademisch verwurzelt und zugleich in der Kunst beheimatet sind. Als choreographierte Familienaufstellung entwirft Family Portrait den Familienzusammenhalt und auch das Auseinanderdriften der Familie als vielgliedrige Körperskulptur, ähnlich wie ihr Kurzfilm Site Of Passage. Ein großartiger Auftakt des Films, wenn Katy, das narrative Zentrum dieser weißen Mittelstandsfamilie, an den Armen ihrer Cousins, Cousinen, Tanten, Schwager und Nichten zieht und das große Chaos der auseinanderstrebenden Menschen zum Flussufer hindrängt, wo das Foto aufgenommen werden soll.
Das Festival von Mannheim-Heidelberg ist einer der wenigen Orte weltweit, an denen Filmen wie dem von Kerr noch einmal eine herausragende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Wettbewerb »On the Rise« versammelt Werke, die im Aufbruch begriffen sind, von Filmemacher*innen, die zwar gerade erst beginnen, aber auch schon deutlich vernehmbar sind. Anders als andere »Newcomer«-Festivals – das 1952 gegründete Festival von Mannheim-Heidelberg ist unter ihnen das älteste –, akzentuiert Festivalleiter Sascha Keilholz für seine Programmauswahl den Nachwuchsgedanken jedoch nicht. Ihm ist wichtiger, dass die gezeigten Debütfilme eine starke Handschrift zeigen und auf einen Horizont des Kinos hindeuten, an dem sich zukünftige Erzählungen und Erzählweisen erahnen lassen. Dafür verzichtet er auch auf das sonst so wichtige Postulat der Weltpremieren. Festivals wie Rotterdam, Locarno, Venedig und Cannes versammeln, wenn sie erste Film zeigen, auch die interessanten Filme. So wie Lucy Kerr, die ihren stillen und berückenden Film als erstes in Locarno gezeigt hat. Das lässt sich schwer überbieten, will man Weltklasse zeigen.
Das Auswahlkriterium für den Wettbewerb des IFFMH lässt sich als eine Cinephilie der Filmemacher*innen beschreiben, die kaum Kompromisse eingeht und deshalb so stark wirken kann. Jede der Handschriften der 16 Wettbewerbsfilme ist eigen und ungewöhnlich, bisweilen irritierend und herausfordernd und versetzt die Zuschauer*innen in einen ästhetischen Unruhezustand: auch das Publikum befindet sich, angesichts der neuen Stimmen des Kinos, »on the rise«.
Besonders intensiv wirkte Animal der griechischen Regisseurin Sofia Exarchou, der für den Europäischen Filmpreis nominiert ist und beim IFFMH den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik erhielt. Auch dieser Film ist ein Gruppenportrait. Er zeigt Saison-Arbeiter*innen, die als Animateure für ein All-inclusive-Hotel in Griechenland arbeiten. Animal führt die Entmenschlichung innerhalb eines als »Themenpark« aufgefassten Urlaubs vor, und zeigt die langsame Erosion von Kalia, einer erfahrenen und müde gewordenen Animateurin, die in Sex- und Alkohol-Exzessen neue Energie für die nächsten Animationsnummern zu tanken sucht – und dabei unweigerlich untergeht. Ein energetischer, rauer, verstörender und authentisch wirkender Parforceritt, für den Dimitra Vlagopoulou in Locarno den Preis als beste Darstellerin bekam. Dazu kommen die choreographierten Auftritte der Animateure, die immer wieder höchst poetische Momente in der dysphorischen Arbeitswelt entfalten – aber auch entsetzliches Fremdschämen beim Zuschauer für reflexartig klatschenden Urlauber. Auch wenn sie sich für das Urlaubsvolk wenig interessiert, denunziert Exarchou jedoch nicht, wie es vielleicht ein Ulrich Seidl gemacht hätte. Animal, mit seinen einsamen Individuen in einer entfremdeten Welt kühler Tauschverhältnisse, wirkt eher wie eine tröstliche Umarmung: Im performenden Tier, dem Animal, sieht Exarchou auch die Seele, die Anima.
Family Portrait und Animal entfalten einen intensiven Filmflow, verzichten auf eine klassische Narration mit Plotpoints und Figurenkonflikten. Die Protagonisten sind hier im Zwiespalt mit ihrem Milieu, das Sujet verlagert sich hin zu den Rändern, die unsere (reale) Welt berühren. So ergibt sich, ganz nahe an den Figuren dran, ein langsamer und stetiger, sich aufs Ungewisse öffnender Erzählfluss.
The Sweet East des New Yorkers Sean Price Williams erhielt den Rainer-Werner-Fassbinder-Preis für das beste Drehbuch. Williams’ Film erzählt aber eher von dem Ausbruch aus dem Plot-Gefängnis, wie es Drehbücher mit ihren Plotpoints und Twists bisweilen sind. In unaufgeregter Linearität erzählt der Film davon, wie Lillian als feministische Picara, eine Schelmin, an immer neue Herren gerät, die ihr die abgründigen Ecken amerikanischer Parallel-Communities zeigen. Alles beginnt mit dem Schritt hinter den Spiegel auf dem Klo eines abgerockten Clubs beim Klassenausflug. An der Seite eines Aktivisten gerät sie auf einer Antifa-Demo in die Fänge eines Anhängers der White Supremacy, bei dem zu Hause sie dann in Hakenkreuz-Bettwäsche schläft – das ist großartig-ironischer Agitprop. Sie rettet sich in die Arme einer Gruppe homosexueller Islamisten mit verstörenden Männerbund-Ritualen, entkommt ihnen und gerät in die Fänge moralisierender Mönche. Um schließlich, wie mit einem Fingerschnippen, wieder zu ihren langweiligen Klassenkameradinnen in ihrem Heimatort und in die Enge ihres Elternhauses zurückzukehren.
Sean Price Williams schert sich keinen Deut um Erzähllogik, Figurengestaltung oder gar Plausibilität, er hält es eher wie der britische Filmanarchist Andrew Kötting und macht einfach nur, was er will. Der Drehbuchpreis für The Sweet East kam deshalb zwar überraschend, wurde aber als gleichfalls anarchistische Jury-Entscheidung sehr begrüßt.
Anders als diese absichtsvoll trashige Film-Karnevalske gefiel sich der von Wim Wenders co-produzierte italienische Wettbewerbsbeitrag An Endless Sunday in endloser Überbietungsästhetik. Drei jugendliche Drifter durchstreifen die Outskirts von Rom als engergiegeladene und halbkriminelle Kombo, die allenfalls vielleicht auf den Weg der Tugend zurückfinden kann. Brenda ist von Alex schwanger, Kevin ist der jüngste und draufgängerischste von ihnen. Regisseur Alain Parroni porträtiert das Dreier-Gespann als Ausgestoßene und Perspektivlose, die die Welt als einzigen Jahrmarkt erleben – zumindest steigert sich die Kamera von Andrea B. Manenti in immer neue Höhenflüge und gekippte Perspektiven hinein, ohne dass ihr jemals der Atem ausginge, im Gegenteil. Das produziert permanent ästhetischen Überschuss, der zwar gut zu den immer aufgeregten Protagonisten passt, aber auch wahnsinnig auf die Nerven geht, buchstäblich. Ruhe kehrt nur kurz ein, als Lars Rudolph in seiner ganzen Kauzigkeit auftreten darf.
Die Erfahrung des zeitgenössischen Italiens als Coming of Age versieht An Endless Sunday mit einem dicken Ausrufezeichen. Zurück bleibt eine schale Poetik der Misere und ein entleertes Neorrealismo-Zitat, der Film konnte aber die Jury in Venedig, wo der Film seine Premiere feierte, überzeugen (Orrizonti-Spezialpreis) wie auch die ökumenische Jury von Mannheim-Heidelberg.
Akzentuieren könnte man auch die Mystifizierung der Welt, die im Überbietungsgestus von An Endless Sunday ebenfalls enthalten ist. Auch andere Film des Wettbewerbs wirkten magisch-mystifizierend, was sich neben dem Flow als ein weiterer Trend des diesjährigen Programms ausmachen ließ. Erwähnenswert ist Marco Righis sehr meditativer Where The Wind Blows (Il vento soffia dove vuole), ein fernes Echo auf Robert Bressons Un condamné à mort s'est échappé ou Le vent souffle où il veut. Hier wird der Katholizismus, der auch schon in An Endless Sunday eine Rolle spielte, in das Rauschen der Bäume auf dem Land gebettet, während sich Inzest unter einem Geschwisterpaar andeutet. Immer wieder wird der Beichtstuhl aufgesucht, und über allem steht die Frage: Kann man jemanden zum Glauben bringen? Und, viel allgemeiner: Was ist ein guter Mensch? Und dann gibt es noch den von der Gemeinschaft ausgestoßenen Lazarus. Er verweist nicht nur auf die biblische Wiedergängerfigur, sondern im Dialog der Filme auch auf Lars Rudolph, den skurrilen Einsiedler bei Alain Parroni.
Ganz auf die Mystik und die Möglichkeit, Brüche in der Erzähllogik zu erzeugen, vertraute The Red Suitcase des nepalesischen Filmemachers Fidel Devkota, der im Nachgang an Eindrücklichkeit gewann. Etwas zu subtil geht es hier um die nepalesischen Wanderarbeiter, die in Katar oft mit ihrem Leben bezahlen – und um den nepalesischen Bürgerkrieg Anfang des neuen Jahrtausends, der im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung weiterlebt – mehr Explizitheit, mehr Realismus hätten dem Film gut getan. Die vom hinduistischen Glauben an die Wiedergeburt genährten Visionen und Träume aber lassen den Film auch schweben.
Brachialer ging es im ebenfalls mythendurchzogenen in Flames zu. Der heute in Kanada lebende Pakistani Zarrar Kahn erzählt von der Übergriffigkeit des Patriarchats auf zwei eigenständige Frauen. Mutter und Tochter gehen ihren ganz eigenen Weg, sie wurde nach einer traumatischen Erfahrung Alleinerziehende, die Tochter studiert jetzt Medizin und beginnt hinter dem mütterlichen Rücken zarte Bande zu einem Kommilitonen zu knüpfen. Über allem wacht der tyrannische Onkel, Bruder des verstorbenen Vaters. Die Dämonen des Patriarchats inszeniert Zarrar Kahn als Hommage an den pakistanischen Horrorfilm, was aber die Ungereimtheiten der Figurenverhältnisse nicht überspielen kann. Dennoch gab es von der Jury den International Newcomer Award, den Hauptpreis des Festivals.
Was Mannheim auch noch ist: Ein Ehrenpreis, mit dem das Team des Festivals einen Filmemacher mit einer innovativen und eindrücklichen Handschrift ehrt, und dabei auch ganz der eigenen Subjektivität folgen darf. Dieses Jahr wurde Nicolas Winding Refn mit dem Grand IFFMH Award ausgezeichnet. Nach der Vorstellung von Drive, der auch über zehn Jahre nach seiner Entstehung auf der Leinwand immer noch bedrückende Gewalt entwickelt, stand er persönlich auf der Bühne, ein bewegender Moment für die vielen Fans im Kinosaal. Weiße Sohlen, dunkelblaue Chino, graues Leinenhemd, schwarze Hornbrille. Da Refn im Gespräch mit dem Moderator glaubhaft für sich behauptet, ein femininer Typ zu sein: Sollten die von ihm inszenierten Gewaltexzesse deshalb vielleicht als Kompensationsanstrengungen gelten? Und die weiblichen Figuren und der punktgenaue Einsatz des Soundscapes wären dann wiederum die spezifischen Ausdrucksweisen des »femininen« Regisseurs. Sein Filmemachen beschreibt Refn als tastend, von Szene zu Szene erkunde er, wohin sich die Geschichte entwickeln könnte. Der kraftvoll-traumhafte Film-Flow war damit sektionenübergreifend stilgebend für die diesjährige Ausgabe von Mannheim-Heidelberg – und für ein narratives Kino, das auch aus der Vergangenheit kommend in Richtung Zukunft weist.