Gegen-Erzählungen – Conte sexuel |
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Im letzten Sommer: eine (Gegen-) Erzählung um weibliche Sexualität... | ||
(Foto: Alamode Film) |
Von Anna Bitter
Für einen Film, der von einem Sommer erzählt, beginnt Catherine Breillats L’été dernier (deutsch: Im letzten Sommer) auffallend kalt: Anne, eine erfolgreiche Anwältin, sitzt ihrer jungen Mandantin gegenüber und stellt Fragen über das Sexualleben ihres Gegenübers. Mit wie vielen Männern sie im
letzten Jahr geschlafen habe? Das Mädchen antwortet »mit sieben«, und ob das viele seien. Anne stellt klar, dass es nicht darum ginge.
Gleich in der Eröffnungsszene ihres neues Films, der 2023 im Wettbewerb von Cannes lief, zeichnen sich die wesentlichen Konturen von Breillats filmischer Arbeit ab. Ihre Filme setzen sich offen mit weiblicher Sexualität auseinander, und das seit den Anfängen ihres Schaffens, den 1970er Jahren, in denen es – in Anschluss an die zweite
Frauenbewegung – darum ging, abseits männlicher Fantasie und verklärter Mythen, neue Bilder für diese weibliche Sexualität zu finden. Dabei wurden ihre Filme oft als Provokationen missverstanden. Ungewohnt grafische Darstellungen von Sex brachten ihr gar den Vorwurf der Pornografie ein. Doch sucht Breillats Kino, anders als in der kapitalisierenden Ordnung des Pornografischen, nicht nach dem Bild gefügiger Körper. Es bewegt sich vielmehr abseits gängiger Darstellungen
und reicht bisweilen in Bereiche hinein, die unbequem sind. Auch L’été dernier strapaziert seine Zuschauer*innen in dieser Hinsicht, denn Anne beginnt nur wenig später eine Liebesbeziehung mit dem 17-jährigen Sohn ihres Lebensgefährten. Das Zeitfenster eines Sommers bildet den Rahmen dieses Familienportraits, das zunehmend starke Risse aufzeigt. Die Frage nach Machtgefällen in
sexuellen Beziehungen begleitet das Filmgeschehen und wird spätestens dann offensichtlich, als Anne versucht, ihre Position als Erwachsene gegen den Jungen auszuspielen. Trotz Wissens um die rechtswidrige Dimension ihres Verhältnisses, hält das Paar an der Beziehung fest, in der Verbot, Dominanz und Unterwerfung als Faktoren erotischer Fantasien und Liebesbeziehungen sichtbar werden.
Das besondere Interesse an der sexuellen Biografie von Frauen und weiblichem Begehren
lässt sich dabei als Spur weit in Breillats Werk hinein verfolgen. Ein Grund mehr für einen Rückblick auf einige Stationen ihres filmischen Schaffens.
Ihre Karriere als Regisseurin beginnt Catherine Breillat 1976 mit Une vrai jeune fille. Ein Film basierend auf ihrem Roman »Le Soupirail«, der 2001 unter dem Titel »Ein Mädchen« auch in Deutschland erschien. Une vrai jeune fille begleitet seine Protagonistin mit dem vielsagenden Namen Alice geradewegs vom Internat zum Haus ihrer Eltern auf dem französischen Land, wo ihr Vater ein Sägewerk betreibt. Das Haus liegt verlassen, die
Familie bildet das einzige unmittelbare Umfeld der jungen Heranwachsenden. Kein Wunder, dass sich Alice eingesperrt fühlt. Ihr dunkles Zimmer wirkt wie eine Gefängniszelle, ihre Eltern verbieten ihr das Herumstreunen, sie klebt wie die Fliege am Leim.
Doch Alice verschafft sich innerhalb dieser Welt ihren eigenen Raum. Popkultur und Postkartenansichten werden der jungen Protagonistin zu Ausgangspunkten ihrer sexuellen Fantasien, in die das Filmgeschehen immer wieder
abschweift. Zum Katalysator jener ersten Zuwendung zu der eigenen Sexualität wird dabei die Kamera selbst. Die Einstellungen sind zuweilen so gewählt, dass sie zur symbolträchtigen Aufladung des Gezeigten beisteuern: Einmal rinnt im Detail ein rohes Ei durch ihre Finger, wie besessen haftet der Blick an allem, was flüssig und klebrig ist. Sie hat keine Angst vor Symbolen, kommentiert Alices Stimme, die als innerer Monolog das Geschehen begleitet, während sie sich mit roter Tinte einen
Punkt auf ihr Kleid malt, genau auf der Höhe ihres Geschlechts.
In ihrer offensiven Sicht auf Sexualität, der umfassenden Erotisierung des Umfeldes und der hemmungslosen Pluralisierung der Metaphern für weibliches Begehren positioniert sich Breillats Film in Reichweite feministischer filmtheoretischer Ansätze ihrer Zeit. Etwa jenen der US-amerikanischen Autorin Linda Williams, die in ihrem viel beachteten Buch »Hard Core« etwas später – in den 90ern – formuliert:
»The project of representing women’s Desire is not simply a matter of subdoing the phallus or curtailing it’s symbolization; rather as Jessica Benjamin argues in 'A desire of ones own', it is a matter of replacing the monopoly on the sexual subjectivity that this phallus stands for, it’s monolithic symbolization of desire.«
(Linda Williams, Hard Core, Pandora Press 1990, S. 258)
Übersteigerte Sichtbarkeit wird bei Breillat zum ästhetischen Programm, das sich die Präsenz weiblicher Sexualität im Kino einfordert. Dem Eichwert des monolithischen Einen will Breillats Kino ganz sicher nicht mehr gerecht werden.
In einer Art Zustand des Überflusses bewegt sich auch die Protagonistin von Tapage nocturne (1979). Solange ist Regisseurin. Night After Night (engl. Verleihtitel des Films), trifft sie »man after man«, während sie doch eigentlich verheiratet ist (mit einem Produzenten) und doch eigentlich schon ihre Augen auf Jim geworfen hat (die männliche Hauptrolle ihres nächsten Films) und doch eigentlich verliebt ist in Bruno (ein Regisseur,
den sie bei Freunden kennenlernt). Das bringt die Protagonistin konkret in eine Situation, die schwer zu managen ist – muss sie doch alle Geliebten unter einen Hut bekommen. Die Unmöglichkeit emotionaler und zeitlicher Verwaltung der parallelen Beziehungen zeigt sich hier, ebenso wie Polyamorie, als gelebte Wirklichkeit einer Frau. Anders jedoch als ihr Erstlingswerk unterstreicht Tapage nocturne deutlicher die masochistische Tendenz seiner
weiblichen Protagonistin, die sich vor allem zu dem unnahbaren Bruno hingezogen fühlt.
Breillat entwickelt ihre Stärken vor allem dort, wo sie sich, wie schon in Une vrai jeune fille, den Geschichten junger Heranwachsender widmet.
Lolita ’90 (1988), dessen Originaltitel 36 fillette lautet, ist Breillats dritter Film und transportiert uns zurück in die Jahre einfacher Camping-Urlaube mit den Eltern am Meer. Für die junge Lili ist die Enge der Familie, die sich in Gestalt des Campers materialisiert, schwer zu ertragen. Angehalten von den beengten Verhältnissen, in denen sie lebt und in denen sie selbst noch Urlaub macht, will sie nichts mehr, als ihre
Jungfräulichkeit verlieren. Ein Konzept, das – mit der Vorstellung des Unschuldsverlusts einerseits, andererseits durch Einflüsse der Popkultur mit dem Druck des perfekten ersten Mals besetzt – junge Frauen mit Freiheitswunsch in moralische Engpässe führt.
Catherine Breillat nimmt sich der Komplexe an, die Konzepte wie dieses im Individuum zeitigen. Sie positioniert ihre Protagonistin mit viel Gespür zwischen jugendlicher Verschwendungssucht und
aufsparender Zurückhaltung. Ökonomisch gesehen zwei Dinge, die sich ausschließen, hier allerdings als das emotionale Tagesgeschäft einer jungen Heranwachsenden in den Blick rücken. Und so lässt sich Lili alias Lolita, die dem Geist ihrer Freizügigkeit die Lebensform des Trampens verpasst, von dem viel älteren Maurice mitnehmen, zunächst in einen Tanzschuppen, dann in seine Hotelsuite – schafft es allerdings nicht, mit ihm zu schlafen. Der Gefühlswelt der jungen Frau wird
viel Platz eingeräumt. Anstatt verklärter Bilder des perfekten ersten Mals, steht hier ein gestisches Repertoire an Uneindeutigkeiten und die Unentschiedenheit der Protagonistin im Vordergrund.
Zum zentralen Instrument dieser Aushandlung wird dabei mitunter das Sprechen selbst. Immer wieder bildet es Zufluchtsort, ist es Garantie eines Aufschubs körperlicher Liebe und ermöglicht deren Reflexion. Körperliche Beziehungen treten bei Breillat so als Orte permanenter,
unabgeschlossener Aushandlung und Verhandlung des eigenen Begehrens in den Blick. Ein Moment, in dem Breillats Filme durchaus Anschluss finden an die aktuelleren Debatten um Einvernehmlichkeit in sexuellen Beziehungen. Der Sex, den Lili schließlich mit Maurice haben wird, bleibt oral. Eine einseitige Befriedigung, nach der sich Maurice wortlos aus der Affäre zieht. Der Einzige, mit dem sich Lili im Laufe des Films verständigt, bleibt somit Jean-Pierre Léaud, der in 36 fillette in einer kleinen Nebenrolle als Pianist auftritt. Lili begegnet ihm auf ihrem Streifzug durch die Nacht zufällig in der Lobby eines Konzerthauses. Er scheint ihre Situation wirklich zu begreifen. Vielleicht, weil auch er einst in der Rolle des Antoine Doinel – als eine der wenigen Figuren der Filmgeschichte vor unseren Augen großgeworden – alle Leidenschaften und Enttäuschungen des Erwachsenwerdens durchlebt hat.
Auch À ma soeur! (2001) versetzt in die beengte Welt eines Familienurlaubs. Die Geschichte um ein ungleiches Schwesternpaar spielt sich vor dem Hintergrund einer tristen Ferienanlage am Meer ab. Dort lernt Elena in einem Strandlokal einen jungen Italiener kennen, der, dem Juwel ihrer Jungfräulichkeit wegen, zum Hochstapler wird und ihr in Folge des ersten Treffens Liebesgeständnisse und Versprechungen macht. Fernando wird der Coup schließlich gelingen: mit dem gestohlenen Ring seiner Mutter überredet er das junge Mädchen zum ersten Sex. Zur Beobachterin in erster Reihe avanciert die jüngere Schwester Elenas, Anaïs, die ganz verschieden ist und sich auch gleich schwört, einem Mann niemals diesen Triumph zu gewähren. Ihr erstes Mal wünscht sich die jüngere Schwester, entgegen den Verheißungen romantischer Liebe, dann lieber mit einem Mann, den sie nicht liebt.
Breillat konzipiert ihr Kino, das lassen Filme wie À ma soeur! deutlich werden, als zielsichere Attacken gegen verklärende Darstellungen von Sexualität und romantischer Liebe.
Diesen Ansatz lässt sie auch in Sex is Comedy (2002) konkret sichtbar werden, der als Herstellungsgeschichte von À ma soeur! angelegt ist.
Die Zeit rennt dem Filmteam davon, aber sie sollen sich vor der Kamera küssen, als sei es bis in alle Ewigkeit. Zentrale Figur des Films ist die Filmregisseurin Jeanne, die gerade einen Film mit dem Titel »Scènes intimes« dreht. Wir sehen sie mit einem Schauspielerpaar am Strand eine Liebesszene umsetzten, bei unverschämt kalten Temperaturen. Diese Eiseskälte aber darf nicht zu sehen sein, alle sollen sich
so bewegen, wie an einem warmem Sommertag.
In dem sie sich unmittelbar an dessen Produktionsstätte begibt, das Filmset, gelingt es Breillat, die Frage nach der Repräsentation von Sex im Kino explizit werden zu lassen. Damit ist nicht allein die Schwierigkeit der Inszenierung von Intimität vor der Kamera gemeint, sondern allgemeiner die Frage aufgeworfen, wie Sex gezeigt wird. Der komödiantische Effekt setzt in Sex is Comedy gerade zwischen realer
Praxis und dem nach außen getragenen 'Image' ein; er liegt in der Dissonanz dieser beiden Ebenen. Phänomene der Unstimmigkeit sind in Sex is Comedy – der Titel wird Programm – an allen Ecken und Enden zu finden: Am Strand regnet es, und gleichzeitig scheint die Sonne, der Mühlstein aus den Studiokulissen ist schwer und leicht zugleich, eine steife Penisprothese will nicht halten… er braucht noch 20 Minuten, sagt der Visagist, der einen Koffer
voller Prothetik in der Reserve hält. Das heißt: schon wieder warten, an einem Ort, an dem chronisch Zeitmangel herrscht.
Barbe bleue (Blaubarts jüngste Frau, 2009) scheint auf den ersten Blick ein wenig aus der Reihe ihrer stilistisch doch einander sehr annäherungsfreudigen Filme zu fallen. Breillat versetzt die Handlung ihres Films nach kurzer Rahmenerzählung aus der modernen Welt in die Tableaus einer mittelalterlichen Märchenkulisse, in der ein junges Mädchen aus armen Verhältnissen mit dem frauenmordenden Blaubart verheiratet wird. Streng genommen ist Breillats Barbe bleue nicht die Geschichte der jüngsten Braut Blaubarts. Der Film erzählt von zwei Schwestern, die sich diese Geschichte erzählen. Auf dem Dachboden eines Speichers liest die jüngere der beiden, deren ungebremste Wissbegierde jener der besagten jüngsten Frau Blaubarts verdächtig nahe kommt, aus dem Buch vor. Von Beginn an ist somit die Klammer gesetzt zwischen der Erzählung und der Erzählenden. Wie sehr sich diese in die Geschichte involviert, ist spätestens dann zu erkennen, als sie die Seiten des Erzählvorgangs wechselt und mit einem Mal selbst in Blaubarts Welt landet. Furchtlos watet sie dort durch das Blut der Frauen, die nach der Heirat mit Blaubart spurlos verschwunden sind. Die Überschreitung dieser Grenze markiert im Märchen die Überschreitung des Verbots durch Blaubarts Frau, eine bestimmte Kammer in dessen Schloss zu betreten. Blaubart will sie mit dem gleichen Tod bestrafen, dem auch ihre Vorgängerinnen zum Opfer gefallen sind. Breillat wendet in ihrer Version von Barbe bleue die Moral des alten Blaubart-Stoffes um: tot endet nur diejenige, die ihre Nase nicht überall hineinsteckt. Am Ende ist es die ältere Schwester der kleinen Grenzgängerin, die umkommt vor falscher Zurückhaltung. Sie stürzt rücklings durch die Dachluke des Speichers.
Mit La belle endormie (Die schlafende Schöne) setzt Breillat 2011 ihre Auseinandersetzung mit Märchenstoffen fort. Wie in Barbe bleue tut sie das im Modus einer aneignenden Umschrift. In grober Anlehnung an 'Dornröschen' zeigt sie ein junges Mädchen, das in den Schlaf verbannt wird, um erst als Jugendliche wieder aufzuwachen, wobei Breillat kurzerhand dessen Traum zum Erlebnisort macht. Im Rückgriff auf die klassische Fabel und durch deren Überschreitung dekonstruiert Breillat die Vorstellung vom unschuldigen Mädchen. La belle endormie bricht damit gleich zweifach mit der Vorlage. Ein Bruch, der Breillats Kino je schon das Wort abseits der Vor-schrift, das Bild abseits des Vor-bilds ermöglichen konnte.
Wenn Anne zu Beginn von L’été dernier mit aller Genauigkeit, die ihr die Rolle als Verteidigerin abverlangt, ihre Mandantin befragt, dann wird dieser politische Kern Breillats filmischen Schaffens erneut sichtbar:
Es nimmt sich der (Gegen-) Erzählungen um weibliche Sexualität an, ohne in erster Instanz moralisch darüber zu urteilen. Hierin erweist L’été dernier ihrem filmischen Ansatz Treue, auch jenem, bis an das Tabu heranzureichen.