15.02.2024

Rückkehr zum Tiger

Praia Formosa von Julia De Simone
Praia Formosa, eine Geistergeschichte aus Brasilien
(Foto: IFFR | Julia De Simone)

Das Filmfestival Rotterdam besinnt sich auf seine Wurzeln. Ein Streifzug durch den Tiger Award

Von Dunja Bialas

Es wird wieder inter­na­tio­naler. Als 2022 Festi­val­lei­terin Vanja Kalud­jercic das gesamte Rotter­damer Programmer-Team, das teilweise über Jahr­zehnte eines der inno­va­tivsten nieder­län­di­schen Festivals geprägt hatte, entließ und die Nieder­länder durch ein inter­na­tio­nales und jüngeres Team ersetzte, entstand Unruhe unter den Rotterdam-Fans. Man sah die Qualität in Gefahr und fürchtete Profi­lie­rungs­be­stre­bungen junger Kurator*innen, die sich mit dem IFFR nur einen Namen machen wollen. Im zweiten Jahr unter neuem Kura­to­ren­team kann fest­ge­stellt werden: Das Programm ist wieder edgy geworden, im Vergleich zu den Vorjahren von Bero Beyer, der mit vielen nieder­län­di­schen Unter­ti­telungen dem heimi­schen Publikum ein span­nendes Festival bieten wollte – und inter­na­tio­nale Fach­be­su­cher, die Rotterdam auch nutzen wollten, um große Titel nach­zu­holen, verprellte.

Das ist jetzt wieder anders. Auch die Filme, die schon auf den großen A-Festivals wie Venedig oder Cannes ihre Premiere hatten und in den nicht-kompe­ti­tiven Reihen »Limelight« und »Bright Future« laufen, sind jetzt wieder Englisch unter­ti­telt. So konnte man etwa Alice Rohr­wa­chers La Chimera oder Hamaguchi Ryusukes Evil Does Not Exist sehen. Der Puls von Rotterdam aber schlägt ohnehin woanders. Bekannt ist das Festival, das dieses Jahr seine 53. Ausgabe feierte, für den »Tiger«, den Wett­be­werb für Newcomer mit ersten oder zweiten Filmen. Auch größere A-Festivals, zu denen Rotterdam mit seiner breiten Program­mie­rung nicht gehört, setzen mitt­ler­weile auf Nach­wuchs­filme. Im harten Kampf um Premieren kann das bei guten Kontakten Relevanz als Nachwuchs-Showcase bringen.

Seit 1972 ist Rotterdam als wich­tigstes europäi­sches Festival für alter­na­tive Film­spra­chen und Inde­pen­dent bekannt. In der Galerie der Festi­val­leiter finden sich der Gründer Hubert Bals, Marco Müller (nach Inter­mezzi in Venedig und Turin leitet er seit Januar 2024 das neu gegrün­dete Asia-Europe Young Cinema Festival) und Simon Field, der aus London von der Bildenden Kunst gekommen war und maßgeb­lich den expe­ri­men­tellen Program­mier-Stil des Festivals geprägt hatte. Mit dem Produ­zenten Bero Beyer folgte ein Nieder­länder mit einem eher glatten Festival-Design. In seine Zeit fielen die spürbaren Verän­de­rungen in Richtung Publi­kums­fes­tival. Dieses Rad scheint sich jetzt wieder behutsam zurück­zu­drehen.

Epigo­nales Epos: Rei gewinnt den Tiger Award

Im Tiger-Wett­be­werb war man um ästhe­ti­sche Diver­sität bemüht, mit nur wenigen Beiträgen zum klas­si­schen Erzähl­kino, die entspre­chend auffielen – der Japaner Tanka Toshihiko gewann mit seinem dreis­tün­digen Epos Rei den Haupt­preis des Festivals, den Tiger Award. Der taube Fotograf Masato trifft auf die schöne tokioter Ange­stellte Hikari, eine Wieder­gän­gerin der 50er-Jahre-Ange­stell­ten­kaste, wie man sie aus den Filmen von Ozu Yasujirō kennt. Ähnlich bescheiden wie seine Figuren ist auch sie, und auch sie hat ein großes Herz und knüpft zarte Bande zum Foto­grafen. Eine elegisch verschneite Schnee­land­schaft ist das zentrale Motiv des Films; sie verwan­delt sich zur viel­sa­genden Seelen­land­schaft, denn der Fotograf und die Ange­stellte sind beides Menschen, die ihre innere Stimme noch nicht gefunden haben. Sie ist die typisch charak­terlos Schöne, über­an­ge­passt an die moderne Leis­tungs­ge­sell­schaft; ihre Freundin wird vom Ehemann betrogen, auch weil er der Belastung durch das gemein­same behin­derte Kind ausweicht. Was genau dem Mädchen fehlt, wird aber nicht gesagt und ist auch nicht sichtbar. Von der Konstruk­tion der Geschichte betrachtet, könnte das Kind der Missing Link zum Foto­grafen Masato sein, mit dem es sich intuitiv versteht. Das aber wird trotz der Länge des Films in vagen Andeu­tungen belassen – und irgend­wann einfach fallen­ge­lassen, zugunsten der sich anbah­nenden Liebes­ge­schichte.

Die Anklänge an Hamaguchi Ryūsukes Drive My Car sind über­deut­lich. In der Figuren- und Bild­kon­zep­tion, und bis zur behin­derten Tochter. Der Film ist eine Augen­weide, in die man gerne eintaucht (Kamera: Akio Ikeda) – die ein oder andere Szene hätte man sich aber zurück in den Schnei­de­raum gewünscht. Enttäu­schender als die narra­tiven Längen war die fast kalku­liert wirkende Epigo­na­lität des Films.

Neue lusi­ta­ni­sche Welle

Über­zeu­gender für einen inno­va­tiven Newcomer-Wett­be­werb war der brasi­lia­ni­sche Praia Formosa. Die (weiße) Regis­seurin Julia De Simone erzählt in ihrem Lang­film­debüt von der Implosion der kollek­tiven Erin­ne­rung an die Skla­ven­zeit mit der Jetztzeit der Nach­fahren. Insze­niert hat sie eine Geis­ter­ge­schichte, in der sich die unheim­li­chen Wieder­gän­ge­rinnen barfuß und in zerschlis­senen Leinen­klei­dern auf den Stadt­au­to­bahnen von Rio de Janeiro verlieren. Voll melan­cho­li­scher Bitter­keit blicken sie auf die Phänomene der Moderne, die subtil in der Skla­ven­zeit verankert werden. Die histo­ri­sche Zeit entsteht nur im unei­gent­li­chen Reenact­ment, in den morbiden Innen­räumen der bett­lägrig gewor­denen und verarmten weißen Herschafts­schicht, denen die Skla­vinnen dienen. Praia Formosa lässt das kollek­tive Trauma der brasi­lia­ni­schen Skla­ven­zeit erahnen, es wird berührt, bleibt aber auch rätsel­haft ange­deutet. Der gezähmte Zorn der Zeit ist auch so deutlich spürbar.

Produ­ziert hat den Film die Portu­giesin Filipa Reis, deren (in Co-Regie mit João Miller Guerra) Djon Africa 2019 in der Tiger Compe­ti­tion lief. Heute ist sie Produ­zentin für die Filme von Miguel Gomes, Pedro Pinho oder Maureen Fazen­deiro und steht damit für das neuere lusi­ta­ni­sche Film­schaffen, das nur deshalb nicht portu­gie­sisch-brasi­lia­ni­sche Welle heißt, weil die entste­henden Werke bislang noch zu disparat sind und nie in ihrer Gesamt­heit gesehen wurden. Hier könnte ein konzen­trierter Blick lohnen.

Huis clos am Pool in Grie­chen­land

Im Tiger Wett­be­werb hervor­zu­heben war auch Swimming Home des briti­schen Künstlers Justin Anderson, der trotz seines fort­ge­schrit­tenen Alters (Jahrgang 1967) in Rotterdam als Newcomer zählen darf – er ist ein später Quer­ein­steiger. In seinem Debüt erzählt er eine eigen­ar­tige, mit Horror­ele­menten versetzte Intru­der­ge­schichte. Eine Familie mit einem depressiv-melan­cho­li­schen Poeten als Vater macht Urlaub in Grie­chen­land. Eines Tages treibt im Swim­ming­pool ein nackter Frau­en­körper: Kitty. Sie ist die zentrale Figur, die das familiäre Gefüge in Off-Balance bringen wird, auch ganz wörtlich, denn Kitty, die Bota­ni­kerin, lernt nicht nur sehr schnell Gedichte auswendig, sondern inter­es­siert sich auch für die lokale Modern-Dance-Szene, in der Artisten auf allen Vieren performen, als wären sie Spin­nen­tiere, um sich hinter­rücks ins Bewusst­sein der Menschen zu schlei­chen. Seltsam perspek­ti­visch verdreht wie ihre Gangart beginnt auch der Film: Das Bild steht Kopf. Asso­zia­tionen an Brandon Cronen­bergs Infinity Pool kommen nicht von ungefähr. Statt auf einen verdrehten Horror-Plot vertraut der Film jedoch aufs Atmo­sphäri­sche. Die Bilder des deutsch-grie­chi­schen Kame­ra­manns Simos Sarketzis erzählen von der drückenden Hitze und der einschlä­fernden Kühle der Innen­räume, und immer wieder springen die Frauen in den Swim­ming­pool, mit und ohne Bade­be­klei­dung. Die Über­hit­zung der Gemüter ergibt sexuelle Anspan­nung, der Dichter wird das Opfer.

Swimming Home, eine Adaption der gleich­na­migen Kurz­ge­schichte der Britin Deborah Levy, zeichnet von seinen Figuren leise Psycho­gramme. Insze­niert werden statische Huis-Clos-Situa­tionen in der Einge­schlos­sen­heit der Sommer­villa, deren Rätsel­haf­tig­keit sich nur selten entschlüs­seln lässt. Seinem Standing in der Londoner Kunst­szene verdankt der Regisseur wohl auch, dass die Mitwir­kenden dem Film eine Art Ritter­schlag verpassen: Mack­kenzie Davis ist Isabel, die Frau des Poeten, der wiederum von Chris­to­pher Abbott (Poor Things) verkör­pert wird. Nadine Labaki, die Regis­seurin von Caphar­naüm, spielt mit, und Ariane Labed, Frau von Yorgos Lanthimos, ist die nackte Kitty. So spiegelt das Geschehen am Pool auch das Zusam­men­spiel einer Film­clique, ähnlich wie die Franzosen gerne zusammen Filme machen. Es bleibt abzu­warten, ob es bei dem einen Sommer­ur­laub als Filme­ma­cher bleibt, oder ob Justin Anderson wirklich auf den Geschmack des gepflegten Arthouse gekommen ist. Dieser Ausflug zumindest war schon mal sehr schön.