Rückkehr zum Tiger |
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Praia Formosa, eine Geistergeschichte aus Brasilien | ||
(Foto: IFFR | Julia De Simone) |
Von Dunja Bialas
Es wird wieder internationaler. Als 2022 Festivalleiterin Vanja Kaludjercic das gesamte Rotterdamer Programmer-Team, das teilweise über Jahrzehnte eines der innovativsten niederländischen Festivals geprägt hatte, entließ und die Niederländer durch ein internationales und jüngeres Team ersetzte, entstand Unruhe unter den Rotterdam-Fans. Man sah die Qualität in Gefahr und fürchtete Profilierungsbestrebungen junger Kurator*innen, die sich mit dem IFFR nur einen Namen machen wollen. Im zweiten Jahr unter neuem Kuratorenteam kann festgestellt werden: Das Programm ist wieder edgy geworden, im Vergleich zu den Vorjahren von Bero Beyer, der mit vielen niederländischen Untertitelungen dem heimischen Publikum ein spannendes Festival bieten wollte – und internationale Fachbesucher, die Rotterdam auch nutzen wollten, um große Titel nachzuholen, verprellte.
Das ist jetzt wieder anders. Auch die Filme, die schon auf den großen A-Festivals wie Venedig oder Cannes ihre Premiere hatten und in den nicht-kompetitiven Reihen »Limelight« und »Bright Future« laufen, sind jetzt wieder Englisch untertitelt. So konnte man etwa Alice Rohrwachers La Chimera oder Hamaguchi Ryusukes Evil Does Not Exist sehen. Der Puls von Rotterdam aber schlägt ohnehin woanders. Bekannt ist das Festival, das dieses Jahr seine 53. Ausgabe feierte, für den »Tiger«, den Wettbewerb für Newcomer mit ersten oder zweiten Filmen. Auch größere A-Festivals, zu denen Rotterdam mit seiner breiten Programmierung nicht gehört, setzen mittlerweile auf Nachwuchsfilme. Im harten Kampf um Premieren kann das bei guten Kontakten Relevanz als Nachwuchs-Showcase bringen.
Seit 1972 ist Rotterdam als wichtigstes europäisches Festival für alternative Filmsprachen und Independent bekannt. In der Galerie der Festivalleiter finden sich der Gründer Hubert Bals, Marco Müller (nach Intermezzi in Venedig und Turin leitet er seit Januar 2024 das neu gegründete Asia-Europe Young Cinema Festival) und Simon Field, der aus London von der Bildenden Kunst gekommen war und maßgeblich den experimentellen Programmier-Stil des Festivals geprägt hatte. Mit dem Produzenten Bero Beyer folgte ein Niederländer mit einem eher glatten Festival-Design. In seine Zeit fielen die spürbaren Veränderungen in Richtung Publikumsfestival. Dieses Rad scheint sich jetzt wieder behutsam zurückzudrehen.
Im Tiger-Wettbewerb war man um ästhetische Diversität bemüht, mit nur wenigen Beiträgen zum klassischen Erzählkino, die entsprechend auffielen – der Japaner Tanka Toshihiko gewann mit seinem dreistündigen Epos Rei den Hauptpreis des Festivals, den Tiger Award. Der taube Fotograf Masato trifft auf die schöne tokioter Angestellte Hikari, eine Wiedergängerin der 50er-Jahre-Angestelltenkaste, wie man sie aus den Filmen von Ozu Yasujirō kennt. Ähnlich bescheiden wie seine Figuren ist auch sie, und auch sie hat ein großes Herz und knüpft zarte Bande zum Fotografen. Eine elegisch verschneite Schneelandschaft ist das zentrale Motiv des Films; sie verwandelt sich zur vielsagenden Seelenlandschaft, denn der Fotograf und die Angestellte sind beides Menschen, die ihre innere Stimme noch nicht gefunden haben. Sie ist die typisch charakterlos Schöne, überangepasst an die moderne Leistungsgesellschaft; ihre Freundin wird vom Ehemann betrogen, auch weil er der Belastung durch das gemeinsame behinderte Kind ausweicht. Was genau dem Mädchen fehlt, wird aber nicht gesagt und ist auch nicht sichtbar. Von der Konstruktion der Geschichte betrachtet, könnte das Kind der Missing Link zum Fotografen Masato sein, mit dem es sich intuitiv versteht. Das aber wird trotz der Länge des Films in vagen Andeutungen belassen – und irgendwann einfach fallengelassen, zugunsten der sich anbahnenden Liebesgeschichte.
Die Anklänge an Hamaguchi Ryūsukes Drive My Car sind überdeutlich. In der Figuren- und Bildkonzeption, und bis zur behinderten Tochter. Der Film ist eine Augenweide, in die man gerne eintaucht (Kamera: Akio Ikeda) – die ein oder andere Szene hätte man sich aber zurück in den Schneideraum gewünscht. Enttäuschender als die narrativen Längen war die fast kalkuliert wirkende Epigonalität des Films.
Überzeugender für einen innovativen Newcomer-Wettbewerb war der brasilianische Praia Formosa. Die (weiße) Regisseurin Julia De Simone erzählt in ihrem Langfilmdebüt von der Implosion der kollektiven Erinnerung an die Sklavenzeit mit der Jetztzeit der Nachfahren. Inszeniert hat sie eine Geistergeschichte, in der sich die unheimlichen Wiedergängerinnen barfuß und in zerschlissenen Leinenkleidern auf den Stadtautobahnen von Rio de Janeiro verlieren. Voll melancholischer Bitterkeit blicken sie auf die Phänomene der Moderne, die subtil in der Sklavenzeit verankert werden. Die historische Zeit entsteht nur im uneigentlichen Reenactment, in den morbiden Innenräumen der bettlägrig gewordenen und verarmten weißen Herschaftsschicht, denen die Sklavinnen dienen. Praia Formosa lässt das kollektive Trauma der brasilianischen Sklavenzeit erahnen, es wird berührt, bleibt aber auch rätselhaft angedeutet. Der gezähmte Zorn der Zeit ist auch so deutlich spürbar.
Produziert hat den Film die Portugiesin Filipa Reis, deren (in Co-Regie mit João Miller Guerra) Djon Africa 2019 in der Tiger Competition lief. Heute ist sie Produzentin für die Filme von Miguel Gomes, Pedro Pinho oder Maureen Fazendeiro und steht damit für das neuere lusitanische Filmschaffen, das nur deshalb nicht portugiesisch-brasilianische Welle heißt, weil die entstehenden Werke bislang noch zu disparat sind und nie in ihrer Gesamtheit gesehen wurden. Hier könnte ein konzentrierter Blick lohnen.
Im Tiger Wettbewerb hervorzuheben war auch Swimming Home des britischen Künstlers Justin Anderson, der trotz seines fortgeschrittenen Alters (Jahrgang 1967) in Rotterdam als Newcomer zählen darf – er ist ein später Quereinsteiger. In seinem Debüt erzählt er eine eigenartige, mit Horrorelementen versetzte Intrudergeschichte. Eine Familie mit einem depressiv-melancholischen Poeten als Vater macht Urlaub in Griechenland. Eines Tages treibt im Swimmingpool ein nackter Frauenkörper: Kitty. Sie ist die zentrale Figur, die das familiäre Gefüge in Off-Balance bringen wird, auch ganz wörtlich, denn Kitty, die Botanikerin, lernt nicht nur sehr schnell Gedichte auswendig, sondern interessiert sich auch für die lokale Modern-Dance-Szene, in der Artisten auf allen Vieren performen, als wären sie Spinnentiere, um sich hinterrücks ins Bewusstsein der Menschen zu schleichen. Seltsam perspektivisch verdreht wie ihre Gangart beginnt auch der Film: Das Bild steht Kopf. Assoziationen an Brandon Cronenbergs Infinity Pool kommen nicht von ungefähr. Statt auf einen verdrehten Horror-Plot vertraut der Film jedoch aufs Atmosphärische. Die Bilder des deutsch-griechischen Kameramanns Simos Sarketzis erzählen von der drückenden Hitze und der einschläfernden Kühle der Innenräume, und immer wieder springen die Frauen in den Swimmingpool, mit und ohne Badebekleidung. Die Überhitzung der Gemüter ergibt sexuelle Anspannung, der Dichter wird das Opfer.
Swimming Home, eine Adaption der gleichnamigen Kurzgeschichte der Britin Deborah Levy, zeichnet von seinen Figuren leise Psychogramme. Inszeniert werden statische Huis-Clos-Situationen in der Eingeschlossenheit der Sommervilla, deren Rätselhaftigkeit sich nur selten entschlüsseln lässt. Seinem Standing in der Londoner Kunstszene verdankt der Regisseur wohl auch, dass die Mitwirkenden dem Film eine Art Ritterschlag verpassen: Mackkenzie Davis ist Isabel, die Frau des Poeten, der wiederum von Christopher Abbott (Poor Things) verkörpert wird. Nadine Labaki, die Regisseurin von Capharnaüm, spielt mit, und Ariane Labed, Frau von Yorgos Lanthimos, ist die nackte Kitty. So spiegelt das Geschehen am Pool auch das Zusammenspiel einer Filmclique, ähnlich wie die Franzosen gerne zusammen Filme machen. Es bleibt abzuwarten, ob es bei dem einen Sommerurlaub als Filmemacher bleibt, oder ob Justin Anderson wirklich auf den Geschmack des gepflegten Arthouse gekommen ist. Dieser Ausflug zumindest war schon mal sehr schön.