15.02.2024

In der Blackbox

Schneewittchen
Nur ein kurzes Zwischenbild
(Foto: IFFR | Stanley Schtinter)

Bildentzug als Provokation: Das Filmfestival Rotterdam zeigte Stanley Schtinters Schneewittchen in seiner experimentierfreudigen Sektion »Harbour«

Von Dunja Bialas

Als Provo­ka­tion wolle er seinen Film nicht verstanden wissen. Der Brite Stanley Schtinter hat immerhin einen illustren Cast für seinen Film versam­melt. Gleich zu Anfang, zu dem sich ein roter Theater- oder Kino­vor­hang hebt, werden die Namen gelistet: Da stehen: Julie Christie, Stephen Dillane, Toby Jones, Stacy Martin und Hanns Zischler. Die Film­zeit­schrift »Sound & Sight« nannte Schtinter einmal »witch­finder general of cultural compla­cency«. Mehr vergif­tetes Lob geht eigent­lich nicht, und so nahm sich der Meis­ter­hexer folge­richtig ein Märchen vor, in dessen Zentrum ein Mord­an­schlag mit einem vergif­teten Apfel steht. Sein Film geht auf das einzige Thea­ter­s­tück des Schweizer Autors Robert Walser zurück, in dem erzählt wird, was geschah, nachdem Schnee­witt­chen wieder erwachte. Unter­sucht wird die grausige Vorge­schichte des Mord­ver­suchs, inklusive einer Gut-Böse-Dekon­struk­tion, die der wahren Identität der Betei­ligten nachgeht.

Robert Walsers Dramolett wurde im Jahr 2000 vom Portu­giesen João César Monteiro verfilmt. Sein Branca de Neve wurde ein hand­fester Skandal – die Legende geht so: Angeblich hatte Monteiro aus Versehen seinen Mantel über die Kamera gehängt, so dass unbemerkt kein Bild aufge­nommen wurde. Anstatt aber die Aufnahmen zu verwerfen, machte er genau daraus einen Film: einen Schwarz­film mit Off-Stimmen. Produzent Paulo Branco hatte für den Film über 750.000 Euro an Förder­mit­teln zusam­men­ge­tragen und weigerte sich, das Geld zurück­zu­zahlen. Das wirklich schwarze Loch seien die Filme, die vom Steu­er­zahler finan­ziert würden, aber nie zu sehen seien, soll er gesagt haben, nicht aber ein Film, bei dem man nichts sieht. Andere sagten: »Ein groß­ar­tiger Film für blinde Menschen.« Ein paar wenige Bilder-Inserts, auf denen etwas zu sehen war, gab es dann aber doch.

Stanley Schtinter, dessen expe­ri­men­telle Filme beim Pariser Label »Lightcone« liegen, hat sich nun ausge­rechnet Monteiros Version für eine Hommage vorge­nommen. Gleiches Setting (ohne angeb­li­chen Mantel): Tolle Stimmen, hoch­gra­dige Schau­spieler. Keine Bilder. Nur, etwa alle zehn Minuten: grob­kör­nige 16mm-Ansichten von einem blauen Himmel mit weißen Wölkchen, gefilmt vom ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kame­ra­mann Sean Price Williams, der in Mannheim sein Regie­debüt The Sweet East vorge­stellt hatte und jetzt für Abel Ferraras Berlinale-Special-Film Turn in the Wound die Kamera gemacht hat. Der Inde­pen­dent-Doku­men­tar­filmer Joshua Bonetta montierte die Aufnahmen zwischen die Schwarz­bilder.

Das graue Quadrat

Ähnlich wie bei Monteiro machte auch Schnee­witt­chen-Produzent Gareth Evans den Bilder­sturm als ästhe­ti­sches Statement gegen die Bilder­flut stark, während Stanley Schtinter vor allem bedauerte, dass wegen der Notaus­gangs-Schilder ein völliges Dunkel im Kinosaal heute unmöglich sei. Anders, als einst im Öster­rei­chi­schen Film­mu­seum, wo man bei der Vorfüh­rung von Gregory Marko­poulos’ durch lange Schwarz­se­quenzen verhackstü­ckelten Filmen tatsäch­lich in völliger Fins­ternis saß – damals aber auch in völliger Stille, die Filme hatten keinen Sound, war hier immer das graue Quadrat der unbe­spielten Leinwand zu sehen. Viele Zuschauer verließen flucht­artig das Kino, als das Konzept des Films klar wurde. Und tatsäch­lich konnte es verstören, dass die wieder­erkenn­baren Stimmen nie ein Gesicht bekamen.

Umso stärker schärften sich die Sinne, um die ausge­feilte Sprache der in briti­schem Englisch vorge­tra­genen Dialoge zu goutieren. Alte und junge Stimmen sind klar zu unter­scheiden, Hanns Zischler: wieder einmal hervor­ra­gend. Und da der Bild­entzug so entschei­dend durch kurze Zwischen-Wolken-Bilder unter­bro­chen wurde, starrte man trotz allem wie gebannt auf die Leinwand. Erin­ne­rungen an Derek Jarmans Blue kamen auf, bei dem das Yves-Klein-Blau zu flirren und auf der Netzhaut komple­mentär zu werden begann, und an die komplette Dunkel­heit bei Marko­poulos. Eigent­lich kann Schnee­witt­chen nur als Filmkopie vorge­führt werden. Denn dann würde sich das tote Digi­tal­schwarz beleben, durch Vorführ­spuren, Flusen und Artefakte. So aber wurde das graue zum grausamen Quadrat, das von einem essen­ti­ellen Bild­ver­lust kündete.