29.02.2024

Vielfalt erforschen

Photophobia
Existenz in der Metro von Charkiw: Photophobia zeichnet ein bedrückendes Bild
(Foto: Mittel Punkt Europa Filmfestival | Photophobia)

Wer in die Vielfalt des Kinos unserer östlichen Nachbarländer blicken möchte, ist beim Mittel Punkt Europa Filmfestival genau richtig

Von Paula Ruppert

Viele Studenten greifen bei der Suche nach einem Auslands­se­mester oder Praktikum auf Erasmus zurück, denn dieses Stipen­di­en­pro­gramm deckt mit der EU und einigen weiteren Ländern so gut wie ganz Europa ab. Für mein persön­li­ches Praktikum im Master »Osteu­ro­pa­stu­dien« wurde ich im normalen Erasmus-Programm jedoch nicht fündig: Mit meinem Zielland Aser­bai­dschan bewegte ich mich zu weit nach Osten. Bin ich also doch nicht mehr in Europa? Eine Frage, die sich nach ein paar Monaten in der Kauka­sus­re­gion weder mit Ja noch mit Nein beant­worten lässt. Aber wo ist dann die Grenze? Wo hört Europa auf, wo beginnt es? Was genau ist europäisch? Wo ist Ost, wo West? Und: Wo ist die Mitte?

Diese Mitte setzt das Mittel Punkt Europa Filmfest jedes Jahr wieder in die oft als Mittel- und Osteuropa bezeich­neten Länder. Und so wird vom 29. Februar bis 9. März im Film­mu­seum München die Vielfalt dieser Region auf der großen Leinwand sichtbar. Unter den 12 Filmen aus sechs Ländern finden sich auch dieses Jahr wieder Doku­men­tar­filme, Spiel­filme und auch ein Anima­ti­ons­film; ob Drama, Komödie, Episo­den­film – es ist für jeden etwas dabei.

In zwei Filmen steht das Leben von Frauen im Mittel­punkt, die sich auf ihre Art und Weise den Weg aus gesell­schaft­lich aufer­legten Zwängen und Grenzen bahnen; aller­dings könnten die Frau­en­fi­guren unter­schied­li­cher kaum sein. In dem slowa­kisch-tsche­chi­schen Slúžka (The Cham­ber­maid) geht es um ein junges Dienst­mäd­chen, Anka, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Anstel­lung in einer reichen Familie findet. Leise, ruhig und ausschließ­lich in gedeckten Farben erzählt der Film von Ankas Einsam­keit in Prag, fernab ihres Heimat­dorfes, von ihrer Beziehung zu den anderen Ange­stellten und vor allem von ihrer Beziehung zur Tochter des Hauses. Es ist die Geschichte einer unge­wöhn­li­chen Freund­schaft, die auch zeigt, wie viel bloßer Respekt vorein­ander verändern kann.

Eine völlig andere Frau stellt der tsche­chi­sche Beitrag Její tělo (Her body) in den Mittel­punkt. Das Biopic beleuchtet das Leben von Andrea Abso­lo­nová, die als Topath­letin kurz vor dem Durch­bruch steht, als sie aufgrund einer Verlet­zung ihre sport­liche Karriere beenden muss. Sie startet eine neue Karriere als Porno­dar­stel­lerin und ist dabei äußerst erfolg­reich. Der Film geht recht unkri­tisch mit all dem um, wirft aber trotzdem Fragen auf. Wie viel darf man seinem Körper zumuten? Wie viel im Leben ist Schein? Wie beein­flusst die völlige Hingabe an eine Laufbahn das Privat­leben?

Ein Privat­leben haben die in der Svět­lo­plachost (Photo­phobia) portrai­tierten Menschen kaum mehr. Der Doku­men­tar­film beleuchtet das Leben in einer Metro­sta­tion in Charkiw nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Hunderte Menschen suchen dort Schutz vor den nicht enden wollenden Luft­an­griffen. Die Kinder wünschen sich nichts sehn­li­cher, als wieder nach oben in die Sonne gehen zu können und dort zu spielen. Der Film mutet manchmal zwar etwas senti­mental und kitschig an, zeigt dadurch aber umso mehr das sehnliche Verlangen der Kinder und aller Menschen in der Metro­sta­tion nach Schönheit, Sonne, Norma­lität und vor allem Frieden.

Auf eine ähnliche Art und Weise zeigt Ми не згаснемо (We Will Not Fade Away) das Leben einer Gruppe Jugend­li­cher im Donbass noch vor der Auswei­tung des Krieges auf das ganze Land. Auch sie wünschen sich nichts mehr als Norma­lität, Frieden und die Verwirk­li­chung ihrer Träume. Als sie die Möglich­keit bekommen, in den Himalaya zu fahren, steht die Verwirk­li­chung zumindest eines Traumes wenigs­tens bevor.

Ganz anders wiederum ist Радзіма (Mother­land) gestaltet, der dritte Doku­men­tar­film des Festivals. Er zeichnet ein scho­nungslos dunkles Bild der bela­rus­si­schen Gesell­schaft, von Miss­ständen in der Armee, Gewalt gegen die eigene Bevöl­ke­rung, von Macht­be­ses­sen­heit, Bruta­lität und Willkür.

Bruta­lität behandelt auch Назавжди-Назавжди (Forever-Forever). Die Sowjet­union gibt es nicht mehr und in diese Zeit der Unsi­cher­heit mischen sich die privaten Probleme einer Clique jugend­li­cher Schüler. Aller­dings sind die meisten dieser Probleme selbst gemacht: Mobbing und Bloßstel­lung ehema­liger Mitglieder der Clique sind ebenso normal wie brutale Schlä­ge­reien; gleich­zeitig versucht man, einen Ehren­kodex zu haben. Doch alles führt eigent­lich zur Zers­törung seiner selbst.

Ebenso selbst­zer­stö­re­risch ist der tsche­chi­sche Film Banger, aller­dings versucht der Prot­ago­nist hier, besser zu werden. Er möchte keine Drogen mehr dealen, sondern seine Exfreundin zurück­ge­winnen und ein erfolg­rei­cher Rapper sein – wofür es noch einmal viel Geld auf einmal braucht. Die Bilder wackeln oft, haben leicht unge­wohnte Kontraste, denn es wurde komplett mit dem Handy gedreht – eine Ästhetik, die perfekt zum Film passt.

Wer etwas Buntes, Sati­ri­sches mit ernster Aussage hinter der Fassade sucht, muss Háromezer számozott darab (Three Thousand Numbered Pieces) anschauen. Eine – bis auf den Regisseur aus Roma bestehende – Thea­ter­gruppe verar­beitet in einem Stück ihre Erfah­rungen mit Rassismus, Benach­tei­li­gung, sexueller Gewalt und vielem anderen. Doch wer wird ihre Geschichten wirklich hören?

Auch dieses Jahr gibt es auf dem Mittel Punkt Europa Filmfest viele verschie­dene Filme, Genres, Geschichten. Wer in die Vielfalt des Kinos unserer östlichen Nach­bar­länder schnup­pern möchte, ist hier wieder genau richtig.