Vielfalt erforschen |
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Existenz in der Metro von Charkiw: Photophobia zeichnet ein bedrückendes Bild | ||
(Foto: Mittel Punkt Europa Filmfestival | Photophobia) |
Von Paula Ruppert
Viele Studenten greifen bei der Suche nach einem Auslandssemester oder Praktikum auf Erasmus zurück, denn dieses Stipendienprogramm deckt mit der EU und einigen weiteren Ländern so gut wie ganz Europa ab. Für mein persönliches Praktikum im Master »Osteuropastudien« wurde ich im normalen Erasmus-Programm jedoch nicht fündig: Mit meinem Zielland Aserbaidschan bewegte ich mich zu weit nach Osten. Bin ich also doch nicht mehr in Europa? Eine Frage, die sich nach ein paar Monaten in der Kaukasusregion weder mit Ja noch mit Nein beantworten lässt. Aber wo ist dann die Grenze? Wo hört Europa auf, wo beginnt es? Was genau ist europäisch? Wo ist Ost, wo West? Und: Wo ist die Mitte?
Diese Mitte setzt das Mittel Punkt Europa Filmfest jedes Jahr wieder in die oft als Mittel- und Osteuropa bezeichneten Länder. Und so wird vom 29. Februar bis 9. März im Filmmuseum München die Vielfalt dieser Region auf der großen Leinwand sichtbar. Unter den 12 Filmen aus sechs Ländern finden sich auch dieses Jahr wieder Dokumentarfilme, Spielfilme und auch ein Animationsfilm; ob Drama, Komödie, Episodenfilm – es ist für jeden etwas dabei.
In zwei Filmen steht das Leben von Frauen im Mittelpunkt, die sich auf ihre Art und Weise den Weg aus gesellschaftlich auferlegten Zwängen und Grenzen bahnen; allerdings könnten die Frauenfiguren unterschiedlicher kaum sein. In dem slowakisch-tschechischen Slúžka (The Chambermaid) geht es um ein junges Dienstmädchen, Anka, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Anstellung in einer reichen Familie findet. Leise, ruhig und ausschließlich in gedeckten Farben erzählt der Film von Ankas Einsamkeit in Prag, fernab ihres Heimatdorfes, von ihrer Beziehung zu den anderen Angestellten und vor allem von ihrer Beziehung zur Tochter des Hauses. Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, die auch zeigt, wie viel bloßer Respekt voreinander verändern kann.
Eine völlig andere Frau stellt der tschechische Beitrag Její tělo (Her body) in den Mittelpunkt. Das Biopic beleuchtet das Leben von Andrea Absolonová, die als Topathletin kurz vor dem Durchbruch steht, als sie aufgrund einer Verletzung ihre sportliche Karriere beenden muss. Sie startet eine neue Karriere als Pornodarstellerin und ist dabei äußerst erfolgreich. Der Film geht recht unkritisch mit all dem um, wirft aber trotzdem Fragen auf. Wie viel darf man seinem Körper zumuten? Wie viel im Leben ist Schein? Wie beeinflusst die völlige Hingabe an eine Laufbahn das Privatleben?
Ein Privatleben haben die in der Světloplachost (Photophobia) portraitierten Menschen kaum mehr. Der Dokumentarfilm beleuchtet das Leben in einer Metrostation in Charkiw nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Hunderte Menschen suchen dort Schutz vor den nicht enden wollenden Luftangriffen. Die Kinder wünschen sich nichts sehnlicher, als wieder nach oben in die Sonne gehen zu können und dort zu spielen. Der Film mutet manchmal zwar etwas sentimental und kitschig an, zeigt dadurch aber umso mehr das sehnliche Verlangen der Kinder und aller Menschen in der Metrostation nach Schönheit, Sonne, Normalität und vor allem Frieden.
Auf eine ähnliche Art und Weise zeigt Ми не згаснемо (We Will Not Fade Away) das Leben einer Gruppe Jugendlicher im Donbass noch vor der Ausweitung des Krieges auf das ganze Land. Auch sie wünschen sich nichts mehr als Normalität, Frieden und die Verwirklichung ihrer Träume. Als sie die Möglichkeit bekommen, in den Himalaya zu fahren, steht die Verwirklichung zumindest eines Traumes wenigstens bevor.
Ganz anders wiederum ist Радзіма (Motherland) gestaltet, der dritte Dokumentarfilm des Festivals. Er zeichnet ein schonungslos dunkles Bild der belarussischen Gesellschaft, von Missständen in der Armee, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, von Machtbesessenheit, Brutalität und Willkür.
Brutalität behandelt auch Назавжди-Назавжди (Forever-Forever). Die Sowjetunion gibt es nicht mehr und in diese Zeit der Unsicherheit mischen sich die privaten Probleme einer Clique jugendlicher Schüler. Allerdings sind die meisten dieser Probleme selbst gemacht: Mobbing und Bloßstellung ehemaliger Mitglieder der Clique sind ebenso normal wie brutale Schlägereien; gleichzeitig versucht man, einen Ehrenkodex zu haben. Doch alles führt eigentlich zur Zerstörung seiner selbst.
Ebenso selbstzerstörerisch ist der tschechische Film Banger, allerdings versucht der Protagonist hier, besser zu werden. Er möchte keine Drogen mehr dealen, sondern seine Exfreundin zurückgewinnen und ein erfolgreicher Rapper sein – wofür es noch einmal viel Geld auf einmal braucht. Die Bilder wackeln oft, haben leicht ungewohnte Kontraste, denn es wurde komplett mit dem Handy gedreht – eine Ästhetik, die perfekt zum Film passt.
Wer etwas Buntes, Satirisches mit ernster Aussage hinter der Fassade sucht, muss Háromezer számozott darab (Three Thousand Numbered Pieces) anschauen. Eine – bis auf den Regisseur aus Roma bestehende – Theatergruppe verarbeitet in einem Stück ihre Erfahrungen mit Rassismus, Benachteiligung, sexueller Gewalt und vielem anderen. Doch wer wird ihre Geschichten wirklich hören?
Auch dieses Jahr gibt es auf dem Mittel Punkt Europa Filmfest viele verschiedene Filme, Genres, Geschichten. Wer in die Vielfalt des Kinos unserer östlichen Nachbarländer schnuppern möchte, ist hier wieder genau richtig.