Terror und Horror |
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El espejo de la bruja: Perfide Rache | ||
(Foto: CineLatino | El espejo de la bruja) |
Von Dunja Bialas
Zwischen Terror und Horror besteht bisweilen nur ein gradueller Unterschied. Als das CineLatino, das Festival für den lateinamerikanischen Film in Toulouse sich über die ersten vorsommerlichen Frühlingstage freute, kam die Nachricht von einem Terroranschlag in der Moskauer Konzerthalle Crocus. Sie sei bis spät in die Nacht vor dem Fernseher gehangen, sagt die Pariser Kritikerkollegin hinter ihrer dunklen Sonnenbrille. Die Bilder von den erschossenen jungen Menschen, die ein Konzert besucht hatten, hätten in ihr Erinnerungen an den Bataclan-Anschlag vor fast zehn Jahren getriggert. Die Bilder des Terrors seien zurückgekommen, als Bilder menschengemachten Horrors.
Terror löst Horror aus. Das Horror-Genre wird im spanischsprachigen Raum »cine de terror« genannt, mit dem Akzent auf dem Gefühl der von außen hereingetragenen Angst. Das ist nur ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied zum Horror, der die Perspektive des wahrnehmenden Subjekts einnimmt, das Schreckliches sieht oder erlebt. Das diesjährige CineLatino widmete seine Retrospektive »Horror.mx« dem mexikanischen Horrorfilm, mit fünf Filmen aus der Blütezeit des mexikanischen Kinos bis Ende 1950, und weiteren vier Werken aus nachfolgenden Jahrzehnten. Im mexikanischen Horrorfilm der Fünfzigerjahre kam es weit weniger zum Synkretismus mit indigenen Glaubens- oder mexikanischen Folklore-Elementen als Alejandro Jodorowskys ebenfalls programmierter Santa Sangre (1989) erwarten ließe. Der mexikanische Horrorfilm der späten Fünfzigerjahre zeigt jedoch allemal eine subversive Kraft, die sich gegen das damals noch vorherrschende, leicht konsumierbare und wenig verstörende, Cinéma de qualité richtet.
Genreerwartungen ergeben sich durch das Themenarsenal. Hexen, Vampire, Gespenster und Skelette sind die liminalen Wesen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten; um ihnen zu begegnen, muss man szientistische Rationalität durch magischen Glauben herausfordern. Nicht selten sind die Protagonisten der Filme männliche Wissenschaftler, die die Gesetze der Natur überwinden und sich zum Schöpfer aufschwingen, gemäß dem Motto »Was möglich ist, ist auch erlaubt«. Magische Gegenkräfte, überraschende Verkörperungen einer impliziten Wissenschafts-Ethik, hegen dann wieder die Hybris ein; die Anmaßungen der Wissenschaft, physikalische und moralische Grenzen zu überschreiten und darüber monströs zu werden, wird durch den übernatürlichen Terror sanktioniert.
Ein Paradebeispiel für die männliche Selbstüberschätzung und den magischen Revenge-Plot, war El espejo de la bruja (Der Spiegel der Hexe) (1960, derzeit auch auf Mubi zu sehen) von Chano Urueta, der zwischen 1928 und 1974 über hundert Filme realisiert hat. Der Film ist eine feministische Emanzipationsgeschichte, wird doch dem übergriffigen Patriarchat ein krasser Denkzettel verpasst. Die Hausangestellte des erfolgreichen Chirurgen Eduardo Ramos (Armando Calvo) kann über magische Rituale Kontakt zu Geistern und übernatürlichen Kräften herstellen, sie ist die titelgebende Hexe; Elena, Eduardos Ehefrau, ist ihr Patenkind. Interessanterweise sind auch Sara, der Hexe, Grenzen gesetzt. Im Blick durch den magischen Spiegel erfährt sie, dass Elena durch ihren Mann getötet werden wird, um durch seine Geliebte ersetzt zu werden. Die angerufenen Geister offenbaren, dass ihr Schicksal nicht verändert werden kann, auch nicht durch magische Kraft. Sara muss also Elenas Tod hinnehmen, sinnt aber auf Rache. Immer wieder ruft sie über den Hexenspiegel die tote Elena (Dina de Marco) aus dem Grabe wach, die dann im Haus von Eduardo Schrecken verbreitet, indem sie auf dem Klavier eine wiederkehrende Melodie spielt, die Eduardo schon zu Lebzeiten getriggert hat. Elenas Substitut, die Zweitfrau Deborah (Rosita Arenas, eine Diva des mexikanischen Goldenen Zeitalters), wird für die Hexe schließlich zum Medium der Rache.
Selbst wenn auf den ersten Blick immer die Frau geopfert wird, ist das Geschlechterverhältnis doch vielsagend. Denn wie in anderen Filmen der Retrospektive auch, zum Beispiel in Fernando Méndez’ El vampiro (1957) oder in seinen Misterios de ultratumba (1959) mit willenlosen oder marionettenhaften Frauen, sind die Frauen auch hier puppenhaft (Deborah) oder ferngesteuert (Elena). Die Rache am Mann wird überdies über die Körper der Frauen vollzogen: Die eine muss sterben, die andere ihr Gesicht und die makellosen Hände verlieren. Den Horror erleiden also in erster Linie die Frauen. Damit aber, und hier zeigt sich die perfide Ambivalenz der Inszenierung, gibt sich der Mann erst in seiner vollen Monströsität zu erkennen.
Die Fragmentierung des Körpers meint gefährliche Todesnähe und Ekel durch das Abjekte, etwa wenn die Hände am lebendigen Leibe verfaulen, aber auch herausgearbeitete Schönheit und libidinös aufgeladenen Fetisch. El esqueleto de la señora Morales (1960; ebenfalls auf Mubi) von Rogelio A. González zeigte in der Reihe, dass das mexikanische Cine de terror trotz der genrehaften Konventionen durch seine Subversivität auch den mexikanischen Autorenfilm vorbereitet, der in den späten Fünfzigerjahren das Goldene Zeitalter ablöst. Das Drehbuch zu dem als Eheschwank lesbaren Film über den Tierpräparator Pablo Morales (Arturo Córdova), der seine Frau Gloria (Amparo Rivelles) umbringt und sich dabei selbst zur Strecke bringt, stammt von Luis Alcoriza. Er war wie Luis Buñuel während des Spanischen Bürgerkriegs nach Mexiko emigriert und hatte zum Zeitpunkt von El esqueleto für diesen bereits mehrere Drehbücher geschrieben, darunter Los olvidados (1950), Él (1952, ebenfalls mit Arturo Córdova), La ilusión viaja en tranvía (1954) und La fièvre monte à El Pao (1959). El ángel exterminador sollte zwei Jahre später folgen.
Der Buñuelsche Beinfetisch sowie die Bigotterie der katholischen Gemeinschaft schrieb Alcoriza auch González ins Drehbuch, ebenso ist der sprechende Nachname »Morales« natürlich ein fiktionsironisches Ausrufezeichen. Señora Morales, das spätere Giftopfer, hinkt auffällig, weshalb sie meint, dass ihr Mann sie nicht begehre, worüber sie sich bitter beim Pfarrer beklagt. Außerdem ekelt sie sich vor dem Beruf ihres tote Tiere ausstopfenden Mannes, der sich die Hände definzieren muss, bevor er ihr die Pantoffeln überstreift – Kamerablick auf die Beine – oder sie liebkost. Ihr Mann ist ein anarchischer Lebemann, der nichts vom Klerus hält.
Die Intrige ergibt sich quasi von selbst. Die Aufnahmen in die zähnefletschenden Münder der Tierkadaver, der Blick der Ehefrau auf das Steak, das der Mann voller Lust auf dem Teller zerteilt, reichen, um den Ekel und den Horror zu inszenieren – allerdings nur auf der diegetischen Plot-Ebene, während der Film ansonsten als vergnüglicher Screwball rezipierbar ist.
El esqueleto war wohl auch deshalb mit »ado« wie »adolescents«, als für Jugendliche geeignet, gelabelt. Auch Carlos Enrique Taboadas aufsehenerregender Veneno par las hadas (1986; dt. etwa »Gift für die Hexen«), der neben Jorge Michel Graus Kannibalenfilm Somos lo que hay (2010; Wir sind was wir sind) die Beständigkeit des Horror-Genres für das mexikanische Kino demonstrierte, war für Jugendliche empfohlen. Die Geschichte von den zwei kleinen Mädchen Flavia und Verónica, die das titelgebende Hexengift brauen wollen, ist ganz aus Kinderperspektive erzählt. Der Plot und die Inszenierung, auch die softe Farbgebung, erinnern an Carlos Sauras Cría cuervos (1976; Züchte Raben), seinen Abgesang auf Francos zuendegehende Diktatur. Hier wird der Klassismus alter Schule zu Grabe getragen, mit seinen wohlstandverwahrlosten und auf sich selbst gestellten Kindern, denen die Erwachsenen hilflos gegenüber stehen. Wenn final auf dem Scheiterhaufen ein grausames Opfer erbracht wird, ist die bürgerliche Ordnung zwar scheinbar wieder hergestellt – wurde vorher aber auch nachhaltig in Unruhe gebracht.
Die Retrospektive mit neun Filmen hätte man sich gerne noch etwas umfassender gewünscht. CineLatino, das neben Biarritz zweitwichtigste europäische Festival für den lateinamerikanischen Film, fokussiert stärker auf aktuelle Filmproduktionen, die in mehreren Wettbewerben gezeigt werden. So muss »Horror.mx« ein Teaser bleiben, der große Lust auf mehr macht.
Auch das CineLatino-Festival insgesamt macht Lust auf mehr. Überwiegend findet es in der 1964 gegründeten und FIAF-akkreditierten Cinémathèque de Toulouse statt, deren Präsidentin heute Agnés Jaoui ist, auch um der viertgrößten Stadt Frankreichs mehr Aufmerksamkeit zu geben. Das Festival ist, vorausgesetzt man spricht französisch oder spanisch (es gibt keine englischen Untertitel), auf jeden Fall einen Besuch wert, auch um die kinematographische Landkarte zurechtzurücken. Denn unerklärlicherweise wurde Lateinamerika nach einer kurzen Boom-Zeit im europäischen Raum wieder zum unterrepräsentierten Filmkontinent. Auch angesichts aktueller post-kolonialer Diskurse ist es höchste Zeit, sich mit ihm wieder stärker zu befassen.