Lateinamerikanisches Kino pur in Toulouse |
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Valentina o la serenidad von Angeles Cruz: ein bei aller Traurigkeit lichterfüllter Film aus Mexiko. | ||
(Foto: Cinélatino – Rencontres de Toulouse) |
Toulouse, die traditionsreiche Stadt im Vorland der Pyrenäen im Süden Frankreichs, zwischen der atlantischen aquitanischen und der mediterranen okzitanischen Zone des Südens gelegen, war immer schon eine Stadt, in der Exilanten aus dem iberischen Sprachraum Zuflucht suchten. So hatten hier in den Jahren der Francozeit die sozialistische Arbeiterpartei PSOE und die Gewerkschaft UGT ihre Zentralen eingerichtet, in derselben Straße in der Altstadt, in der auch das Festival Cinélatino seine Adresse hat.
Die Tradition des politischen Engagements für emanzipatorische Bewegungen setzte sich fort in den 70er und 80er Jahren in den linken Solidaritätsbekundungen mit den lateinamerikanischen Revolutions- und Widerstandsgruppen gegen diktatorische Regimes. Daraus erwuchs dann ein Filmfestival, das sich ausschließlich dem unabhängigen lateinamerikanischen Kino zugewandt hat. Dabei legt das Festival großen Nachdruck auf die Förderung von Filmproduktionen unter prekären Bedingungen (darunter auch vielen Debütfilmen), was sich in der 2002 geschaffenen Plattform »Cinéma en construction« niederschlug. Hier wird Filmemacher*innen für die Fertigstellung von bereits begonnenen Projekten in der Phase des Rohschnitts unter die Arme gegriffen. Anlass, diese Plattform für Postproduktionshilfen zu schaffen, war Israel Adrián Caetanos Filmprojekt Bolivia, das ins Stocken geraten war. Der Regisseur bat das Festival 1999, auf dem er mit seinem Vorgängerfilm Pizza, birra, faso schon einen Preis gewonnen hatte, um Hilfe. Solche spontanen Umgangsformen zeigen ganz die Atmosphäre auf diesem Festival, die bis heute so warmherzig und freundschaftlich geblieben ist. Aus der erfolgreichen Unterstützung für Caetano entwickelte sich die mittlerweile fest etablierte Plattform »Cinéma en construction«, und zwar von Anfang an in Kooperation mit dem Filmfestival von San Sebastián auf der anderen Seite der Pyrenäen und dessen lateinamerikanischer Reihe. Die dieses Jahr ausgewählten Projekte sind Jepotá von Carlos Papá Guarani und Augusto Canani, eine brasilianisch-französische Koproduktion, und Horizonte (Kolumbien, Frankreich, Luxemburg, Chile) von César Augusto Acevedo. Diese Filme kann man sich also schon mal vormerken.
Neben den diversen Kurz-Film- und Dokumentar-Sektionen, den Retrospektiv- und Wiederaufnahmereihen historischer und herausragender Filme der letzten Jahre ist es vor allem das Programm des Wettbewerbs der fiktionalen Langfilme mit mindestens französischen Premieren, das das Prunkstück des Festivals ausmacht. Hier laufen dann auch die Debüt- und zweiten Filme, die dem Festival die Weiterentwicklung ermöglichen. Cinélatino Toulouse schafft es dabei, den Zusammenhalt und die Kontinuität aus den früheren Ausgaben aufrechtzuerhalten und dabei offen zu bleiben für solche, die neu hinzukommen. So vermischen sich die Stammgäste mit Neulingen, die sich hier sofort dazugehörig fühlen dürfen. Ein Spirit der Gemeinsamkeit, der getragen wird auch von den vielen ehrenamtlichen Helfer*innen, den an die 200 »bénévoles«, die von der Verpflegung in der »cantina« bis zu den Übersetzungen bei den Filmgesprächen eine ansteckende Stimmung der alle erfassenden Begeisterung verbreiten.
Zu sehen waren dieses Jahr unter anderem lateinamerikanische Filme, die auf der Berlinale ihre Weltpremiere wie Cidade; campo von Juliana Rojas, Betânia von Marcelo Botta, Yo vi tres luces von Santiago Lozano Álvarez und Memorias de un cuerpo que arde von Antonella Sudasassi Furniss.
Regisseur*innen wie Juliana Rojas und Santiago Lozano Álvarez waren mit früheren Filmen schon in Toulouse vertreten und ihre jetzt präsentierten Filme durch »Cinéma en construction« gefördert. Yo vi tres luces negras, ein düster oszillierender Grenzgang eines Schamanen und Heilers zwischen den Welten und Fronten der gewaltsamen Gegenwart in Kolumbiens Regenwald in der Pazifikregion, erhielt den Grand Prix Coup de Cœur, den Hauptpreis des Festivals, der mit einer Verleih- und Untertitelungsförderung für Frankreich dotiert ist.
Unter den ersten und zweiten Spielfilmen, die in Toulouse Weltpremiere oder französische Premiere hatten und teilweise von »Cinéma en construction« gefördert wurden, ragten einige sehr sensible Arbeiten heraus, die dem Schicksal von Kindern und Jugendlichen galten und die insbesondere schmerzhafte Verluste und die Trauer darüber behandelten.
Valentina o la serenidad von Ángeles Cruz, einer aus über 20 Filmen bekannten Schauspielerin in Mexiko, die hier ihren zweiten eigenen Langfilm präsentiert, zeigt die verschiedenen Phasen des Umgangs der neunjährigen Valentina mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters. Von der trotzigen Leugnung bis hin zur aggressiven Abwehr der Wirklichkeit zeichnet die Regisseurin mit ihrer unglaublich sicheren und authentischen Darstellerin Danae Ahuja Aparicio einen ergreifenden Reifeprozess des Kindes nach, der schließlich in die verstehende Akzeptanz des Unwiderruflichen mündet. Dabei verbindet sie die intime Erkundung des kindlichen Alltags in der mixtekischen Community in Oaxaka mit Einblicken in die Kultur einer entwurzelten Ethnie. Wie nebenbei lässt sie animistische Naturbetrachtungen ganz überzeugend aus der Figurenpsychologie erwachsen. Valentina sucht den Kontakt zu dem im Fluss ertrunkenen Vater immer wieder im Element des Wassers und in den Bäumen am Ufer. Bei all der schweren Thematik bleibt der Film dabei immer sehr luzide und leicht, geradezu lichterfüllt.
Der Debütfilm Sariri von Laura Donoso (es ist ihr Abschlussfilm der Filmhochschule in Santiago de Chile) besticht ebenfalls durch eine sehr einfühlsame Figurenzeichnung in einem sehr spezifischen Milieu und Naturraum. Hier ist es ein kleiner karger Ort in der Wüste im Norden Chiles, einer Region, die durch die Arbeit der Männer in den Minen geprägt ist. In einer Welt des Aberglaubens und der patriarchalen Vorbehalte gegen die Frauen versuchen die 16-jährige verheiratete Dina und ihre jüngere Schwester Sariri Formen weiblicher Selbstbehauptung zu finden. Dina sieht ihre Hoffnungen auf eine Ausbildung durch die von ihrem Mann begrüßte Schwangerschaft gefährdet, Sariri muss sich anlässlich des ersten Einsetzens der Regel dem befremdlichen Ritual einer Verbannung in die Wüste unterziehen. Abgesehen von ein paar Unentschiedenheiten, was den Einsatz magisch-mythischer Elemente betrifft, gelingt Laura Donoso eine eindringliche Skizze über erdrückende Verhältnisse. Das offene Ende mit den angerissenen Fluchtmöglichkeiten entlässt die Figuren in eine durchaus ungewisse Zukunft.
Der mexikanische Film Sujo, als Europa-Premiere in Toulouse, ist die zweite gemeinsame Arbeit von Astrid Rondero und Fernanda Valadez. Bereits ihr erster Film Was geschah mit Bus 670? (Sin señas particulares), der auch in Deutschland im Kino war, handelte von den Folgen der von den Drogenkartellen ausgehenden Gewalt in Mexiko, wo eine Mutter nach dem verschollenen Sohn suchte. Auch Sujo ist, in Anspielung auf Los olvidados von Luis Buñuel, den »Verwaisten dieses Landes in Flammen« gewidmet und möchte Auswege aus dem Rache- und Gewaltzusammenhang aufzeigen. Der Vater von Sujo ist ein Killer und wird selbst ermordet. Sujo wächst versteckt bei seiner Tante auf, die ihn so dem Zugriff der Bande zunächst entziehen kann. Doch der Heranwachsende droht zusammen mit seinen Ziehbrüdern Jaibo und Jeremy wieder in den Strudel der blutigen Gewalt gezogen zu werden. Mit spröden und elliptischen Sequenzen schafft es dieser Film immer wieder, die außerhalb der Bilder stattfindende Gewalt bedrohlich zu evozieren, aber doch einen Schutzraum für seine Figur zu bewahren. Der Weg aus der Provinz Michoacán nach Mexiko City soll schließlich die Rettung bringen, doch scheint Sujo auch hier die fatale Vergangenheit auf den Fersen zu bleiben. Ob ihm der Ausstieg aus dem Herkunftsmilieu und das Streben nach Bildung gelingen können, das ihm im letzten Teil die Universitätsdozentin Susan aufzeigt, muss wohl offen bleiben. Einen Schimmer Zuversicht vermag der Film jedenfalls auszustrahlen, auch wenn einige Drehbuchstichworte über Determinismus und freien Willen in diesem Zusammenhang etwas hölzern anmuten. Der metaphorische Bezug auf das unbändige wilde Pferd, dem der Junge den Namen Sujo verdankt, wirkt dabei letztlich zu bemüht, auch wenn er dem Film einige der eindrücklichsten Bilder beschert.
Auffällig stark machte sich Mexiko mit einem weiteren Film bemerkbar: No nos moverán von Pierre Saint-Martin Castellanos erhielt unter anderem den Publikumspreis und den Preis der französischen Filmkritik. Hier geht es um die Aufarbeitung der gewaltsamen Niederschlagung der Studenten- und Gewerkschaftsproteste des Jahres 1968 in Mexiko City durch Soldaten und Polizei. Die alte Anwältin Socorro (Luisa Huertas) glaubt, nach über 50 Jahren endlich auf die Spur des Mörders ihres Bruders gestoßen zu sein. Sie setzt einen verbrecherischen Plan der Vergeltung in Gang, um den Polizeibeamten zur Rechenschaft zu ziehen. Die Frage nach Gerechtigkeit und Überwindung der Gewalt mag hier überdeutlich thematisiert werden. Der Film in Schwarz-Weiß greift in seiner expliziten Ästhetik auch zu einer eher aufdringlichen Symbolik mit schwarzer Katze und weißer Taube. Doch die humoristische Brechung durch die schräge Figurenperspektive Socorros und die Performance der Darstellerin Luisa Huertas sorgen immer wieder für sarkastische Entlastung.