25.04.2024
Cinema Moralia – Folge 322

Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit?

Kurzfilmtage Oberhausen
70. Kurzfilmtage Oberhausen vom 1.-6. Mai 2024
(Plakat: Kurzfilmtage Oberhausen)

Die Kurzfilmtage Oberhausen sind derzeit und besonders nächste Woche das Zentrum der deutschen Kultur; über Kulturalismus, gewollte Widersprüche und Unschärfen und das Neueste vom Antisemitismus in der deutschen Kulturszene – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 322. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Eine Schutz­pflicht der Verfas­sungs­or­gane gegenüber der Menschen­würde ergibt sich in diesem Land unmit­telbar aus Artikel 1 des Grund­ge­setzes. Alles andere folgt oder mit anderen Worten: Schutz­pflicht ist öffent­lich geför­derten Kultur­ver­an­stal­tungen de jure auferlegt. Das hat die Berlinale umgesetzt. Darüber hinaus schützt Artikel 5 die Freiheit der Meinung und der Kunst. Daraus aber kann kein Recht auf Diffa­mie­rung abge­leitet werden.«
– Lars Henrik Gass, Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen

»Feels so good being bad/ There’s no way I’m turning back/
Now the pain is for pleasure/ 'Cause nothing can measure/
Love is great, love is fine/ Out the box, outta line/
'Cause I may be bad, but I’m perfectly good at it
Sex in the air, I don’t care, I love the smell of it
Sticks and stones may break my bones
But chains and whips excite me«

– Rihanna »SM«

Soll man Film­fes­ti­vals boykot­tieren?

Schon vor Monaten, im vergan­genen November veröf­fent­lichte die AG Film­fes­tival eine Erklärung, die wir hier bei artechock nach­ge­druckt haben, obwohl man ihr etwas mehr Eindeu­tig­keit gewünscht hätte. Dies könnten nur die ersten Schritte sein, schrieben wir damals. Leider ist noch nicht mal dieser erste Schritt bis heute richtig vollzogen – auf der Website der AG Film­fes­tival ist besagte Erklärung nach wie vor nicht zu finden. Auch ansonsten ist die AG Film­fes­tival bis heute nicht in der Lage, sich als Ganze öffent­lich eindeutig gegen jede Art von Boykott­kam­pa­gnen auszu­spre­chen.

Viel­leicht kommen die Damen und Herren ja noch in die Gänge, bevor das nächste ihrer Festivals zum Opfer von Boykott­kam­pa­gnen oder Schlim­merem wird.

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»Defund Berlinale?« Das las ich im Februar nach den schänd­li­chen Anti­se­mi­tismus-Vorfällen auf Seiten der Jungen Union in Berlin.

Eine vers­tänd­liche Reaktion, aber trotzdem eine Über­re­ak­tion. Und die falsche Antwort auf das Geschehen. Kultur­ver­an­stal­tungen und Festivals sind wichtig. Man sollte sie schützen, und die Mitte der Gesell­schaft muss sie vertei­digen. Auch da wo sie sperrig sind, wo sie unlieb­same Entschei­dungen treffen, wo unak­zep­table Vorfälle auf ihnen geschehen.
Darum müssen wir die Berlinale nicht nur gegen sich selbst vertei­digen, und gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre falschen Freunde.

Falsche Freunde sind sowieso ein gutes Thema. Denn nicht wenige, die heute Juden in Deutsch­land vertei­digen, die sich gegen Anti­se­mi­tismus ausspre­chen, für die Rassismus nicht nur Schwarze und Muslime betrifft, und die darüber reden möchten, dass Kritik an Muslimen und Arabern nicht immer gleich als »anti­mus­li­mi­scher Rassismus« tabui­siert werden darf, solche Gruppen der linken und links­li­be­ralen Kultur­szene sehen sich Angriffen und Attacken ausge­setzt und schnell von Linken und solchen, die es sein möchten, in eine rechte Ecke gedrängt. Man erkennt nicht, was die in solchen Fällen wieder mal sehr schlaue Antifa ganz genau weiß: Dass es auch Links­fa­schisten gibt und rotla­ckierte Faschisten, und dass es auch in der links­extremen Szene Menschen gibt, die ihren Anti­se­mi­tismus hinter soge­nanntem „Anti­zio­nismus“ und soge­nannter „Israel-Kritik“ verste­cken.

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Festivals, Film­fes­ti­vals wie auch Thea­ter­fes­ti­vals und Kunst­fes­ti­vals wie die aktuelle Biennale in Venedig oder die documenta XV vor zwei Jahren sind im Prinzip Orte der Sensi­bi­li­sie­rung, der Reedu­ca­tion, der Bürger­bil­dung, Orte der Irri­ta­tion der Welt und der Augenöff­nung, Orte für State­ments, für Streit und Wider­spruch. Sie sind aber keine Orte für Kampagnen und keine Orte für Bekennt­nisse. Insofern versteht man gut, wenn der Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen Lars Henrik Gass für sein Jubiläums­fes­tival nächste Woche kein Kampa­gnen­fes­tival möchte. Und sein Festival auch nicht als Ort der Kampagnen für das Gute verstehen will.

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Bei »Blick­punkt Film« hat Lars Henrik Gass heute einen Gast­bei­trag zum Thema geschrieben. Darin heißt es: »Ganz offenbar gehört es im Kultur­be­trieb zum guten Ton, etwas gegen Israel zu haben, und das kann man nur so richtig mitteilen, wenn man dafür öffent­liche Förderung erhält. Das ist Teil des kultu­rellen Codes, der Zugang und Erfolg im kultu­rellen Terrain sichern soll. Artikel 5 des Grund­ge­setzes garan­tiert aber nicht einen Zugang zu Förder­mit­teln – darüber entscheiden Rahmen­be­din­gungen der Förderer – sondern die Freiheit der Kunstausü­bung. Der Staats­rechtler Christoph Möllers, der für die Kultur­staats­mi­nis­terin die maßgeb­liche Rechts­mei­nung vertritt, kommt in einem Gutachten kurz gesagt zur Auffas­sung, dass man in diesem Land so ziemlich alles sagen und zeigen darf. Hier sind Rechts­güter abzuwägen. Ein Anrecht auf Förderung aber besteht sicher­lich nicht. ... Wir haben also ein Problem im Kultur­be­reich. Und ein Problem in der Kultur­po­litik, weil sie die Rahmen­be­din­gungen der Förderung nicht benennen und durch­setzen kann oder will. Das ist Ausdruck mangelnden Bewusst­seins für Gestalt und Entwick­lung gesell­schaft­li­cher Prozesse, ein Mangel an Kapazität, aber womöglich auch an Gestal­tungs­willen selbst. Offenbar glaubt man hier ernsthaft an Selbst­re­gu­lie­rung der Branche.«

Gass greift sowohl das »European Media Art Festival« (EMAF) in Osnabrück als auch das »Kurz­film­fes­tival in Hamburg« für ihre in sich wider­sprüch­li­chen und struk­tu­rell anti­se­mi­ti­schen öffent­li­chen Erklärungen und ihre gegen einen drohenden minis­ter­li­chen „Code of Conduct“ gerich­teten „Code of Ethics“ an.

»Damit werden Boykott und Ressen­ti­ment, die Dialog unter­binden, ausdrück­lich gebilligt, während man selbst vorgibt, 'Ort der Kunst- und Meinungs­frei­heit, der kriti­schen Debatte und Begegnung in gegen­sei­tigem Respekt' zu sein. Ein Vorgehen ›gegen Anti­se­mi­tismus und struk­tu­rellen Rassismus‹ kann aber kaum „fokus­siert“ sein, wenn man keinen Begriff von der Sache selbst hat.«

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Was die genannten Kultur­in­sti­tu­tionen wie die zu Boykotten aufru­fenden Künstler offen­sicht­lich übersehen: Sie glauben andere zu canceln, aber sie canceln sich selber.

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Die Verein­deu­ti­gung von Verhält­nissen ist eines der wesent­li­chen Probleme in der aktuellen Kultur. Empathie für Israel zu zeigen, oder für jüdische Opfer in Deutsch­land und anderswo heißt nicht, zu einem Zionisten zu werden und auch dies wäre nicht schlimm. Es heißt schon gar nicht, zu einem Netanjahu-Unter­s­tützer zu werden. Aber auch dies wäre nicht in jedem Fall schlimm. Denn auch wenn es vieles an Israels gegen­wär­tiger Regierung zu kriti­sieren gibt: Im Kampf gegen den Terror der Hamas sollten wir alle Israels Regierung unter­s­tützen. So wie es die Bundes­re­gie­rung tut.

Mich irritiert und empört, wenn renom­mierte Kultur­in­sti­tu­tionen, deren Etat komplett von der öffent­li­chen Hand getragen wird, die Politik dieser sie finan­zie­renden poli­ti­schen Insti­tu­tionen und der deutschen Gesell­schaft öffent­lich zurück­weisen und in diesem Fall ihre eigene kleine Nahost­po­litik machen. Zum Beispiel indem es inzwi­schen Mode wird, bei der Nennung des Herkunfts­landes eines Films sehr bewusst »Palästina« zu schreiben, statt »paläs­ti­nen­si­sche Auto­no­mie­ge­biete«. So erst gerade geschehen beim Berliner Arsenal und dem dortigen »Arabi­schen Film­fes­tival«.

Zur Erin­ne­rung: Den Staat Palästina gibt es nicht. Er ist jeden­falls weder von der UNO, noch von der Bundes­re­pu­blik oder anderen west­li­chen Staaten anerkannt.

Wer in solchen Fallen »Palästina« schreibt, tut dies bewusst auf Kosten Israels und der Politik der Bundes­re­gie­rung.

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Die Verein­deu­ti­gung von Verhält­nissen hat zwei Seiten: Klarer­weise habe ich auch keinerlei Sehnsucht nach Wider­spruchs­frei­heit. Im Gegenteil. Gleich­zeitig muss man manchmal auch „rote Linien“ ziehen. Man muss zu bestimmten Sachen auch „Nein“ sagen und „Ja“ sagen, und nicht nur „viel­leicht“ und „eventuell“ und „lieber nicht“.

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»Sehnsucht nach Wider­spruchs­frei­heit« heißt in der kommenden Woche ein Symposium zum Auftakt der Kurz­film­tage Ober­hausen.

Neben Teil­neh­mern wie Bazon Brock und Andrea Schauer wird die Begegnung mit der Autorin Sarah Rukaj besonders inter­es­sant werden. Denn Rukaj ist für ihr – heraus­ra­gendes – Buch »Die Anti­quiert­heit der Frau« in letzter Zeit vor allem von der queer­fe­mi­nis­ti­schen Szene massiv ange­feindet worden.

In Ober­hausen wird es um Selbst­ver­s­tän­di­gung der freien und (links-)liberalen Kultur gegen die Block­flö­ten­kon­zerte der kultur­wis­sen­schaft­lich aufge­bla­senen neuen Maoisten aus der Kura­to­ren­szene und rotla­ckierten Faschisten aus Neukölln gehen.

Es geht um kultu­relle Hegemonie und es geht um die Rettung der kriti­schen Öffentlch­keit gegenüber der Herr­schaft einzelner Filter-Blasen.

Den Welt­of­fen­heits­er­klärungen, mit denen an deutschen Kultur­in­sti­tu­tionen die Welt­bilder geschlossen werden sollen, muss mit wirk­li­cher Offenheit, mit Lust am Wider­spruch und Streit entge­gen­ge­treten werden. Dazu wird in Ober­hausen mit zahl­rei­chen Veran­stal­tungen ein Schritt getan werden. Wir kommen aus alldem nicht, wie manche sich wünschen, »schnell wieder raus«. Der Kultur­kampf ist da. Wir müssen ihn führen.