Cinema Moralia – Folge 322
Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit? |
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70. Kurzfilmtage Oberhausen vom 1.-6. Mai 2024 | ||
(Plakat: Kurzfilmtage Oberhausen) |
»Eine Schutzpflicht der Verfassungsorgane gegenüber der Menschenwürde ergibt sich in diesem Land unmittelbar aus Artikel 1 des Grundgesetzes. Alles andere folgt oder mit anderen Worten: Schutzpflicht ist öffentlich geförderten Kulturveranstaltungen de jure auferlegt. Das hat die Berlinale umgesetzt. Darüber hinaus schützt Artikel 5 die Freiheit der Meinung und der Kunst. Daraus aber kann kein Recht auf Diffamierung abgeleitet werden.«
– Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen»Feels so good being bad/ There’s no way I’m turning back/
Now the pain is for pleasure/ 'Cause nothing can measure/
Love is great, love is fine/ Out the box, outta line/
'Cause I may be bad, but I’m perfectly good at it
Sex in the air, I don’t care, I love the smell of it
Sticks and stones may break my bones
But chains and whips excite me«
– Rihanna »SM«
Soll man Filmfestivals boykottieren?
Schon vor Monaten, im vergangenen November veröffentlichte die AG Filmfestival eine Erklärung, die wir hier bei artechock nachgedruckt haben, obwohl man ihr etwas mehr Eindeutigkeit gewünscht hätte. Dies könnten nur die ersten Schritte sein, schrieben wir damals. Leider ist noch nicht mal dieser erste Schritt bis heute richtig vollzogen – auf der Website der AG Filmfestival ist besagte Erklärung nach wie vor nicht zu finden. Auch ansonsten ist die AG Filmfestival bis heute nicht in der Lage, sich als Ganze öffentlich eindeutig gegen jede Art von Boykottkampagnen auszusprechen.
Vielleicht kommen die Damen und Herren ja noch in die Gänge, bevor das nächste ihrer Festivals zum Opfer von Boykottkampagnen oder Schlimmerem wird.
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»Defund Berlinale?« Das las ich im Februar nach den schändlichen Antisemitismus-Vorfällen auf Seiten der Jungen Union in Berlin.
Eine verständliche Reaktion, aber trotzdem eine Überreaktion. Und die falsche Antwort auf das Geschehen. Kulturveranstaltungen und Festivals sind wichtig. Man sollte sie schützen, und die Mitte der Gesellschaft muss sie verteidigen. Auch da wo sie sperrig sind, wo sie unliebsame Entscheidungen treffen, wo unakzeptable Vorfälle auf ihnen geschehen.
Darum müssen wir die Berlinale nicht nur gegen sich selbst verteidigen, und gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre falschen
Freunde.
Falsche Freunde sind sowieso ein gutes Thema. Denn nicht wenige, die heute Juden in Deutschland verteidigen, die sich gegen Antisemitismus aussprechen, für die Rassismus nicht nur Schwarze und Muslime betrifft, und die darüber reden möchten, dass Kritik an Muslimen und Arabern nicht immer gleich als »antimuslimischer Rassismus« tabuisiert werden darf, solche Gruppen der linken und linksliberalen Kulturszene sehen sich Angriffen und Attacken ausgesetzt und schnell von Linken und solchen, die es sein möchten, in eine rechte Ecke gedrängt. Man erkennt nicht, was die in solchen Fällen wieder mal sehr schlaue Antifa ganz genau weiß: Dass es auch Linksfaschisten gibt und rotlackierte Faschisten, und dass es auch in der linksextremen Szene Menschen gibt, die ihren Antisemitismus hinter sogenanntem „Antizionismus“ und sogenannter „Israel-Kritik“ verstecken.
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Festivals, Filmfestivals wie auch Theaterfestivals und Kunstfestivals wie die aktuelle Biennale in Venedig oder die documenta XV vor zwei Jahren sind im Prinzip Orte der Sensibilisierung, der Reeducation, der Bürgerbildung, Orte der Irritation der Welt und der Augenöffnung, Orte für Statements, für Streit und Widerspruch. Sie sind aber keine Orte für Kampagnen und keine Orte für Bekenntnisse. Insofern versteht man gut, wenn der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars Henrik Gass für sein Jubiläumsfestival nächste Woche kein Kampagnenfestival möchte. Und sein Festival auch nicht als Ort der Kampagnen für das Gute verstehen will.
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Bei »Blickpunkt Film« hat Lars Henrik Gass heute einen Gastbeitrag zum Thema geschrieben. Darin heißt es: »Ganz offenbar gehört es im Kulturbetrieb zum guten Ton, etwas gegen Israel zu haben, und das kann man nur so richtig mitteilen, wenn man dafür öffentliche Förderung erhält. Das ist Teil des kulturellen Codes, der Zugang und Erfolg im kulturellen Terrain sichern soll. Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert aber nicht einen Zugang zu Fördermitteln – darüber entscheiden Rahmenbedingungen der Förderer – sondern die Freiheit der Kunstausübung. Der Staatsrechtler Christoph Möllers, der für die Kulturstaatsministerin die maßgebliche Rechtsmeinung vertritt, kommt in einem Gutachten kurz gesagt zur Auffassung, dass man in diesem Land so ziemlich alles sagen und zeigen darf. Hier sind Rechtsgüter abzuwägen. Ein Anrecht auf Förderung aber besteht sicherlich nicht. ... Wir haben also ein Problem im Kulturbereich. Und ein Problem in der Kulturpolitik, weil sie die Rahmenbedingungen der Förderung nicht benennen und durchsetzen kann oder will. Das ist Ausdruck mangelnden Bewusstseins für Gestalt und Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse, ein Mangel an Kapazität, aber womöglich auch an Gestaltungswillen selbst. Offenbar glaubt man hier ernsthaft an Selbstregulierung der Branche.«
Gass greift sowohl das »European Media Art Festival« (EMAF) in Osnabrück als auch das »Kurzfilmfestival in Hamburg« für ihre in sich widersprüchlichen und strukturell antisemitischen öffentlichen Erklärungen und ihre gegen einen drohenden ministerlichen „Code of Conduct“ gerichteten „Code of Ethics“ an.
»Damit werden Boykott und Ressentiment, die Dialog unterbinden, ausdrücklich gebilligt, während man selbst vorgibt, 'Ort der Kunst- und Meinungsfreiheit, der kritischen Debatte und Begegnung in gegenseitigem Respekt' zu sein. Ein Vorgehen ›gegen Antisemitismus und strukturellen Rassismus‹ kann aber kaum „fokussiert“ sein, wenn man keinen Begriff von der Sache selbst hat.«
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Was die genannten Kulturinstitutionen wie die zu Boykotten aufrufenden Künstler offensichtlich übersehen: Sie glauben andere zu canceln, aber sie canceln sich selber.
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Die Vereindeutigung von Verhältnissen ist eines der wesentlichen Probleme in der aktuellen Kultur. Empathie für Israel zu zeigen, oder für jüdische Opfer in Deutschland und anderswo heißt nicht, zu einem Zionisten zu werden und auch dies wäre nicht schlimm. Es heißt schon gar nicht, zu einem Netanjahu-Unterstützer zu werden. Aber auch dies wäre nicht in jedem Fall schlimm. Denn auch wenn es vieles an Israels gegenwärtiger Regierung zu kritisieren gibt: Im Kampf gegen den Terror der Hamas sollten wir alle Israels Regierung unterstützen. So wie es die Bundesregierung tut.
Mich irritiert und empört, wenn renommierte Kulturinstitutionen, deren Etat komplett von der öffentlichen Hand getragen wird, die Politik dieser sie finanzierenden politischen Institutionen und der deutschen Gesellschaft öffentlich zurückweisen und in diesem Fall ihre eigene kleine Nahostpolitik machen. Zum Beispiel indem es inzwischen Mode wird, bei der Nennung des Herkunftslandes eines Films sehr bewusst »Palästina« zu schreiben, statt »palästinensische Autonomiegebiete«. So erst gerade geschehen beim Berliner Arsenal und dem dortigen »Arabischen Filmfestival«.
Zur Erinnerung: Den Staat Palästina gibt es nicht. Er ist jedenfalls weder von der UNO, noch von der Bundesrepublik oder anderen westlichen Staaten anerkannt.
Wer in solchen Fallen »Palästina« schreibt, tut dies bewusst auf Kosten Israels und der Politik der Bundesregierung.
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Die Vereindeutigung von Verhältnissen hat zwei Seiten: Klarerweise habe ich auch keinerlei Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit. Im Gegenteil. Gleichzeitig muss man manchmal auch „rote Linien“ ziehen. Man muss zu bestimmten Sachen auch „Nein“ sagen und „Ja“ sagen, und nicht nur „vielleicht“ und „eventuell“ und „lieber nicht“.
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»Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« heißt in der kommenden Woche ein Symposium zum Auftakt der Kurzfilmtage Oberhausen.
Neben Teilnehmern wie Bazon Brock und Andrea Schauer wird die Begegnung mit der Autorin Sarah Rukaj besonders interessant werden. Denn Rukaj ist für ihr – herausragendes – Buch »Die Antiquiertheit der Frau« in letzter Zeit vor allem von der queerfeministischen Szene massiv angefeindet worden.
In Oberhausen wird es um Selbstverständigung der freien und (links-)liberalen Kultur gegen die Blockflötenkonzerte der kulturwissenschaftlich aufgeblasenen neuen Maoisten aus der Kuratorenszene und rotlackierten Faschisten aus Neukölln gehen.
Es geht um kulturelle Hegemonie und es geht um die Rettung der kritischen Öffentlchkeit gegenüber der Herrschaft einzelner Filter-Blasen.
Den Weltoffenheitserklärungen, mit denen an deutschen Kulturinstitutionen die Weltbilder geschlossen werden sollen, muss mit wirklicher Offenheit, mit Lust am Widerspruch und Streit entgegengetreten werden. Dazu wird in Oberhausen mit zahlreichen Veranstaltungen ein Schritt getan werden. Wir kommen aus alldem nicht, wie manche sich wünschen, »schnell wieder raus«. Der Kulturkampf ist da. Wir müssen ihn führen.