02.05.2024

Cinema of Urgency

11 MAL MORGEN
Völker, vereinigt Euch im Fussball! 11 Mal Morgen
(Foto: Dok.fest | 11 MAL MORGEN)

Das 39. Dok.fest München spürt in vielen Reihen den relevanten Themen der Zeit nach

Von Hanni Beckmann

Schon zum 39. Mal steht der Mai in München im Zeichen des Doku­men­ta­ri­schen. 109 Filme aus 51 Ländern werden vom 1. bis 12. Mai in den Münchner Kinos zu sehen sein, in den Wett­be­werben »Dok.inter­na­tional« (12 Filme), »Dok.deutsch« (10 Filme) und »Dok.horizonte« (10 Filme) als zumeist deutsche Premieren.

Eröffnet wurde das Festival für den Doku­men­tar­film gestern im ausver­kauften Deutschen Theater mit über 1000 Plätzen, das seit einigen Jahren erfolg­reich für ausge­wählte Filme zum Einsatz kommt (»ganz großes Kino«), unge­achtet der nicht optimalen Akustik (kein Kinosound) und dem distan­zierten Blick auf die über der Bühne ange­brachte Leinwand. Mit der Wahl des Eröff­nungs­films zollen die Dok.fest-Macher Daniel Sponsel, Adele Kohut und ihr Team einer neuen Entwick­lung Tribut: es geht um AI und die neue Realität im Internet. Klaus Sterns Watching You – Die Welt von Palantir und Alex Karp folgt dem US-Unter­nehmer Alex Karp, der mit seiner Firma Palantir Tech­no­lo­gies die erfolg­reiche und gleich­zeitig umstrit­tene Daten­ana­lyse-Software »Gotham« geschaffen hat. Damit ist es Staaten möglich, ihre Bürger umfassend zu über­wa­chen, sie arbeiten Hand in Hand mit Geheim­diensten, Poli­zei­behörden und dem Militär. Inves­ti­gativ deckt der Film die Arbeits­weise der CEOs des Silicon Valley auf.

AI und die künst­liche Intel­li­genz ist eines der Themen, die dem Dok.fest auch dieses Jahr wieder höchste Aktua­lität verleihen. Auch Eternal You – Vom Ende der Endlich­keit (Reihe Dok.panorama) widmet sich den Umwäl­zungen durch die neue Tech­no­logie. Es geht hier um die größte exis­ten­zi­elle Sorge, die die Mensch­heit hat: den Tod. Wie der zumindest virtuell im Land der unbe­grenzten Möglich­keiten über­wunden wird, durch Avatare, Holo­gramme und ChatGPT, davon erzählen Hans Block und Moritz Riese­wieck (The Cleaners), nicht ganz ohne Grusel­mo­mente.

Als Thema ausge­wiesen ist dieses Jahr der wichtige Blick auf den Zustand der Demo­kra­tien in Europa. In der Reihe »Dok.focus Democrazy« laufen fünf Filme über Ungarn, Russland, Öster­reich, Norwegen und Deutsch­land. Darunter ist Kurt Langbeins Projekt Ball­haus­platz über den Aufstieg und Fall von Sebastian Kurz, der über die »Ibiza-Affäre« stolperte. In Connie Fields Democracy Noir wird sichtbar gemacht, wie Staats­chef Viktor Orbán die Demo­kratie aushölt. Of Caravan And The Dogs begleitet die »Nowaja Gaseta« und die Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion »Memorial« mit der schwie­rigen Arbeit im zweiten Jahr von Putins Invasion.

Wenn Demo­kra­tien zerfallen oder tota­li­täre Regimes unter­drü­cken, bleibt oft nur der Gang ins Exil. »Film­ma­king in Exile« heißt eine weitere Themen­reihe des Dok.fests, die in fünf Filmen vom schwie­rigen Leben im Exil erzählt. In Bahar Bektas Exile Never Ends sitzt der Bruder der Filme­ma­cherin im deutschen Gefängnis, kurz vor der Abschie­bung in die Türkei. Sie sind kurdische Aleviten, im Heimat­land drohen Repres­sionen. Die Familie berichtet intensiv und packend von den Auswir­kungen der Entwur­ze­lung. Mit viel Humor erzählt die iranische Filme­ma­cherin Narges Kalhor in Shahid von dem Gang durch die deutschen Insti­tu­tionen. Shahid ist ihr zweiter Nachname, übersetzt heißt er »Märtyrer«, was in der isla­mi­schen Mytho­logie so unheil­brin­gend ist, dass jetzt auch Irans Drohnen, die gegen die Ukraine und gegen Israel gerichtet werden, so heißen. Vers­tänd­lich, dass sie den Namen ablegen will, dazu aber ist auch Nachhilfe in deutschen Amts­stuben geboten.

Alle Filme des Dok.fests zeigen ein »Cinema of Urgency«, aber nur eine Reihe darf so im Unter­titel heißen: »Dok.horizonte«, das sich den Filmen des globalen Südens und den soge­nannten Entwick­lungs­län­dern widmet. Post­ko­lo­nia­lismus thema­ti­sieren Zippy Kimundu und Meena Nanji in Our Land, Our Freedom. Auf der Suche nach den sterb­li­chen Über­resten ihres Vater, eines kenia­ni­schen Frei­heits­kämp­fers der Mau-Mau, trifft die Tochter Wanjugu auf nicht­re­sti­tu­ierte Landent­eig­nungen der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht Groß­bri­tan­nien. Auf eine Insel geht es in Omi Nobu – The New Man des kapver­di­schen Filme­ma­chers Carlos Yuri Ceuninck. São Nicolau ist winzig, dabei weit abge­schlagen. Eine »Geis­ter­insel«, sagt Qurino, der über ein Radio Kontakt zur Welt hält. Der Film erzählt in eindrück­li­chem Cine­ma­scope vom Verschwinden des Lebens.

Seit vielen Jahren hat der Schwer­punkt »Dok.network Africa« einen festen Programm­platz im Dok.fest-Programm. Dieses Jahr stellt sich die Reihe der Aufar­bei­tung der europäi­schen Kolo­ni­al­ge­schichte auf dem afri­ka­ni­schen Kontinent. Vier Filme aus Tansania, Kenia, Kamerun und Eritrea werden zu sehen sein, dazu gibt es Film­ge­spräche und eine Podi­ums­dis­kus­sion mit den Filme­ma­chern.

Wem das alles zu schwere Themen sind, sollte sich unbedingt den kollek­tiven Film Elf Mal Morgen ansehen. Studie­rende der Münchner HFF haben elf Fußball­ver­eine besucht, in denen es um Inte­gra­tion, Inklusion, Diver­sität und nicht zuletzt Leiden­schaft geht. Fußball als völker­ver­s­tän­di­gendes Medium: das gleiche gilt natürlich für die Filme, die Brücken schlagen, Gräben über­winden und von unbe­kannten Welten und Exis­tenzen erzählen können.