Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt aushalten |
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Centerpiece des Festivals: No Other Land | ||
(Foto: Dokumentarfilmwoche Hamburg | Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor) |
Von Eckhard Haschen
Einem Filmfestival, das sich als »Forum für den formal und inhaltlich anspruchsvollen Dokumentarfilm« versteht, steht es gut zu Gesicht, zu der vom Nahostkonflikt ausgelösten kulturpolitischen Debatte Stellung zu beziehen – zumal wenn es mit No Other Land den bei der diesjährigen Berlinale zum besten Dokumentarfilm gekürten und durch die Dankesreden zum Stein des Anstoßes gewordenen Film in seinem Programm hat. Es leistet dies nicht nur, indem es sich explizit gegen die derzeitige Polarisierung und die Zwei-Seiten-Politik sowie gegen Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und jedwede andere Form der Diskriminierung wendet, sondern, indem es konsequent auf Dialog setzt. So standen einige der angereisten Filmemacher*innen dem Publikum sowohl bei den Aufführungen ihrer Arbeiten im Kino Rede und Antwort als auch bei meist am darauffolgenden Vormittag abgehaltenen Diskussionen, in denen übergreifende Themen vertiefend diskutiert wurden.
In einem dieser »Position« genannten Gesprächsformate sprach etwa die österreichische Dokumentarfilmerin Karin Berger anhand ihres zur Eröffnung gezeigtem Wankostättn sowie ihrer früheren Arbeiten Küchengespräche mit Rebellinnen und Ceija Stojka – Porträt einer Romni über das »Erzählen als Erinnerungsort«. Die besondere Art, wie Karl Stojka in Wankostättn 1997 an jenem einst von Roma und Sinti bewohnen Ort von seinem Leben dort sowie von seiner Deportation durch die Nationalsozialisten im Jahr 1943 erzählt – und wie Berger ihm den nötigen Raum dazu gibt, macht die große Stärke ihres halblangen Films aus. Eine Stärke, die auch schon den 1998 fertiggestellten Ceija Stojka – über die Schwester von Karl Stojka – auszeichnete, für den dieses nun wieder hervorgeholte Material ursprünglich gedacht war.
Ein weiteres Gespräch beschäftigte sich mit »Arbeit unter Beobachtung« und brachte Olena Newkrytas mittellangen Essayfilm Patterns Against Workers mit Harun Farockis Wie man sieht aus dem Jahr 1988 zusammen. Gerade im Vergleich dieser beiden Arbeiten wurde sehr schön deutlich, wie sich mit unterschiedlichen Verfahren dem Wesen der Arbeit in der technisierten, beziehungsweise digitalisierten Welt auf die Spur kommen lässt. Wo Farocki mäandernde Assoziationsketten knüpft, was Michael Baute in der Diskussion sehr schön herausarbeitete, verdichtet die von der bildenden Kunst kommende Newkryta ihren Stoff maximal.
Ein bewegender Höhepunkt des Festivals war die Aufführung des schon auf der letztjährigen Berlinale gezeigten Notre corps und das anschließende Gespräch mit der Regisseurin Claire Simon. Wie sie in ihrem knapp dreistündigen Film den Alltag in der gynäkologischen Abteilung des Pariser Krankenhauses Tenon von Geschlechtsumwandlung, künstlicher Befruchtung, Schwangerschaftsabbruch, Geburten bis zu Arzt-Patienten-Gesprächen über unheilbare Krankheiten einfängt, beweist eindrucksvoll, welch große Möglichkeiten der beobachtende Dokumentarfilm nach wie vor hat.
Ein erschütternder Höhepunkt des Festivals war schließlich der von einem vierköpfigen palästinensisch-israelischen Kollektiv gedrehte No Other Land. Weil die Dörfer von Masafar Yatta im Westjordanland einem Truppenübungsplatz weichen sollen, werden die Häuser nach und nach zerstört. So irgendwann auch das der Familie von Basel Adra, der die brutalen Vorgänge über mehrere Jahre hinweg filmt. Schließlich ergreift auch der mit Adra befreundete israelische Journalist Yuval Abraham Partei für die palästinensische Seite. Auch wenn der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel am Ende des Films allzu verkürzt vorkommt, ist No Other Land letztendlich ein Film, der um Verständnis wirbt, und um den Versuch, die beiden verfeindeten Parteien irgendwie zusammenzubringen.