77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Henne und das Ei |
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Symbolik pur: Die Schlange hat sich gehäutet | ||
(Foto: Mubi) |
»Das ist ein frauenfeindlicher Film«, meinte eine Kollegin aus Deutschland direkt nach Ansehen von The Substance, dem Film von der Französin Coralie Fargeat.
Eine Woche lang führte dieser Film den – allerdings angloamerikanisch dominierten – »Jury Grid« an,
die traditionelle Kritikerabstimmung des Festivaldailys bei »Screen International«. Erst an den letzten zwei Tagen des Festivals wurde er zunächst von Miguel Gomes' Grand Tour, dann von All We Imagine As Light von Payal Kapadia und schließlich von Mohammad Rasoulofs The Seed Of The Sacred Fig übertrumpft.
Kein Film hat mich in diesem Cannes-Jahr derart geärgert wie der von Coralie Fargeat. Nicht nur, weil ich ihn für einfach nur schlecht und überschätzt halte, und vollkommen deplatziert im Wettbewerb von Cannes. Ich glaube nicht, dass es dem Festival genutzt hat, einen solchen Film im Wettbewerb zu zeigen. Das ist ein klassischer Mitternachtsfilm. Da kann er ohne Probleme laufen, aber mit einem Wettbewerb hat das überhaupt nichts zu tun.
Der eigentliche Trigger für mich war aber in diesem Fall, dass viele, auch sehr geschätzte Menschen und Kollegen – nicht nur Deutsche und Franzosen, sondern Italiener, Luxemburger, Österreicher – diesem Film viel abgewinnen konnten, und ihn in Diskussionen vehement verteidigten, mit philosophischen Argumentationen adelten und in die Nähe großer Meister(werke) des Kinos rückten. Sie glaubten wirklich, hier eine nächste »Goldene Palme« gesehen zu haben, einen neuen Titane. Es war eine andere Form von Debatte, als dass man nur verschiedener Ansicht war, aber im gleichen Orbit sich befindet. Hier prallten Welten aufeinander.
Darüber will ich hier schreiben, denn die Argumente und Gespräche haben mich bis zum Festivalende beschäftigt, was ja, wenn auch nichts anderes, für die Qualität von The Substance sprechen könnte.
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Dass dieser Film frauenfeindlich ist, finde ich gar nicht unbedingt. Jedenfalls ist es zumindest komplizierter. Ich finde eher, der Film ist menschenverachtend; vor allem aber tut man dem Film schon viel zu viel Gutes an, wenn man ihn überhaupt so ernst nimmt. Denn eigentlich ist The Substance ein riesengroßer Quatsch, der nicht sehr gut anfängt und dann immer schlechter wird.
Für Coralie Fargeat ist es der zweite Spielfilm. Produziert haben ihn die Universal Studios, sie haben ihn allerdings dann vor Cannes auch outgesourced, so dass das Universal-Label nur noch sehr klein im Abspann auftauchte – kein Indiz für allzu großes Vertrauen im Vorfeld, sondern eine deutliche Distanzierung.
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Ganz am Anfang sieht man im allerersten Bild ein aufgeschlagenes rohes Ei. Eine gummibehandschuhte Hand setzt eine Spritze an und spritzt eine undefinierte Substanz in das Eigelb. Es dauert ein paar Sekunden, dann kommt es zu einer rapiden Zellteilung und ein zweites perfektes Eigelb ploppt aus dem ersten heraus. Danach wechselt das Bild und man sieht auf dem Walk of Fame einen Oscar-Stern mit dem Namen der Hauptfigur: Elizabeth Sparkle. Dieser Stern wird dann, während die Filmcredits zu sehen sind, im Schnelldurchlauf »altern«; über die Jahre hinweg zeigt er Risse, es landet Dreck auf ihm, die Leute laufen darüber hinweg und benehmen sich zunehmend achtlos. Genau genommen ist das, was mit dem Stern passiert, genau das, was der Film mit seiner Hauptfigur macht. Er missachtet und beschädigt sie.
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Demi Moore spielt diese Hauptfigur. Eine Frau, die im Fernsehen eine Aerobic- und Körper-Ertüchtigungssendung macht, zunehmend aber feststellt, dass – Überraschung! – die Jugend nicht ewig währt. Ausgerechnet an ihrem 50. Geburtstag erfährt sie durch Zufall – Frauen sollten öfters Herrenklos besuchen –, dass sie der mächtige böse Harvey (Dennis Quaid), der Chef des Senders, abservieren und durch eine deutlich Jüngere ersetzen will.
So gerät Elizabeth in Versuchung, sich die titelgebende Substanz einzuverleiben – mit dem Ergebnis, dass sich aus ihr eine junge Frau von großer erotischer Verführungskraft herausschält wie zu Beginn das zweite Eigelb aus dem ersten: Sue (Margaret Qualley).
Es geht darum, eine bessere Version von sich selbst zu entwickeln: »You are the Matrix«, wird der Moore-Figur gesagt: Sie ist die Eigentliche, die andere bleibt Hülle.
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Mit dieser Substanz hat es nun eine gewisse Bewandtnis: Beide nun parallel in abwechselndem »Wach«-»Schlaf«-Rhythmus anwesende Körper müssen sich gegenseitig ernähren, um im Gleichgewicht gehalten zu werden. Wenn das nicht passiert, verfällt der jeweils inaktive ein klein wenig und das unnatürlich schnell und unrevidierbar. Dieser körperliche Zerfall betrifft aber nur den »eigentlichen« Körper, den »Wirtskörper«, und wird hier im Detail abgebildet. Das Ganze hat im Kino nicht zuletzt deswegen seinen Charme, weil Demi Moore die Hauptrolle spielt. Also – das nur ganz nebenbei – jene Demi Moore, die tatsächlich im Herbst 62 Jahre alt wird, hier aber eine gerade 50-jährige spielt.
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Aus einer solchen offensichtlichen und nur im Offensichtlichen liegenden Handlung kann man all die soziokulturellen Überlegungen ableiten, die man daraus ableiten möchte. Der Film legt nichts besonders nahe und weist nichts zurück, er ist einfach ungemein beliebig: Man kann erstens die durch Männerfantasien in der Unterhaltungsindustrie erzeugten Stereotypen und ihre schädlichen Folgen für viele Frauen hinterfragen. Man kann zweitens darüber nachdenken, wie das männliche Begehren das Modell einer idealtypischen und geradezu künstlichen Schönheit entwirft, der die Realität nicht standhalten kann. Wie sich die Menschen durch solche falschen (??) Ideale gezwungen fühlen, gegen den Lauf der Zeit anzukämpfen. Man kann schließlich argumentieren, dass der Film auf populäre Weise die unschöne Altersdiskriminierung anprangert.
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Das wäre bislang aber eine rein inhaltistische, unterkomplexe Betrachtungsweise. Ist dieser Film nur ein Thesenfilm?
Um wirklich über den Film zu sprechen – und nicht darüber, was wir gerne in ihm sehen würden –, müssen wir über den Inhalt hinausgehen und über seine Formen sprechen, zeigen, wie seine Bilder aussehen, wie sein ästhetisches Design und sein narrativer Rahmen sind, also wie Körper gefilmt und Räume dargestellt werden. Versuchen wir das mal...
Regisseurin Fargeat wählt ausdrücklich das Genre des »Body Horror«. Sie zeigt Nadeln, die Adern durchstechen, Augen mit mehreren Irissen, Leiber, die sich in zwei Hälften teilen, Eingeweide, die sich auf den Boden ergießen, Gliedmaßen, die sich monströs verdrehen oder monströs altern, deformierte und kaputte Leiber.
Dialoge gibt es kaum, und die Dialoge, die wir hören, bewegen sich auf dem intellektuellen Niveau des Kindergartens.
Plausible Räume gibt es auch nicht, die Figuren gehen vielmehr immer wieder völlig unplausible Wege. Die Aufeinanderfolge der Bilder und Szenen ist abrupt und blitzartig, dominiert von einer selbstverliebten Montage, die um jeden Preis noch für den dümmsten Zuschauer sichtbar sein will.
Es gibt auch keine Charaktere oder Figuren im ganzen Film, sondern nur Stereotypen oder grobschlächtige Karikaturen, bei denen selbst die schlechtesten Karikaturisten vor Scham erröten müssten. Alle Männer auf der Leinwand erscheinen sowieso als hassgetriebene Grotesken.
Der ganze Film ist photographiert wie ein Werbefilm. Alles ist zu schön, zu ausgeleuchtet, zu glatt. Zunächst entspricht das, könnte man verteidigend einwenden, der minimalistischen Fabel, die dieser Film ist. Einer Fabel, in der alles kalt und chirurgisch rein erscheint.
Der Film gefällt sich selbst aber auch in dieser Glätte. Er wird einem aber gerade dadurch zunehmend zuwider.
Nach etwa zwei Stunden verwandelt sich dann die glatte Fabel in einen makabren Albtraum, in dem
die schlanken Frauenkörper zu Monstern eines Francis-Bacon-Gemäldes mutieren und die Frauen in so viel Blut gebadet werden, dass man Gedanken an das Ende von Brian De Palmas Carrie nicht vermeiden kann. Nur sind da noch all die anderen, viel zu viele, viel zu widersprüchlichen Verweise, mit denen Fargeat spielt und ihren Film aufpeppt. Ein Mittel, sich durch angebliches Augenzwinkern und
komplizenhafte Anspielungen für die Genre-Gemeinde interessant zu machen: Hitchcocks Vertigo und die gespaltene Frau gehört dazu; die falschen, perversen Träume von David Lynchs Inland Empire, und natürlich David Cronenbergs The Fly.
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Die Hauptschwäche von The Substance ist aber die behauptete Konkurrenz zwischen den beiden Frauen bzw. der Demi-Moore-Figur und ihrem jüngeren Abbild. Dabei sollen sie doch eins sein, beziehungsweise die eine der Avatar der anderen. Zunehmend wird der ganze Film so immer weniger schlüssig. Spätestens wenn die beiden Identitäten im letzten Viertel des Films nebeneinander existieren, ist es einfach nur noch ein großer Unsinn.
The Substance ist ein Film, der seine eigenen Regeln nicht befolgt, und der in sich total inkonsistent ist. Egal, ob ich den Film nun mag oder nicht – wie gesagt gebe ich gerne sofort zu: ich mag ihn nicht –, aber wenn schon, dann macht es nur Sinn, dass man Prämissen installiert, wenn man sie in irgendeiner Weise dann auf den Figuren austragen will und durch diese Regeln mit ihnen etwas machen möchte.
Man kann eine künstliche Welt bauen, aber wenn
diese künstliche Welt dann nicht nach den Regeln funktioniert, die der Film zuvor eine Stunde lang erklärt hat, dann macht das alles keinen Sinn.
Es gibt viele solcher Brüche mit den eigenen selbst gesetzten Regeln in diesem Film. Der wichtigste ist der, dass plötzlich beide Hälften der Hauptfigur gleichzeitig am Leben sein können. Da hebt The Substance vollkommen ab, und wird eigentlich irre. Man kann natürlich immer sagen: das ist ein reiner Albtraum, den die Figur von Demi Moore träumt.
Dann entsteht noch ein großes Monster, das beide Frauen verschmelzen lässt – warum und wieso? Und wie kommt
dieses am Ende auf die Bühne? Das letzte Viertel des Films ist nur noch eine große Farce: Plötzlich denkt man, man ist im »Crazy Horse« gelandet, und sieht – nichts dagegen – barbusige Mädchen tanzen wie einst in Showgirls und kleine Kinder dürfen nackte Brüste sehen – weil das in Amerika niemand darf, fällt auch der kritische Bezug zur US-Gegenwart weg.
Auf eine gewisse Weise möchte The Substance gory und schmutzig sein. Und dann in all seiner Ekeligkeit und in allem Body Horror plötzlich doch unglaublich sauber und clean und glatt, wie die Frauen in diesem Film.
Aber auch die – gottgleiche, männliche – Stimme ohne Gesicht, die »Substance« vertritt, hämmert uns Zuschauern ein: »The border needs to be respected. So respect it.« Das gilt auch für den Film selbst.
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Die Prämisse des Films macht eigentlich nur dann Sinn, wenn ein Mensch mit sich identisch bleibt, aber einen jungen Körper bekommt, als eine Art Avatar. Ich kann da soweit mitgehen, dass ich sage: Der neue Körper hat eine Eigendynamik und der entfremdet gewissermaßen auch die Seele des Menschen von seinem ursprünglichen Körper.
Gleichzeitig sagt die Stimme in dem Film auch: »You are the matrix.« Es ist also schon klar, welche Seite die echte und welche die falsche ist.
Wenn sich die falsche Seite nun davon distanzieren und eine Eigendynamik erhalten kann – bleibt die Frage, wie das überhaupt passieren kann, wenn die Matrix doch immer gleich bleibt, denn eigentlich ist der zweite Körper nur ein Sklavenkörper, der nur eine Hülle ist, die besser funktioniert und seinem Besitzer Möglichkeiten gibt, die er nicht hat im alten Körper.
Dann wäre das interessant.
Und dann könnte man sagen, dass Demi Moore unter dieser Lüge leidet und dass sie
darunter leidet, dass ihr tatsächliches Alter und ihre Erfahrungen und ihr Wissen gewissermaßen nicht passen zu diesem jungen Körper – und dass sie es zum Beispiel albern findet, mit diesen oberflächlichen Männern überhaupt Umgang zu haben, die viel zu jung sind und eigentlich nur Sex wollen. Man könnte sich Irritationen ausdenken, etwa dass diese jungen Männer plötzlich denken, »so redet doch keine Frau in meinem Alter«. Oder dass sie sagen »don’t talk like my mom«
– das wäre alles interessant.
Aber hier passiert gar nichts, nichts Neues, sondern eigentlich nur die schlichte platte Eitelkeits-Konkurrenz zwischen einer alternden Frau und einer sehr jungen.
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Ein Luxemburger Kollege fragte, ob es nicht ganz postmodern um Regelbruch ginge, und darum, die philosophische Frage des Films auszutragen.
Aber was ist diese philosophische Frage? Sie lautet vielleicht: Wie sehen wir uns? Wie denken wir unseren Körper in Bezug auf eine Gesellschaft der Oberflächlichkeit?
Das kann man spannend finden und spannend stellen. Aber der Film beantwortet diese Frage doch eigentlich nur mit etwas, das wir schon längst wissen.
Es ist ja offensichtlich: wir wollen junge Körper, Körper die knackig sind. Wir wollen sie nicht nur ansehen, wir wollen auch selbst solche Körper haben. Ebefalls klar: Alle Menschen haben Probleme mit ihrem Alter und den körperlichen Folgen des Alters – das ist klassenübergreifend. Die tatsächliche Antwort darauf ist, dass sich die Menschen operieren lassen, oder Medikamente nehmen und Diäten praktizieren, Aerobic und Yoga im Fernsehen und diesen ganzen Schwachsinn machen. Das ist okay, es ist alles gesetzt. Aber diese Phänomene der jugendorientierten Selbstoptimierung bildet der Film einfach nur ab. Er macht nichts damit, er entwickelt es nicht weiter.
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Ist The Substance jetzt der Anbruch einer neuen feministischen Sprache? Einer neuen Sprache des Body Horrors?
Für Titane konnte man das vor drei Jahren sagen, wobei ich auch bei Titane glaube, dass dies ein überschätzter Film ist. Aber in jedem Fall ist Titane ein höchst origineller und gut inszenierter Film, der
manchmal filmisch extrem gut war. In dieser Hinsicht müsste man Titane immer verteidigen.
Und dass in diesem Fall Leute tatsächlich seinerzeit entsetzt waren, dass so ein Film die Goldene Palme gewinnt, das fand ich eher produktiv. Es geht im Kino um genau so ein Entsetzen.
Dieses Entsetzen ist ein richtig produktives Entsetzen. Das hat es bei The Substance nicht gegeben. Vielmehr dominierte in der von mir besuchten Pressevorführung des Films allgemeine Heiterkeit. Da stimmt etwas nicht.
Um ein zweiter Titane zu sein, sind die filmischen Mittel viel zu begrenzt, ist die wohlgesetzte intellektuelle Ebene von The Substance zu oberflächlich und der Body Horror zu glatt: Wenn das Publikum gluckst und lacht, anstatt sich die Hand vor Augen zu halten, ist es kein Horrorfilm, sondern eine Komödie.