30.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Henne und das Ei

Filmszene »The Substance«
Symbolik pur: Die Schlange hat sich gehäutet
(Foto: Mubi)

»You are the Matrix«: Coralie Fargeats The Substance bringt Eigentliches und Hülle, Substanz und Akzidenz durcheinander – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das ist ein frau­en­feind­li­cher Film«, meinte eine Kollegin aus Deutsch­land direkt nach Ansehen von The Substance, dem Film von der Französin Coralie Fargeat.
Eine Woche lang führte dieser Film den – aller­dings anglo­ame­ri­ka­nisch domi­nierten – »Jury Grid« an, die tradi­tio­nelle Kriti­ker­ab­stim­mung des Festi­val­dailys bei »Screen Inter­na­tional«. Erst an den letzten zwei Tagen des Festivals wurde er zunächst von Miguel Gomes' Grand Tour, dann von All We Imagine As Light von Payal Kapadia und schließ­lich von Mohammad Rasoulofs The Seed Of The Sacred Fig über­trumpft.

Kein Film hat mich in diesem Cannes-Jahr derart geärgert wie der von Coralie Fargeat. Nicht nur, weil ich ihn für einfach nur schlecht und über­schätzt halte, und voll­kommen deplat­ziert im Wett­be­werb von Cannes. Ich glaube nicht, dass es dem Festival genutzt hat, einen solchen Film im Wett­be­werb zu zeigen. Das ist ein klas­si­scher Mitter­nachts­film. Da kann er ohne Probleme laufen, aber mit einem Wett­be­werb hat das überhaupt nichts zu tun.

Der eigent­liche Trigger für mich war aber in diesem Fall, dass viele, auch sehr geschätzte Menschen und Kollegen – nicht nur Deutsche und Franzosen, sondern Italiener, Luxem­burger, Öster­rei­cher – diesem Film viel abge­winnen konnten, und ihn in Diskus­sionen vehement vertei­digten, mit philo­so­phi­schen Argu­men­ta­tionen adelten und in die Nähe großer Meister(werke) des Kinos rückten. Sie glaubten wirklich, hier eine nächste »Goldene Palme« gesehen zu haben, einen neuen Titane. Es war eine andere Form von Debatte, als dass man nur verschie­dener Ansicht war, aber im gleichen Orbit sich befindet. Hier prallten Welten aufein­ander.
Darüber will ich hier schreiben, denn die Argumente und Gespräche haben mich bis zum Festi­valende beschäf­tigt, was ja, wenn auch nichts anderes, für die Qualität von The Substance sprechen könnte.

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Dass dieser Film frau­en­feind­lich ist, finde ich gar nicht unbedingt. Jeden­falls ist es zumindest kompli­zierter. Ich finde eher, der Film ist menschen­ver­ach­tend; vor allem aber tut man dem Film schon viel zu viel Gutes an, wenn man ihn überhaupt so ernst nimmt. Denn eigent­lich ist The Substance ein riesen­großer Quatsch, der nicht sehr gut anfängt und dann immer schlechter wird.

Für Coralie Fargeat ist es der zweite Spielfilm. Produ­ziert haben ihn die Universal Studios, sie haben ihn aller­dings dann vor Cannes auch outges­ourced, so dass das Universal-Label nur noch sehr klein im Abspann auftauchte – kein Indiz für allzu großes Vertrauen im Vorfeld, sondern eine deutliche Distan­zie­rung.

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Ganz am Anfang sieht man im aller­ersten Bild ein aufge­schla­genes rohes Ei. Eine gummi­be­hand­schuhte Hand setzt eine Spritze an und spritzt eine unde­fi­nierte Substanz in das Eigelb. Es dauert ein paar Sekunden, dann kommt es zu einer rapiden Zell­tei­lung und ein zweites perfektes Eigelb ploppt aus dem ersten heraus. Danach wechselt das Bild und man sieht auf dem Walk of Fame einen Oscar-Stern mit dem Namen der Haupt­figur: Elizabeth Sparkle. Dieser Stern wird dann, während die Film­cre­dits zu sehen sind, im Schnell­durch­lauf »altern«; über die Jahre hinweg zeigt er Risse, es landet Dreck auf ihm, die Leute laufen darüber hinweg und benehmen sich zunehmend achtlos. Genau genommen ist das, was mit dem Stern passiert, genau das, was der Film mit seiner Haupt­figur macht. Er miss­achtet und beschä­digt sie.

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Demi Moore spielt diese Haupt­figur. Eine Frau, die im Fernsehen eine Aerobic- und Körper-Ertüch­ti­gungs­sen­dung macht, zunehmend aber fest­stellt, dass – Über­ra­schung! – die Jugend nicht ewig währt. Ausge­rechnet an ihrem 50. Geburtstag erfährt sie durch Zufall – Frauen sollten öfters Herren­klos besuchen –, dass sie der mächtige böse Harvey (Dennis Quaid), der Chef des Senders, abser­vieren und durch eine deutlich Jüngere ersetzen will.

So gerät Elizabeth in Versu­chung, sich die titel­ge­bende Substanz einzu­ver­leiben – mit dem Ergebnis, dass sich aus ihr eine junge Frau von großer eroti­scher Verfüh­rungs­kraft heraus­schält wie zu Beginn das zweite Eigelb aus dem ersten: Sue (Margaret Qualley).
Es geht darum, eine bessere Version von sich selbst zu entwi­ckeln: »You are the Matrix«, wird der Moore-Figur gesagt: Sie ist die Eigent­liche, die andere bleibt Hülle.

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Mit dieser Substanz hat es nun eine gewisse Bewandtnis: Beide nun parallel in abwech­selndem »Wach«-»Schlaf«-Rhythmus anwesende Körper müssen sich gegen­seitig ernähren, um im Gleich­ge­wicht gehalten zu werden. Wenn das nicht passiert, verfällt der jeweils inaktive ein klein wenig und das unna­tür­lich schnell und unre­vi­dierbar. Dieser körper­liche Zerfall betrifft aber nur den »eigent­li­chen« Körper, den »Wirts­körper«, und wird hier im Detail abge­bildet. Das Ganze hat im Kino nicht zuletzt deswegen seinen Charme, weil Demi Moore die Haupt­rolle spielt. Also – das nur ganz nebenbei – jene Demi Moore, die tatsäch­lich im Herbst 62 Jahre alt wird, hier aber eine gerade 50-jährige spielt.

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Aus einer solchen offen­sicht­li­chen und nur im Offen­sicht­li­chen liegenden Handlung kann man all die sozio­kul­tu­rellen Über­le­gungen ableiten, die man daraus ableiten möchte. Der Film legt nichts besonders nahe und weist nichts zurück, er ist einfach ungemein beliebig: Man kann erstens die durch Männer­fan­ta­sien in der Unter­hal­tungs­in­dus­trie erzeugten Stereo­typen und ihre schäd­li­chen Folgen für viele Frauen hinter­fragen. Man kann zweitens darüber nach­denken, wie das männliche Begehren das Modell einer ideal­ty­pi­schen und geradezu künst­li­chen Schönheit entwirft, der die Realität nicht stand­halten kann. Wie sich die Menschen durch solche falschen (??) Ideale gezwungen fühlen, gegen den Lauf der Zeit anzu­kämpfen. Man kann schließ­lich argu­men­tieren, dass der Film auf populäre Weise die unschöne Alters­dis­kri­mi­nie­rung anpran­gert.

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Das wäre bislang aber eine rein inhal­tis­ti­sche, unter­kom­plexe Betrach­tungs­weise. Ist dieser Film nur ein Thesen­film?
Um wirklich über den Film zu sprechen – und nicht darüber, was wir gerne in ihm sehen würden –, müssen wir über den Inhalt hinaus­gehen und über seine Formen sprechen, zeigen, wie seine Bilder aussehen, wie sein ästhe­ti­sches Design und sein narra­tiver Rahmen sind, also wie Körper gefilmt und Räume darge­stellt werden. Versuchen wir das mal...

Regis­seurin Fargeat wählt ausdrück­lich das Genre des »Body Horror«. Sie zeigt Nadeln, die Adern durch­ste­chen, Augen mit mehreren Irissen, Leiber, die sich in zwei Hälften teilen, Einge­weide, die sich auf den Boden ergießen, Glied­maßen, die sich monströs verdrehen oder monströs altern, defor­mierte und kaputte Leiber.

Dialoge gibt es kaum, und die Dialoge, die wir hören, bewegen sich auf dem intel­lek­tu­ellen Niveau des Kinder­gar­tens.

Plausible Räume gibt es auch nicht, die Figuren gehen vielmehr immer wieder völlig unplau­sible Wege. Die Aufein­an­der­folge der Bilder und Szenen ist abrupt und blitz­artig, dominiert von einer selbst­ver­liebten Montage, die um jeden Preis noch für den dümmsten Zuschauer sichtbar sein will.

Es gibt auch keine Charak­tere oder Figuren im ganzen Film, sondern nur Stereo­typen oder grob­schläch­tige Kari­ka­turen, bei denen selbst die schlech­testen Kari­ka­tu­risten vor Scham erröten müssten. Alle Männer auf der Leinwand erscheinen sowieso als hass­ge­trie­bene Grotesken.

Der ganze Film ist photo­gra­phiert wie ein Werbefilm. Alles ist zu schön, zu ausge­leuchtet, zu glatt. Zunächst entspricht das, könnte man vertei­di­gend einwenden, der mini­ma­lis­ti­schen Fabel, die dieser Film ist. Einer Fabel, in der alles kalt und chir­ur­gisch rein erscheint.
Der Film gefällt sich selbst aber auch in dieser Glätte. Er wird einem aber gerade dadurch zunehmend zuwider.
Nach etwa zwei Stunden verwan­delt sich dann die glatte Fabel in einen makabren Albtraum, in dem die schlanken Frau­en­körper zu Monstern eines Francis-Bacon-Gemäldes mutieren und die Frauen in so viel Blut gebadet werden, dass man Gedanken an das Ende von Brian De Palmas Carrie nicht vermeiden kann. Nur sind da noch all die anderen, viel zu viele, viel zu wider­sprüch­li­chen Verweise, mit denen Fargeat spielt und ihren Film aufpeppt. Ein Mittel, sich durch angeb­li­ches Augen­zwin­kern und kompli­zen­hafte Anspie­lungen für die Genre-Gemeinde inter­es­sant zu machen: Hitch­cocks Vertigo und die gespal­tene Frau gehört dazu; die falschen, perversen Träume von David Lynchs Inland Empire, und natürlich David Cronen­bergs The Fly.

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Die Haupt­schwäche von The Substance ist aber die behaup­tete Konkur­renz zwischen den beiden Frauen bzw. der Demi-Moore-Figur und ihrem jüngeren Abbild. Dabei sollen sie doch eins sein, bezie­hungs­weise die eine der Avatar der anderen. Zunehmend wird der ganze Film so immer weniger schlüssig. Spätes­tens wenn die beiden Iden­ti­täten im letzten Viertel des Films neben­ein­ander exis­tieren, ist es einfach nur noch ein großer Unsinn.

The Substance ist ein Film, der seine eigenen Regeln nicht befolgt, und der in sich total inkon­sis­tent ist. Egal, ob ich den Film nun mag oder nicht – wie gesagt gebe ich gerne sofort zu: ich mag ihn nicht –, aber wenn schon, dann macht es nur Sinn, dass man Prämissen instal­liert, wenn man sie in irgend­einer Weise dann auf den Figuren austragen will und durch diese Regeln mit ihnen etwas machen möchte.
Man kann eine künst­liche Welt bauen, aber wenn diese künst­liche Welt dann nicht nach den Regeln funk­tio­niert, die der Film zuvor eine Stunde lang erklärt hat, dann macht das alles keinen Sinn.

Es gibt viele solcher Brüche mit den eigenen selbst gesetzten Regeln in diesem Film. Der wich­tigste ist der, dass plötzlich beide Hälften der Haupt­figur gleich­zeitig am Leben sein können. Da hebt The Substance voll­kommen ab, und wird eigent­lich irre. Man kann natürlich immer sagen: das ist ein reiner Albtraum, den die Figur von Demi Moore träumt.
Dann entsteht noch ein großes Monster, das beide Frauen verschmelzen lässt – warum und wieso? Und wie kommt dieses am Ende auf die Bühne? Das letzte Viertel des Films ist nur noch eine große Farce: Plötzlich denkt man, man ist im »Crazy Horse« gelandet, und sieht – nichts dagegen – barbusige Mädchen tanzen wie einst in Showgirls und kleine Kinder dürfen nackte Brüste sehen – weil das in Amerika niemand darf, fällt auch der kritische Bezug zur US-Gegenwart weg.

Auf eine gewisse Weise möchte The Substance gory und schmutzig sein. Und dann in all seiner Ekelig­keit und in allem Body Horror plötzlich doch unglaub­lich sauber und clean und glatt, wie die Frauen in diesem Film.

Aber auch die – gott­gleiche, männliche – Stimme ohne Gesicht, die »Substance« vertritt, hämmert uns Zuschauern ein: »The border needs to be respected. So respect it.« Das gilt auch für den Film selbst.

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Die Prämisse des Films macht eigent­lich nur dann Sinn, wenn ein Mensch mit sich identisch bleibt, aber einen jungen Körper bekommt, als eine Art Avatar. Ich kann da soweit mitgehen, dass ich sage: Der neue Körper hat eine Eigen­dy­namik und der entfremdet gewis­ser­maßen auch die Seele des Menschen von seinem ursprüng­li­chen Körper.

Gleich­zeitig sagt die Stimme in dem Film auch: »You are the matrix.« Es ist also schon klar, welche Seite die echte und welche die falsche ist.

Wenn sich die falsche Seite nun davon distan­zieren und eine Eigen­dy­namik erhalten kann – bleibt die Frage, wie das überhaupt passieren kann, wenn die Matrix doch immer gleich bleibt, denn eigent­lich ist der zweite Körper nur ein Skla­ven­körper, der nur eine Hülle ist, die besser funk­tio­niert und seinem Besitzer Möglich­keiten gibt, die er nicht hat im alten Körper.
Dann wäre das inter­es­sant.
Und dann könnte man sagen, dass Demi Moore unter dieser Lüge leidet und dass sie darunter leidet, dass ihr tatsäch­li­ches Alter und ihre Erfah­rungen und ihr Wissen gewis­ser­maßen nicht passen zu diesem jungen Körper – und dass sie es zum Beispiel albern findet, mit diesen ober­fläch­li­chen Männern überhaupt Umgang zu haben, die viel zu jung sind und eigent­lich nur Sex wollen. Man könnte sich Irri­ta­tionen ausdenken, etwa dass diese jungen Männer plötzlich denken, »so redet doch keine Frau in meinem Alter«. Oder dass sie sagen »don’t talk like my mom« – das wäre alles inter­es­sant.

Aber hier passiert gar nichts, nichts Neues, sondern eigent­lich nur die schlichte platte Eitel­keits-Konkur­renz zwischen einer alternden Frau und einer sehr jungen.

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Ein Luxem­burger Kollege fragte, ob es nicht ganz post­mo­dern um Regel­bruch ginge, und darum, die philo­so­phi­sche Frage des Films auszu­tragen.
Aber was ist diese philo­so­phi­sche Frage? Sie lautet viel­leicht: Wie sehen wir uns? Wie denken wir unseren Körper in Bezug auf eine Gesell­schaft der Ober­fläch­lich­keit?

Das kann man spannend finden und spannend stellen. Aber der Film beant­wortet diese Frage doch eigent­lich nur mit etwas, das wir schon längst wissen.

Es ist ja offen­sicht­lich: wir wollen junge Körper, Körper die knackig sind. Wir wollen sie nicht nur ansehen, wir wollen auch selbst solche Körper haben. Ebefalls klar: Alle Menschen haben Probleme mit ihrem Alter und den körper­li­chen Folgen des Alters – das ist klas­senü­ber­grei­fend. Die tatsäch­liche Antwort darauf ist, dass sich die Menschen operieren lassen, oder Medi­ka­mente nehmen und Diäten prak­ti­zieren, Aerobic und Yoga im Fernsehen und diesen ganzen Schwach­sinn machen. Das ist okay, es ist alles gesetzt. Aber diese Phänomene der jugend­ori­en­tierten Selbst­op­ti­mie­rung bildet der Film einfach nur ab. Er macht nichts damit, er entwi­ckelt es nicht weiter.

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Ist The Substance jetzt der Anbruch einer neuen femi­nis­ti­schen Sprache? Einer neuen Sprache des Body Horrors?

Für Titane konnte man das vor drei Jahren sagen, wobei ich auch bei Titane glaube, dass dies ein über­schätzter Film ist. Aber in jedem Fall ist Titane ein höchst origi­neller und gut insze­nierter Film, der manchmal filmisch extrem gut war. In dieser Hinsicht müsste man Titane immer vertei­digen.
Und dass in diesem Fall Leute tatsäch­lich seiner­zeit entsetzt waren, dass so ein Film die Goldene Palme gewinnt, das fand ich eher produktiv. Es geht im Kino um genau so ein Entsetzen.

Dieses Entsetzen ist ein richtig produk­tives Entsetzen. Das hat es bei The Substance nicht gegeben. Vielmehr domi­nierte in der von mir besuchten Pres­se­vor­füh­rung des Films allge­meine Heiter­keit. Da stimmt etwas nicht.

Um ein zweiter Titane zu sein, sind die filmi­schen Mittel viel zu begrenzt, ist die wohl­ge­setzte intel­lek­tu­elle Ebene von The Substance zu ober­fläch­lich und der Body Horror zu glatt: Wenn das Publikum gluckst und lacht, anstatt sich die Hand vor Augen zu halten, ist es kein Horror­film, sondern eine Komödie.