81. Filmfestspiele von Venedig 2024
Wie Gott in Italien |
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Zwei Freundinnen auf dem Sofa: Pedro Almodóvars erster Film in englischer Sprache | ||
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Pedro Almodóvar) |
»I've been rich and I've been poor – believe me: Rich is better.«
Gloria Grahame in The Big Heat
Auch nach Mitternacht ist es noch über 25 Grad warm auf dem Lido, und man hat das Gefühl, es wird gegen Abend immer schwüler. Die Nächte sind sonderbar, ich wache häufig auf, schlafe leicht und schwer zugleich, ohne Bettdecke. Die Tage sind dauerverschwitzt: Zwei, drei Hemden pro Tag könnten es easy werden, aber auch das vierte, wenn man es hat, ist bald durchsuppt.
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Gestern verbrachte ich unglaubliche zwei Stunden, die mir vor Augen führten, wie man natürlich auch das Filmfestival verbringen kann: Ugo Busaporco, Kritiker und Festivalleiter aus Verona, ist seit Jahren ein Freund. Er leitet und organisiert hier auch die unabhängige Kritiker-Jury, die seit ungefähr zwanzig Jahren den Preis der unabhängigen internationalen Filmkritik – den Bisato d’Oro – vergibt, und der etwas arg saturierten Fipresci, der klassischen
Filmkritikerjury, der wir alle, auch die Bisato-Jury, angehören, etwas »Pfeffer gibt«, wie Jurymitglied Paula es ausdrückt.
Mit Ugo fahre ich nach dem Ende der Mittagsvorstellung gegen 14 Uhr für zehn Minuten mit dem Bus in ein Restaurant auf der abgelegenen Seite des Lido und da gibt es erstmal Mittagessen: Fisch, Muscheln, Crevetten, und dann dazu etwa einen halben Liter sehr guten, sehr leichten Rotwein. Aber eben trotzdem pro Person ein halber Liter bei über 30 Grad im
Schatten. Aber damit fängt es eigentlich erst an: Man geht nämlich danach zu »Tiziano«, einem der besten Restaurants hier auf dem Lido, direkt neben dem Wiederholungskino »PalaBiennale«. Dort gibt es ein Sandwich mit einem Stück Tomate, Olivenöl, Pancatta und Pecorino, dazu ein Glas mit Mischmasch aus Campari mit Rotwein (!!), das wird mehr oder weniger heruntergespült. Und danach dann am dritten Ort gibt es zwei Bier: Estrella Galicia sehr frisch, sehr direkt vom Fass. Innerhalb von
zwei Stunden also ein Liter plus x – die beste Voraussetzung, um die nächsten Filme zu sehen.
Man sollte übrigens bitte nicht glauben, dass dazwischen mal ein Glas Wasser zu sich genommen wird, um das Ganze zu verdünnen. Wo sind wir denn hier? Salud, amor y pesetas.
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Was ist eigentlich aus Brillante Mendoza geworden? An diesen großartigen phillippinischen Regisseur muss ich immer denken, wenn ich an Isabelle Huppert denke. 2009 war »sein« Jahr, da hatte er nach mehreren Auftritten in A-Wettbewerben, auch in Venedig – mit Serbis 2008, der vor allem durch jene Szene im Gedächtnis geblieben ist, bei der über zehn Minuten ein vereitertes Furunkel aufgestochen wird – gleich zwei Filme in einem Jahr in A-Festivals: Kinatay gewann im Mai in Cannes den Regiepreis, Lola ging in Venedig leer aus, obwohl den viele Filmfans lieber mochten. Für Huppert, die ich allemal hochsympathisch finde, und die in Cannes so wie jetzt in Venedig der Jury vorstand, war dieser Preis eine Selbstverständlichkeit. »Welcher Film hätte denn bitte sonst den Regiepreis gewinnen sollen?«, fragte sie mit leicht hochgezogener Augenbraue in die Runde – n'est-ce pas?
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Man darf also auch von dieser Jury ein klares cinephiles Statement erwarten – und das kann nach jetziger Lage der Dinge nur lauten: Goldener Löwe für The Brutalist von Brady Corbet. Dazu mehr bald an dieser Stelle und in der dritten Folge unseres Venedig-Podcasts.
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Man denkt immer wieder an den Tod in Venedig. Nicht allein, weil es die gleichnamige Novelle von Thomas Mann gibt und auch nicht nur wegen Patricia Highsmith' »Venedig kann sehr kalt sein«, oder »Wenn die Gondeln Trauer tragen« von Daphne du Maurier, und auch nicht etwa, weil die Filme hier so ungemein depressiv oder morbid wären – sondern im Gegenteil: Weil der Ort Venedig und der Lido-Strand, auf dem wir uns hier fast ausschließlich aufhalten, so wunderschön ist, weil den ganzen
Tag die Sonne scheint mit einer unbeschreiblichen Wärme, weil man viele, vor allem ältere Menschen sieht, die hier ihr Alter und ihren Lebensabend verbringen.
Denn nichts ist mit dem Tod enger verbunden als Schönheit. Das ist ein Teil der Venedig-Erfahrung, denn Tod und Untergang sind hier unmittelbar präsent.
Irgendwann einmal wird man sich vielleicht sagen: Das hier ist jetzt der schönste Tag in meinem Leben, schöner wird es nicht. Oder zumindest im Rückblick: Das war er. Was tut man dann? Will man den Abstieg miterleben?
Ich bin nicht sicher, ob es ein glücklicher Moment ist, an dem man sich sagt: so, von jetzt an geht’s bergab, oder an dem man wie die alten, eher gut lebenden Menschen hier für sich beschließt: der Zeitpunkt ist gekommen, jetzt mache ich eigentlich nichts mehr, sondern warte auf den Tod, und bis dahin lege ich mich in die Sonne, gehe zweimal am Tag baden, trinke und esse gut und verbringe die Zeit mit ein paar Menschen, mit denen ich sie gerne verbringe und die das auch mit mir
tun.
Das hat ja »ein Geschmäckle«, eine Ambivalenz. Man hat etwas aufgegeben, lebt nur noch für die eigenen Erinnerungen.
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Ein bisschen ist das Kino in diesem Zustand. Die Filme sind gut. Aber gibt es Fortschritt. Die Filme wissen alles und können fast alles, aber sie haben keine Ideen mehr, und sie scheinen oft, auch die besten von ihnen, den Bezug zum Unmittelbaren der menschlichen Erfahrung, der Facetten des Lebens verloren zu haben. Der Alltag dringt nicht mehr aus ihren Poren.
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Bei Fritz Lang war das zum Beispiel noch ganz anders. Hier lief in der Klassiker-Sektion sein The Big Heat, und den habe ich im Gegensatz leider zu Antonionis La notte, sehen können.
Entstanden 1953 in den Columbia Studios ist dies keineswegs ein perfekter Film. Im Verhältnis zu Heutigem wirkt dieser Film noir gerade in seinen Unreinheiten perfekt.
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Der amerikanische Traum ist hier eigentlich schon verabschiedet. Er ist nur noch in Individuen präsent, die die Ideale von Gerechtigkeit und Freiheit selbst in die Hand nehmen. So ist dies ein Film, der zweierlei schlechte Arten der Gerechtigkeit miteinander konfrontiert und versucht, sich für keine von beiden zu entscheiden, es aber letztendlich doch tut: Er konfrontiert die Gerechtigkeit der Selbstjustiz mit der Gerechtigkeit des Opportunismus und mit den schlechten
Kompromissen, mit denen jeder versucht, irgendwie durchzukommen.
Am Ende wird das Verbrechen nur besiegt, und das Böse nur zur Strecke gebracht, weil bestimmte Menschen und zwar Verlorene, Versehrte, wie eine verwundete Frau von zweifelhafter Moral, das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Überhaupt sind hier die Frauenfiguren die besonders interessanten, weil sie ambivalent sind, weil sie erstaunlich machtvoll sind und viele Dinge selber tun. Und weil sie die Männer fast bis auf
den Grund durchschauen.
Glenn Ford ist der perfekte Darsteller, um den einen Menschen darzustellen, der bereit ist zu kämpfen und der eine relativ aufrechte Moral hat, ohne sich idiotisch zu benehmen oder zum Kreuzritter der Moral und zum Moralisten zu werden. Einen Menschen, der auch nicht puritanisch ist, sondern raucht und trinkt, einen Menschen, der allerdings eigentlich dann erst zum entschlossenen Jäger des Bösen wird, als es gegen ihn selbst geht, als seine eigene Familie betroffen ist. Vorher
ermittelt er zwar schon, aber immer auch ein bisschen halbherzig, ein bisschen bereit zum Kompromiss; und dann, wo er beginnt, es nicht mehr zu sein, und sich in die Jagd auf das Verbrechen verbeißt, wo er im Zuge seiner Ermittlungen auch den Oberschurken ganz persönlich konfrontiert, da ist dies erstens ziemlich dumm, weil es von Anfang an aussichtslos ist. Zweitens ist es auch hochgefährlich für ihn und seine Familie, wie sich bald zeigen wird.
Er hat den Bösen an dem Punkt
getroffen, wo der persönlich betroffen wurde und das nicht akzeptieren will.
Es gibt viele sehr gut dargestellte Figuren hier, und wahrscheinlich sind die Nebenfiguren noch interessanter als die Hauptfiguren. Lee Marvins sadistischer Killer mit einem (eher behaupteten, als gesehenen) weichen Herz und seine Freundin Debbie, die jedenfalls im letzten Drittel zur zentralen Figur des Films wird. Aber auch die von Jeanette Nolan gespielte Witwe des Mannes, der gleich in der allerersten Szene Selbstmord begeht.
Dies ist auch ein Film über die Korruption
Amerikas; über das Miteinander der Behördenorganisation und des organisierten Verbrechens: Der Polizei-Commissioner sitzt bei den Gangstern am Spieltisch, der Chef der Glenn-Ford-Figur denkt nur noch an seine Rente. Der Film relativiert Letzteres ein bisschen, indem er aus diesem Chef am Schluss eine moralisch wieder etwas integerere Figur macht, einen Mann, der nicht mehr an seine Rente denkt, sondern an seinen Job. Aber diese halbe Wendung ist nicht glaubwürdig. Sie ist ganz
offensichtlich dazu da, die Zensoren der Fünfziger Jahre zu befriedigen.
Erstaunlich auch aus heutiger Sicht ist die Schilderung des Familienlebens: es wird geraucht und getrunken, der Polizist trinkt auch mal im Dienst. Vor allem wird deutlich, wie gut und pragmatisch die Ehe von Glenn Ford funktioniert, indem immer gezeigt wird, wie die Ehepartner alles miteinander teilen: nicht nur, wenn er von seiner Arbeit erzählt, sondern sie teilen die Zigarette, sie teilen das Bier,
sie teilen das Steak.
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Ein Chef an einem Schreibtisch erschießt sich, vor ihm liegt ein Brief an den Staatsanwalt. Seine Ehefrau, gerade zur Witwe geworden, öffnet den Brief, der nicht für sie bestimmt ist, und telefoniert, aber nicht mit der Polizei, sondern mit einem »Mister Lagana«, der sich schnell als Italo-Mafia-Gangsterboss entpuppt. Später erfahren wir, dass er eine Tochter hat, also auch eine Frau dazu, die wir aber nie sehen. Davor, wenn er alleine in einem seidenen Schlafanzug auf seinem Bett liegt und von einem Diener im Bademantel erst das Telefon und dann die Zigarette gereicht bekommt, spielt der Film auch mit einer untergründigen Queerness dieser Figuren. Vielleicht schlägt der Diener sein Bademantel manchmal auf, um dem Herrn in seidenen Schlafanzug noch andere Genüsse zu bringen.
Angerufen wird dann Lee Marvin, der die Schmutzarbeit für Lagana erledigt, er hat eine Freundin, die von Gloria Grahame gespielt wird, die von Anfang an auffällig ist, weil sie Witze über »den König« macht, der ihren Freund zum Sklaven und Diener degradiert.
Dann sehen wir quasi parallel zu der Lee-Marvin-Figur erstmals Glenn Ford zu Hause, ein perfektes American Housewife mit Schürze schaut dort den Ehemann glücklich an, es gibt eine niedliche Tochter und der Papa ist ein weicher zugewandter Papa, der manchmal selbst die Tochter ins Bett bringt und ihr Gute-Nacht-Geschichten vorliest und der auch hilft, den Tisch zu decken. Dann gibt es Steak mit Kartoffeln, ein Bier dazu und die Zigarette wird wenigstens zum Essen aus der Hand gelegt.
Das alles ist sehr genau und mit Liebe zum Detail gezeichnet. Diese Liebe zum Detail und die soziale Genauigkeit zusammen mit der Parallelisierung beziehungsweise Gegenüberstellung und Kontrapunktierung der verschiedenen Figuren scheint mir Fritz Langs Filme von vielen anderen zu unterscheiden.
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Der Selbstmord ist sicher, und genaugenommen wird bis zum Schluss nicht klar, warum der korrupte Polizist sich eigentlich umgebracht hat – denn er hatte doch ein Liebchen und wollte sich von seiner Frau scheiden lassen. Warum also hat er nicht so weiter gemacht? Und wenn er seine Frau einigermaßen gekannt hat, hätte er auch wissen können, dass sie nur auf seinen Tod wartet, um dann selbst mit dem Mafiaboss Geschäfte zu machen. Genau genommen wirft auch der Ablauf des
Todesabends Widersprüche auf, denn an diesem Abend konnte die Witwe noch keine »Versicherung« vor der Mafia organisieren.
Trotzdem scheint der Fall schnell klar und abgeschlossen. Bis sich die Geliebte des Ermordeten meldet und glaubwürdig ausführt, dieser sei weder todkrank gewesen, noch habe er sich töten wollen – im Gegenteil wollte er sich scheiden lassen und mit ihr ein neues Leben beginnen. Dann als sie von übereifrigen Mafia-Handlangern und -Mordbuben zu Tode
gefoltert wird, und ihre Leiche gefunden wird, beginnt die Glenn-Ford-Figur erst ernsthaft zu ermitteln und zu ahnen, dass hier irgendwelche Dinge nicht sauber sind.
Glenn Fords Chef spricht allerdings von einem »butterfly«, um den man sich nicht weiter zu kümmern brauche, man habe genug ungelöste Fälle, und wen interessiere schon der Mord an einem leichten Mädchen. Institutionen und Büroorganisationen arbeiten vor allem an ihrer Selbsterhaltung und nicht daran, ihre
tatsächliche Aufgabe zu erfüllen. Am Ende des Gesprächs, in dem der Chef zunächst behauptet, Glenn Ford ganz unverbindliche Anweisungen zu geben, kommt es dann zu folgendem Dialog: »Are you still asking?« – »This time I am ordering.«
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Der aktuelle Wettbewerbsfilm, über den wir hier jetzt schreiben müssen und möchten, stammt vom Spanier Pedro Almodóvar und heißt The Room Next Door.
Ich möchte gleich zu Anfang ganz ehrlich gestehen, dass Almodóvars Filme ganz und gar nicht »mein Kino« sind.
Es ist eine Pflichtübung für mich, in einen neuen Film von Pedro Almodóvar zu gehen.
Um so mehr habe ich mich gefreut: The Room Next Door ist ein Film von bewundernswerter Klarheit und Konsequenz, Souveränität und insgesamt ein sehr sehr guter Film.
Und doch typisch Almodóvar: Es wird viel zu viel mit Worten erzählt. Lange Zeit sieht man einfach zwei Freundinnen auf einem ziemlich bunten Sofa vor einer New-York-Kulisse sitzen und reden. Alles ist sehr schön, eigentlich zu schön arrangiert.
Der Tod und der Umgang mit dem Tod ist das Thema. Zwei Freundinnen – Julianne Moore und Tilda Swinton –, die sich aus den 70er- und 80er-Jahren kennen, treffen sich wieder. Die eine ist Schriftstellerin, gespielt von Julianne
Moore, hat gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel: »On sudden deaths«. Die von Tilda Swinton gespielte hat Krebs im Endstadium, sie hat eine Tochter, die ein bisschen spinnt, traumatisiert ist, weil sie ihren Vater nie kennenlernte.
Der Film ist ein Melodram.
Die Generationenerfahrung der 80er-, 90er- und Nullerjahre spielt eine wichtige Rolle: »I was doing the war in Irak«. Martha Gellhorn wird zitiert: »You only love one war. The others are duty.«
Daneben die schon am Ende sehr privilegierte Künstlerwelt: Ein großes Buch »La Dolce Vita« liegt demonstrativ auf dem Tisch, überhaupt werden Verweise gestreut: »Viaggio in Italia«, James Joyce' »The Dead« und dessen Verfilmung durch John Huston, »Mao II«, ein Hopper-Bild, Virginia Woolf und Laura Cunningham.
Es geht auch ein bisschen um die spezielle Krebsikonographie: »die Leute wollen, dass wir kämpfen, dass wir nicht aufgeben.« Und um das Gesundheitssystem, das heute die Euthanasie verbietet und moralisch ächtet, diese aber bald erlauben wird: »Von dem Moment an, sobald der neoliberale Rückbau dort einsetzt, und die Kosten-Nutzen-Rechnung im Zentrum steht.«
Almodóvar sehr politisch und als Filmemacher sehr souverän.