81. Filmfestspiele von Venedig 2024
Die Pixeljäger |
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Die Pläne des Architekten: The Brutalist | ||
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Brady Corbet) |
Von Janick Nolting
Wahrscheinlich sollte man sich von dem Anspruch verabschieden, Filmfestivals als Servierplatten des radikal Neuen und Außergewöhnlichen zu ersehnen. Gerade, wenn es um das Auffahren zahlloser ohnehin kanonischer Namen geht, wie es zuvorderst die Festivals in Cannes und Venedig betreiben. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Aber sie sind geeignete Plattformen, das Neue und Kommende, das man sonst vor allem an den Rändern und unscheinbareren Orten findet, aus Gegensätzen und Spannungen zwischen dem Konservieren und Aufbrechen, dem Vertrauten und den Überraschungen diskursiv entstehen zu lassen. Die kreativen Konfliktzonen, die sich dabei auftun, konnte man am ersten Wochenende der 81. Biennale Cinema exemplarisch erleben. Wohin mit dem Kino als Erfahrungsraum? Was noch anstellen mit Film als Kunstform, Auswahl, Bearbeitung und Präsentation von Bildern? Das Festival in Venedig hat in seinen populärsten Sektionen, dem Wettbewerb und den Titeln außer Konkurrenz, zwei Filme zeitnah hintereinander zur Weltpremiere gebracht, die in gewissen Punkten repräsentativ für einen spürbaren Widerstreit stehen, mit welchen Ästhetiken sich die Branche beschäftigen will und woher sie ihre Inspiration bezieht.
Der eine, Brady Corbets The Brutalist, wird international mit Lobeshymnen überschüttet und dürfte als Vorreiter in die bevorstehende Award Season einsteigen. Der andere, Harmony Korines meist irritiert besprochener Baby Invasion, scheint selbst unter eingefleischten Cineasten höchstens eine kultische Fangemeinde um sich zu scharen. Beide vollziehen entgegengesetzte Bewegungen.
The Brutalist erzählt aus dem Leben des jüdischen Architekten László Tóth (Adrien Brody). Als Holocaust-Überlebender wandert er in die USA aus und arbeitet sich an einem brutalistischen Großprojekt für einen reichen Unternehmer ab, während er mit seinem vergangenen Trauma zu kämpfen hat. Corbet hat einen herausragenden, technisch virtuosen und in seinen thematischen Schichten hochkomplexen Historienfilm gedreht, dessen Vorstellung von Kino allerdings gänzlich der Vergangenheit entspringt. Er versucht sich an Neubetrachtungen bestimmter ikonischer, klassischer Motive, indem er sich mit Rassismus, gesellschaftlicher Entfremdung, kapitalistischen Ausbeutungsprozessen, auch in der Kunst, und den Folgen des Holocausts beschäftigt. Wie er Film als Kunst und Medium denkt, Plot und Biographien zu bebildern und akustisch zu untermalen, ist jedoch durchweg klassizistisch, rückwärtsgewandt, restaurativ. Dass The Brutalist so euphorisch aufgenommen wird, liegt auch daran, dass Brady Corbet eine Lust stillt, wie es Hollywood sonst kaum noch gelingt. Es ist die Lust an einem filmischen Großepos à la Es war einmal in Amerika oder Der Pate, mit denen The Brutalist bereits wiederholt verglichen wird. Man sehnt sich danach, auch in der Gegenwart Teil von etwas sein zu können, das man als Triumph vergangener kanonischer Filmgeschichte(n) betrachtet und liebt. Das mag – ganz platt gesprochen – einer schlichten Lust an hochwertig produziertem Erzählkino entspringen. Es folgt aber auch einer Art der Kino-Nostalgie, welche gar nicht so weit von der Retro-Kultur entfernt ist, die Hollywood nun seit längerem mit seinen zahllosen Sequels, Legacyquels, Prequels und sonstigen Aufgüssen von Bekanntem befeuert. Nur eben als eine andere Seite der Medaille. The Brutalist ist eindrucksvoll, verführerisch umgesetzt, aber er ist stilistisch nicht originell, sondern reproduziert (zweifellos gekonnt) Bildwelten, die eine eng gedachte Norm und einen Mainstream dessen, was Kino angeblich zu sein hat und einmal war, bestätigt. Er fällt letztlich mit Ansage aus der Zeit. Es ist Kino, das im 20. Jahrhundert verortet ist und im 20. Jahrhundert so gedreht worden sein könnte. Das lässt den Film so besonders, aber auch so ambivalent erscheinen.
In einer digitalisierten, zerstreuten, unübersichtlichen Zeit, in der sich Narrative immer weiter verästeln, differenzieren oder auflösen, sucht man hier noch einmal das ganzheitliche, epische Werk, dessen überlanges Erzählen im Roman und im Drama wurzelt und die Konzentration zu bündeln versucht. Es fängt ein Leben, eine Karriere und einen Verlauf von Geschichte in dreieinhalb Stunden Laufzeit als weit gespannten Bogen ein. Es nutzt seine analog produzierten, grobkörnigen Bilder und seine Vorführung mit Ouvertüre und Intermission vor allem dazu, auch in der filmischen Materialität etwas Monolithisches und Auratisches zu schaffen. Es verlangt zunächst eine einzigartige Aufführung im Moment, zelebriert sich selbst als Handwerk und will hinterher, wie die Bauwerke im Film, die Zeit als Monument überdauern.
Eine Industrie, die hierfür bestimmt den ein oder anderen Oscar springen lassen wird, feiert inmitten eines überfüllten, austauschbaren Franchise-Massenmarktes die Techniken und Ästhetiken alter Glanzzeiten. Sie jagt damit einem Ideal hinterher, das seine Reize und Faszination versprüht, aber rein formal, wenn man mal ehrlich ist, wenig Gegenwärtiges, wenig Experiment, Bruch und Gegenentwurf anbietet, den auch ein traditionelles Erzählkino gut gebrauchen könnte. Ein Gegenentwurf ist das höchstens zum flüchtigen, auf Zerstreuung und Schnelligkeit ausgerichteten Konsum austauschbarer digitaler Bilderfluten. In diesen wittern allerdings andere – Auftritt: Harmony Korine – nicht nur die große Gefahr und Konkurrenz für ein Oldschool-Kino und -Filmemachen, sondern auch verblüffende Potentiale.
Man kann Korine, den Regisseur von Werken wie Spring Breakers, in Venedig zuletzt rauchend oder grotesk maskiert, in seiner Selbstinszenierung peinlich finden. Man muss seine jüngeren Arbeiten, 2023 Aggro Dr1ft, 2024 Baby Invasion, auch nicht mögen oder als das neue Kino begreifen. Das »Edgelord« von Korines neuer Produktionsfirma steht nicht umsonst in deren Namen. Baby Invasion, in der Nacht vor der Weltpremiere von The Brutalist uraufgeführt, ist jedoch ein willkommener Steinwurf gegen ein Kino, das seine Größe nur in retrospektiven Verklärungen und Gewohnheiten wiederfindet. Das Auratische, das The Brutalist im Filmmaterial sucht, ist hier das Streben nach purer Performativität und audiovisueller Attacke. Baby Invasion will sein Publikum in einen Schwindel stürzen, es seekrank machen und ihm mit grellen Reizen und sensorischen Gewaltakten jede Orientierung rauben. Kino als eine Kunst der montierten Bilder, die vor den Ästhetiken des Internets, der Gaming-Kultur und sozialen Netzwerke die Augen verschließt, kann eine Haltung zur Gegenwart immer nur als Lücke und Rest eines Systems wirksam machen. Korine jedoch taucht genau in derlei Digital-Ästhetiken und jüngeren Formen, Bilder zu produzieren und zu projizieren, ein. Er trägt sie in den Kinosaal, um sie ihm hinterher wieder zu entreißen. Konsequent: Künftig soll angeblich eine Smartphone-Fassung des Films erscheinen, die via QR-Code mit weiteren Filmen und Bildschirmen interaktiv ergänzt werden kann.
Korines Experiment erklärt sich in den ersten Minuten aus dem Hack eines unfertigen VR-Spiels. Nutzer sollen darin reiche Leute in deren Häusern überfallen können. Der vorzeitige Leak sorgt jedoch dafür, dass Menschen mit dem Spiel in Trance verschmelzen. Baby Invasion zeigt sich als knapp anderthalbstündiger Stream eines solchen Raubüberfalls aus der Ego-Perspektive. Die Täter, per KI mit Babygesichtern anonymisiert, brechen in Anwesen ein, randalieren, stehlen, bedrohen, morden mit Messern und Pistolen, während am Bildrand ein Chat durchrattert und die Aufnahmen von Störungen, zerfließenden Kreaturen, Monstren und blinkenden Videospieleffekten geflutet werden. Wo Brady Corbets analoge Bildwelten den Pixeln der digitalen Filmära den Kampf ansagen, schlachtet sie Korine effekthascherisch aus. Das kann als Kommentar zu einer Kultur der Online-Gewaltbilder und Memefizierung von Gewalt als »Funny Games« für das Twitch-Zeitalter durchgehen, ob intendiert oder nicht. Wenn hier Gestalten zwischen Leichen wandeln und dabei auf dem Smartphone zocken oder ihre Opfer quasi per Mausklick in abstrakte Strichmännchen verwandelt werden. Wenn das Morden zum Videospiel und zum Schießen auf künstliche Wesen, eben eine Ansammlung großer bunter Pixel, wird, dann liegt es nicht gänzlich fern, dem Film auch einen moralisierenden Subtext zu unterstellen.
Und hier treffen sich Korine und Corbet, wenngleich mit gänzlich unterschiedlichen Sprachen: in dem Bewusstsein, Kino auch künftig dort anzusetzen, wo der Mensch fehlbar und grausam ist und wo ihm Leid geschieht, wo Zustände geändert werden müssen, auch künstlerisch. Nur die Mittel der Konfrontation und Wahl der Bilder, ob sie sich selbst archaisieren und gespenstisch werden lassen oder in unmittelbare Umbrüche unserer Wahrnehmung und Medienrezeption, die Arten des Sehens funken will – dort gabeln sich die Wege und wartet ein weites Feld, um mit weiteren Versuchen gefüllt zu werden.