05.09.2024
81. Filmfestspiele von Venedig 2024

Die Pixeljäger

The Brutalist
Die Pläne des Architekten: The Brutalist
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Brady Corbet)

Wie sehen die Bilder der Zukunft aus? Brady Corbets »The Brutalist« und Harmony Korines »Baby Invasion« zeigen bei den 81. Filmfestspielen von Venedig zwei radikal verschiedene Visionen

Von Janick Nolting

Wahr­schein­lich sollte man sich von dem Anspruch verab­schieden, Film­fes­ti­vals als Servier­platten des radikal Neuen und Außer­ge­wöhn­li­chen zu ersehnen. Gerade, wenn es um das Auffahren zahlloser ohnehin kano­ni­scher Namen geht, wie es zuvor­derst die Festivals in Cannes und Venedig betreiben. Ausnahmen bestä­tigen natürlich die Regel. Aber sie sind geeignete Platt­formen, das Neue und Kommende, das man sonst vor allem an den Rändern und unschein­ba­reren Orten findet, aus Gegen­sätzen und Span­nungen zwischen dem Konser­vieren und Aufbre­chen, dem Vertrauten und den Über­ra­schungen diskursiv entstehen zu lassen. Die kreativen Konflikt­zonen, die sich dabei auftun, konnte man am ersten Wochen­ende der 81. Biennale Cinema exem­pla­risch erleben. Wohin mit dem Kino als Erfah­rungs­raum? Was noch anstellen mit Film als Kunstform, Auswahl, Bear­bei­tung und Präsen­ta­tion von Bildern? Das Festival in Venedig hat in seinen populärsten Sektionen, dem Wett­be­werb und den Titeln außer Konkur­renz, zwei Filme zeitnah hinter­ein­ander zur Welt­pre­miere gebracht, die in gewissen Punkten reprä­sen­tativ für einen spürbaren Wider­streit stehen, mit welchen Ästhe­tiken sich die Branche beschäf­tigen will und woher sie ihre Inspi­ra­tion bezieht.

Der eine, Brady Corbets The Brutalist, wird inter­na­tional mit Lobes­hymnen über­schüttet und dürfte als Vorreiter in die bevor­ste­hende Award Season einsteigen. Der andere, Harmony Korines meist irritiert bespro­chener Baby Invasion, scheint selbst unter einge­fleischten Cineasten höchstens eine kultische Fange­meinde um sich zu scharen. Beide voll­ziehen entge­gen­ge­setzte Bewe­gungen.

The Brutalist: Brady Corbets Versuch eines künftigen Klas­si­kers

The Brutalist erzählt aus dem Leben des jüdischen Archi­tekten László Tóth (Adrien Brody). Als Holocaust-Über­le­bender wandert er in die USA aus und arbeitet sich an einem bruta­lis­ti­schen Groß­pro­jekt für einen reichen Unter­nehmer ab, während er mit seinem vergan­genen Trauma zu kämpfen hat. Corbet hat einen heraus­ra­genden, technisch virtuosen und in seinen thema­ti­schen Schichten hoch­kom­plexen Histo­ri­en­film gedreht, dessen Vorstel­lung von Kino aller­dings gänzlich der Vergan­gen­heit entspringt. Er versucht sich an Neube­trach­tungen bestimmter ikoni­scher, klas­si­scher Motive, indem er sich mit Rassismus, gesell­schaft­li­cher Entfrem­dung, kapi­ta­lis­ti­schen Ausbeu­tungs­pro­zessen, auch in der Kunst, und den Folgen des Holo­causts beschäf­tigt. Wie er Film als Kunst und Medium denkt, Plot und Biogra­phien zu bebildern und akustisch zu unter­malen, ist jedoch durchweg klas­si­zis­tisch, rück­wärts­ge­wandt, restau­rativ. Dass The Brutalist so eupho­risch aufge­nommen wird, liegt auch daran, dass Brady Corbet eine Lust stillt, wie es Hollywood sonst kaum noch gelingt. Es ist die Lust an einem filmi­schen Großepos à la Es war einmal in Amerika oder Der Pate, mit denen The Brutalist bereits wieder­holt vergli­chen wird. Man sehnt sich danach, auch in der Gegenwart Teil von etwas sein zu können, das man als Triumph vergan­gener kano­ni­scher Film­ge­schichte(n) betrachtet und liebt. Das mag – ganz platt gespro­chen – einer schlichten Lust an hoch­wertig produ­ziertem Erzähl­kino entspringen. Es folgt aber auch einer Art der Kino-Nostalgie, welche gar nicht so weit von der Retro-Kultur entfernt ist, die Hollywood nun seit längerem mit seinen zahllosen Sequels, Lega­cy­quels, Prequels und sonstigen Aufgüssen von Bekanntem befeuert. Nur eben als eine andere Seite der Medaille. The Brutalist ist eindrucks­voll, verfüh­re­risch umgesetzt, aber er ist stilis­tisch nicht originell, sondern repro­du­ziert (zwei­fellos gekonnt) Bild­welten, die eine eng gedachte Norm und einen Main­stream dessen, was Kino angeblich zu sein hat und einmal war, bestätigt. Er fällt letztlich mit Ansage aus der Zeit. Es ist Kino, das im 20. Jahr­hun­dert verortet ist und im 20. Jahr­hun­dert so gedreht worden sein könnte. Das lässt den Film so besonders, aber auch so ambi­va­lent erscheinen.

Der Umgang mit der Zerstreuung

In einer digi­ta­li­sierten, zerstreuten, unüber­sicht­li­chen Zeit, in der sich Narrative immer weiter verästeln, diffe­ren­zieren oder auflösen, sucht man hier noch einmal das ganz­heit­liche, epische Werk, dessen über­langes Erzählen im Roman und im Drama wurzelt und die Konzen­tra­tion zu bündeln versucht. Es fängt ein Leben, eine Karriere und einen Verlauf von Geschichte in drei­ein­halb Stunden Laufzeit als weit gespannten Bogen ein. Es nutzt seine analog produ­zierten, grob­kör­nigen Bilder und seine Vorfüh­rung mit Ouvertüre und Inter­mis­sion vor allem dazu, auch in der filmi­schen Mate­ria­lität etwas Mono­li­thi­sches und Aura­ti­sches zu schaffen. Es verlangt zunächst eine einzig­ar­tige Auffüh­rung im Moment, zele­briert sich selbst als Handwerk und will hinterher, wie die Bauwerke im Film, die Zeit als Monument über­dauern.

Eine Industrie, die hierfür bestimmt den ein oder anderen Oscar springen lassen wird, feiert inmitten eines über­füllten, austausch­baren Franchise-Massen­marktes die Techniken und Ästhe­tiken alter Glanz­zeiten. Sie jagt damit einem Ideal hinterher, das seine Reize und Faszi­na­tion versprüht, aber rein formal, wenn man mal ehrlich ist, wenig Gegen­wär­tiges, wenig Expe­ri­ment, Bruch und Gegen­ent­wurf anbietet, den auch ein tradi­tio­nelles Erzähl­kino gut gebrau­chen könnte. Ein Gegen­ent­wurf ist das höchstens zum flüch­tigen, auf Zerstreuung und Schnel­lig­keit ausge­rich­teten Konsum austausch­barer digitaler Bilder­fluten. In diesen wittern aller­dings andere – Auftritt: Harmony Korine – nicht nur die große Gefahr und Konkur­renz für ein Oldschool-Kino und -Filme­ma­chen, sondern auch verblüf­fende Poten­tiale.

Baby Invasion: Ein Ego-Shooter-Stream

Baby Invasion
(Foto: Film­fest­spiele Venedig | Harmony Korine)

Man kann Korine, den Regisseur von Werken wie Spring Breakers, in Venedig zuletzt rauchend oder grotesk maskiert, in seiner Selbst­in­sze­nie­rung peinlich finden. Man muss seine jüngeren Arbeiten, 2023 Aggro Dr1ft, 2024 Baby Invasion, auch nicht mögen oder als das neue Kino begreifen. Das »Edgelord« von Korines neuer Produk­ti­ons­firma steht nicht umsonst in deren Namen. Baby Invasion, in der Nacht vor der Welt­pre­miere von The Brutalist urauf­ge­führt, ist jedoch ein will­kom­mener Steinwurf gegen ein Kino, das seine Größe nur in retro­spek­tiven Verklärungen und Gewohn­heiten wieder­findet. Das Aura­ti­sche, das The Brutalist im Film­ma­te­rial sucht, ist hier das Streben nach purer Perfor­ma­ti­vität und audio­vi­su­eller Attacke. Baby Invasion will sein Publikum in einen Schwindel stürzen, es seekrank machen und ihm mit grellen Reizen und senso­ri­schen Gewalt­akten jede Orien­tie­rung rauben. Kino als eine Kunst der montierten Bilder, die vor den Ästhe­tiken des Internets, der Gaming-Kultur und sozialen Netzwerke die Augen verschließt, kann eine Haltung zur Gegenwart immer nur als Lücke und Rest eines Systems wirksam machen. Korine jedoch taucht genau in derlei Digital-Ästhe­tiken und jüngeren Formen, Bilder zu produ­zieren und zu proji­zieren, ein. Er trägt sie in den Kinosaal, um sie ihm hinterher wieder zu entreißen. Konse­quent: Künftig soll angeblich eine Smart­phone-Fassung des Films erscheinen, die via QR-Code mit weiteren Filmen und Bild­schirmen inter­aktiv ergänzt werden kann.

Korines Expe­ri­ment erklärt sich in den ersten Minuten aus dem Hack eines unfer­tigen VR-Spiels. Nutzer sollen darin reiche Leute in deren Häusern über­fallen können. Der vorzei­tige Leak sorgt jedoch dafür, dass Menschen mit dem Spiel in Trance verschmelzen. Baby Invasion zeigt sich als knapp andert­halb­stün­diger Stream eines solchen Raubü­ber­falls aus der Ego-Perspek­tive. Die Täter, per KI mit Baby­ge­sich­tern anony­mi­siert, brechen in Anwesen ein, randa­lieren, stehlen, bedrohen, morden mit Messern und Pistolen, während am Bildrand ein Chat durch­rat­tert und die Aufnahmen von Störungen, zerfließenden Kreaturen, Monstren und blin­kenden Video­spiel­ef­fekten geflutet werden. Wo Brady Corbets analoge Bild­welten den Pixeln der digitalen Filmära den Kampf ansagen, schlachtet sie Korine effekt­ha­sche­risch aus. Das kann als Kommentar zu einer Kultur der Online-Gewalt­bilder und Meme­fi­zie­rung von Gewalt als »Funny Games« für das Twitch-Zeitalter durch­gehen, ob inten­diert oder nicht. Wenn hier Gestalten zwischen Leichen wandeln und dabei auf dem Smart­phone zocken oder ihre Opfer quasi per Mausklick in abstrakte Strich­männ­chen verwan­delt werden. Wenn das Morden zum Video­spiel und zum Schießen auf künst­liche Wesen, eben eine Ansamm­lung großer bunter Pixel, wird, dann liegt es nicht gänzlich fern, dem Film auch einen mora­li­sie­renden Subtext zu unter­stellen.

Und hier treffen sich Korine und Corbet, wenn­gleich mit gänzlich unter­schied­li­chen Sprachen: in dem Bewusst­sein, Kino auch künftig dort anzu­setzen, wo der Mensch fehlbar und grausam ist und wo ihm Leid geschieht, wo Zustände geändert werden müssen, auch künst­le­risch. Nur die Mittel der Konfron­ta­tion und Wahl der Bilder, ob sie sich selbst archai­sieren und gespens­tisch werden lassen oder in unmit­tel­bare Umbrüche unserer Wahr­neh­mung und Medi­en­re­zep­tion, die Arten des Sehens funken will – dort gabeln sich die Wege und wartet ein weites Feld, um mit weiteren Versuchen gefüllt zu werden.