81. Filmfestspiele von Venedig 2024
Unter der Haut |
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Lust pur: Nicole Kidman in Babygirl | ||
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Halina Reijn) |
Von Janick Nolting
Alberto Barbera, der Direktor der Filmfestspiele von Venedig, hatte schon im Vorfeld in Interviews über eine Rückkehr der Erotik und Sexualität in den Filmen gesprochen. Tatsächlich präsentierte das Festival in seiner 81. Ausgabe mehrere Titel, die sich auf teils sehr offenherzige Weise mit dem auseinandersetzen, was gerade in der Filmbranche immer mehr einer bloßen Plot-Ökonomie untergeordnet oder gänzlich unter den Tisch gekehrt wird. Da ist Halina Reijns Babygirl als ein Beispiel unter mehreren zu nennen. Man könnte diese Tragikomödie als Gegenentwurf zu dem Riesenerfolg Fifty Shades of Grey bezeichnen, dessen Hype zwar zahlreiche literarische Trittbrettfahrer sadomasochistischer Romanzen nach sich zog, in der Filmwelt aber eigentlich für keinen vergleichbaren Durchbruch des Themas sorgte.
Auch Reijns Film, stark besetzt mit Nicole Kidman und Harris Dickinson, erzählt zunächst von einem Flirt mit dem Sadomasochismus in einer Welt der Reichen und Schönen. Hier allerdings nicht, wie bei Fifty Shades, als Märchen der Unterwerfung, um einen Aufstieg in den Luxus zu schaffen, der dann in ein spießiges und gar nicht so verruchtes Familienidyll eingehegt wird. Stattdessen als Reihe von Versuchen, die Scham vor den eigenen Gelüsten zu überwinden und ein Verständnis füreinander im Ausleben derselben zu finden. Reijn zeigt das als permanentes Verschieben von Machtverhältnissen zwischen einer Firmenchefin und einem Praktikanten. Sie zeichnet kein rosiges, aber dennoch schwarzhumoriges Bild vom Versuch eines Sexuallebens, das immer wieder mit den Zwängen eines auf wirtschaftlichen und beruflichen Hierarchien gebauten Alltags kollidiert. Babygirl ist ein Film, der zwischen ekstatischen Gesichtern, notgeilen Blicken und der Unbeholfenheit schwankt, diese kommunikative Herausforderung namens Sex zu meistern.
Daneben ist Alfonso Cuaróns Apple-TV-Serie »Disclaimer« zu nennen, die ebenfalls in Venedig Premiere feierte. Sie ist weniger facettenreich und offen erzählt als der Film von Halina Reijn, findet aber einen weiteren Zugriff auf den Umgang mit Sexualität und Sexszenen im Film, die der Siebenteiler vor allem als betont fiktive Projektionen und Fantasien auffährt. Was Cuarón softpornografisch und bewusst schwülstig, fast lächerlich inszeniert, gelangt zu einer Unzuverlässigkeit und Metafiktion im Erzählen, die Eigen- und Fremdwahrnehmung, die Bilder, die man von sich und von anderen entwirft, auseinanderfallen lässt. Er verortet die Szenen in einer unsicheren Subjektivität und in der Kunst selbst, reißt diese als bloße Vorstellung später wieder ein und bringt das Thema der Serie rund um den Verlust aller Gewissheiten und einer Rache über die Fiktion damit auf den Punkt. Und die Serie trifft sich, wie dort Menschen munter ihre Vorlieben, Gelüste und Hassgedanken auf andere projizieren, mit dem grandiosen neuen Film von Luca Guadagnino. Queer heißt er, basierend auf dem gleichnamigen Roman des Skandalschriftstellers William S. Burroughs, der Anfang der 1950er verfasst wurde, aber erst Dekaden später erschien. Neben »Disclaimer« also eine weitere Romanadaption im Programm. In Guadagninos Schaffen ist dies das nächste Versatzstück im Versuch, Erotik und Ekstasen sowie menschliches Begehren im Allgemeinen von allen Seiten zu beleuchten.
In Werken wie Call Me by Your Name, Challengers oder Bones and All hat Guadagnino die Erotik als ewigen Kampf gezeigt, zueinander durchzudringen, einander zu besitzen. Figuren verzehren sich nach anderen, in Bones and All ganz wörtlich, und scheitern doch an den Umständen, in denen sie leben. Queer spielt im Jahr 1950. Lee (Daniel Craig) hat sich aus den USA nach Mexiko zurückgezogen. Er ist drogensüchtig, frustriert, versucht, seine Homosexualität zu überspielen und kokettiert doch permanent mit ihr. Er gabelt regelmäßig junge Männer in Bars und Kneipen auf, um mit ihnen die Nächte zu verbringen, doch »queer« will er nicht sein. Das gesellschaftliche Tabu ist zu sehr verinnerlicht, was Craig in einem brillant wandelbaren, mal angeschlagenen, körperlich zitternden, gekrümmten, mal selbstsicher flirtenden oder unbeholfen tänzelnden, zaudernden Schauspiel zum Ausdruck bringt.
Sein Gegenüber, der junge Student Eugene Allerton (Drew Starkey), wird das Objekt seiner Begierde. Dabei weiß er nichts über den jungen Mann, auch nicht dessen sexuelle Orientierung. Es genügt allein der Anblick, die Unnahbarkeit, die er verströmt. Der Sex, den die beiden haben, ist roh, stürmisch, leidenschaftlich, aber auch brutal. Er stellt die Frage des Einvernehmens und nach einer Grenze zum Missbrauch mehrfach in den Raum. Ist der Höhepunkt erreicht, auch das kennt man aus Guadagninos Filmen, setzt die Frustration ein. Es reicht nicht, Sehnsüchte bleiben unerfüllt. Lee träumt von der Telepathie, um andere besser zu durchdringen. In der zweiten Filmhälfte begibt er sich deshalb auf einen von waghalsigen, teils klamaukigen Tonwechseln durchzogenen Trip in den Urwald und seine eigene Reise ins Herz der Finsternis, um mit Ayahuasca seine Sinne zu erweitern.
Es sind einmal mehr großartige, ergreifende Szenen, die Guadagnino hier inszeniert. Die surrealen Drogentrips gipfeln in Queer in einem Bild, das das Motiv des erotischen Verlangens mit seltener Klarheit und ästhethischer Brillanz in das langsame Zerfließen und Verschmelzen zweier Körper, das Wühlen, Streicheln und Graben unter der Haut des anderen überführt. Es bildet die Zäsur einer Stimmungsaufnahme und psychologischen Auseinandersetzung, die hier weniger einem klaren Plot denn einem Schwelgen in Miniaturen, Exzessen und einzelnen Kontakten folgt. Mit einer erzählerischen Ökonomie oder einem Vorwurf der Ziellosigkeit kann man Queer nicht begegnen. Deshalb bleibt umso mehr zu hoffen, dass von diesem Drama irgendwann vielleicht doch noch eine längere Version erscheint. Schon vor der Weltpremiere kursierte die Nachricht von mehreren Schnittfassungen. Von ursprünglich um die drei Stunden Film kamen in Venedig am Ende »nur« 135 Minuten zur Vorführung. Eine längere Fassung dürfte helfen, die Figuren in ihren Lebensumständen noch besser zu begreifen, noch stärker in die Stimmungen, deren Wechselhaftigkeit und die exzentrischen, eigenartigen Seiten dieses ästhetischen Weltentwurfs einzutauchen.
Das Überhöhte und Künstliche durchzieht hier jeden Raum und jede Einstellung, nicht nur in den surrealen bis alptraumhaften Einsprengseln mit Tiersymboliken, fehlenden Gliedmaßen und verzerrten Dimensionen. Es ist neben Suspiria wahrscheinlich Guadagninos wagemutigster Film. Allein in der Art und Weise, wie er mit seinen offensichtlichen Studiokulissen mit animierten Hintergründen spielt und darin eine herkömmliche, linear gestrickte narrative Logik auflöst. Die Kunstfertigkeit besteht darin, dass er einerseits eine starke Nähe und Atmosphäre, eine visuelle Taktilität, Schmutzig- und Fiebrigkeit generiert – man glaubt, den Kneipendunst mancher Szenen riechen zu können – und zugleich eine permanente Verfremdung in den Bildern schafft.
Um Zeitkolorit oder historische Authentizität geht es dabei nicht. Mehr um ein loses Jonglieren mit den getriebenen, teils psychotischen Bildwelten von William Burroughs und dessen Künstlerpersona, das selbst das Erschießen von Burroughs’ Frau im Jahr 1951 mit einschließt. Guadagnino und der Drehbuchautor Justin Kuritzkes legen diesen realen Todesfall wiederholt über Lees Geschichte, die ihre Liebe und Zuneigung, ihr Verlangen nach diesem anderen Mann kaum noch von der Zerstörung desselben trennen kann. Physische und psychische Auflösung, Überschreitung und tiefer Schmerz im gegenseitigen Verletzen und Verlassen finden einmal mehr in einem Guadagnino-Film auf untröstliche Weise zusammen. Es gipfelt in Queer in der universellen Furcht vor der Vereinsamung in einem bitteren, selbstbespiegelnden Epilog, der zu den Höhepunkten der diesjährigen Filmbiennale von Venedig zählt.