09.09.2024
81. Filmfestspiele von Venedig 2024

Unter der Haut

Babygirl
Lust pur: Nicole Kidman in Babygirl
(Foto: Filmfestspiele Venedig · Halina Reijn)

Schlaglichter der Erotik: »Queer«, »Babygirl« und weitere Filme haben auf der Biennale in Venedig die menschliche Triebhaftigkeit unter die Lupe genommen

Von Janick Nolting

Alberto Barbera, der Direktor der Film­fest­spiele von Venedig, hatte schon im Vorfeld in Inter­views über eine Rückkehr der Erotik und Sexua­lität in den Filmen gespro­chen. Tatsäch­lich präsen­tierte das Festival in seiner 81. Ausgabe mehrere Titel, die sich auf teils sehr offen­her­zige Weise mit dem ausein­an­der­setzen, was gerade in der Film­branche immer mehr einer bloßen Plot-Ökonomie unter­ge­ordnet oder gänzlich unter den Tisch gekehrt wird. Da ist Halina Reijns Babygirl als ein Beispiel unter mehreren zu nennen. Man könnte diese Tragi­komödie als Gegen­ent­wurf zu dem Riesen­er­folg Fifty Shades of Grey bezeichnen, dessen Hype zwar zahl­reiche lite­ra­ri­sche Tritt­brett­fahrer sado­ma­so­chis­ti­scher Romanzen nach sich zog, in der Filmwelt aber eigent­lich für keinen vergleich­baren Durch­bruch des Themas sorgte.

Auch Reijns Film, stark besetzt mit Nicole Kidman und Harris Dickinson, erzählt zunächst von einem Flirt mit dem Sado­ma­so­chismus in einer Welt der Reichen und Schönen. Hier aller­dings nicht, wie bei Fifty Shades, als Märchen der Unter­wer­fung, um einen Aufstieg in den Luxus zu schaffen, der dann in ein spießiges und gar nicht so verruchtes Fami­li­en­idyll eingehegt wird. Statt­dessen als Reihe von Versuchen, die Scham vor den eigenen Gelüsten zu über­winden und ein Vers­tändnis fürein­ander im Ausleben derselben zu finden. Reijn zeigt das als perma­nentes Verschieben von Macht­ver­hält­nissen zwischen einer Firmen­chefin und einem Prak­ti­kanten. Sie zeichnet kein rosiges, aber dennoch schwarz­hu­mo­riges Bild vom Versuch eines Sexu­al­le­bens, das immer wieder mit den Zwängen eines auf wirt­schaft­li­chen und beruf­li­chen Hier­ar­chien gebauten Alltags kolli­diert. Babygirl ist ein Film, der zwischen eksta­ti­schen Gesich­tern, notgeilen Blicken und der Unbe­hol­fen­heit schwankt, diese kommu­ni­ka­tive Heraus­for­de­rung namens Sex zu meistern.

Fremde und eigene Bilder

Daneben ist Alfonso Cuaróns Apple-TV-Serie »Disclaimer« zu nennen, die ebenfalls in Venedig Premiere feierte. Sie ist weniger facet­ten­reich und offen erzählt als der Film von Halina Reijn, findet aber einen weiteren Zugriff auf den Umgang mit Sexua­lität und Sexszenen im Film, die der Sieben­teiler vor allem als betont fiktive Projek­tionen und Fantasien auffährt. Was Cuarón soft­por­no­gra­fisch und bewusst schwülstig, fast lächer­lich insze­niert, gelangt zu einer Unzu­ver­läs­sig­keit und Meta­fik­tion im Erzählen, die Eigen- und Fremd­wahr­neh­mung, die Bilder, die man von sich und von anderen entwirft, ausein­an­der­fallen lässt. Er verortet die Szenen in einer unsi­cheren Subjek­ti­vität und in der Kunst selbst, reißt diese als bloße Vorstel­lung später wieder ein und bringt das Thema der Serie rund um den Verlust aller Gewiss­heiten und einer Rache über die Fiktion damit auf den Punkt. Und die Serie trifft sich, wie dort Menschen munter ihre Vorlieben, Gelüste und Hass­ge­danken auf andere proji­zieren, mit dem gran­diosen neuen Film von Luca Guad­a­gnino. Queer heißt er, basierend auf dem gleich­na­migen Roman des Skan­dal­schrift­stel­lers William S. Burroughs, der Anfang der 1950er verfasst wurde, aber erst Dekaden später erschien. Neben »Disclaimer« also eine weitere Roman­ad­ap­tion im Programm. In Guad­a­gninos Schaffen ist dies das nächste Versatz­stück im Versuch, Erotik und Ekstasen sowie mensch­li­ches Begehren im Allge­meinen von allen Seiten zu beleuchten.

Daniel Craig als sehn­süch­tiger Junkie

In Werken wie Call Me by Your Name, Chal­len­gers oder Bones and All hat Guad­a­gnino die Erotik als ewigen Kampf gezeigt, zuein­ander durch­zu­dringen, einander zu besitzen. Figuren verzehren sich nach anderen, in Bones and All ganz wörtlich, und scheitern doch an den Umständen, in denen sie leben. Queer spielt im Jahr 1950. Lee (Daniel Craig) hat sich aus den USA nach Mexiko zurück­ge­zogen. Er ist drogen­süchtig, frus­triert, versucht, seine Homo­se­xua­lität zu über­spielen und koket­tiert doch permanent mit ihr. Er gabelt regel­mäßig junge Männer in Bars und Kneipen auf, um mit ihnen die Nächte zu verbringen, doch »queer« will er nicht sein. Das gesell­schaft­liche Tabu ist zu sehr verin­ner­licht, was Craig in einem brillant wandel­baren, mal ange­schla­genen, körper­lich zitternden, gekrümmten, mal selbst­si­cher flir­tenden oder unbe­holfen tänzelnden, zaudernden Schau­spiel zum Ausdruck bringt.

Sein Gegenüber, der junge Student Eugene Allerton (Drew Starkey), wird das Objekt seiner Begierde. Dabei weiß er nichts über den jungen Mann, auch nicht dessen sexuelle Orien­tie­rung. Es genügt allein der Anblick, die Unnah­bar­keit, die er verströmt. Der Sex, den die beiden haben, ist roh, stürmisch, leiden­schaft­lich, aber auch brutal. Er stellt die Frage des Einver­neh­mens und nach einer Grenze zum Miss­brauch mehrfach in den Raum. Ist der Höhepunkt erreicht, auch das kennt man aus Guad­a­gninos Filmen, setzt die Frus­tra­tion ein. Es reicht nicht, Sehn­süchte bleiben unerfüllt. Lee träumt von der Tele­pa­thie, um andere besser zu durch­dringen. In der zweiten Film­hälfte begibt er sich deshalb auf einen von waghal­sigen, teils klamau­kigen Tonwech­seln durch­zo­genen Trip in den Urwald und seine eigene Reise ins Herz der Fins­ternis, um mit Ayahuasca seine Sinne zu erweitern.

Es sind einmal mehr groß­ar­tige, ergrei­fende Szenen, die Guad­a­gnino hier insze­niert. Die surrealen Drogen­trips gipfeln in Queer in einem Bild, das das Motiv des eroti­schen Verlan­gens mit seltener Klarheit und ästhe­thi­scher Brillanz in das langsame Zerfließen und Verschmelzen zweier Körper, das Wühlen, Strei­cheln und Graben unter der Haut des anderen überführt. Es bildet die Zäsur einer Stim­mungs­auf­nahme und psycho­lo­gi­schen Ausein­an­der­set­zung, die hier weniger einem klaren Plot denn einem Schwelgen in Minia­turen, Exzessen und einzelnen Kontakten folgt. Mit einer erzäh­le­ri­schen Ökonomie oder einem Vorwurf der Ziel­lo­sig­keit kann man Queer nicht begegnen. Deshalb bleibt umso mehr zu hoffen, dass von diesem Drama irgend­wann viel­leicht doch noch eine längere Version erscheint. Schon vor der Welt­pre­miere kursierte die Nachricht von mehreren Schnitt­fas­sungen. Von ursprüng­lich um die drei Stunden Film kamen in Venedig am Ende »nur« 135 Minuten zur Vorfüh­rung. Eine längere Fassung dürfte helfen, die Figuren in ihren Lebens­um­ständen noch besser zu begreifen, noch stärker in die Stim­mungen, deren Wech­sel­haf­tig­keit und die exzen­tri­schen, eigen­ar­tigen Seiten dieses ästhe­ti­schen Welt­ent­wurfs einzu­tau­chen.

Eine Hommage an William S. Burroughs

Das Überhöhte und Künst­liche durch­zieht hier jeden Raum und jede Einstel­lung, nicht nur in den surrealen bis alptraum­haften Einspreng­seln mit Tier­sym­bo­liken, fehlenden Glied­maßen und verzerrten Dimen­sionen. Es ist neben Suspiria wahr­schein­lich Guad­a­gninos wage­mu­tigster Film. Allein in der Art und Weise, wie er mit seinen offen­sicht­li­chen Studio­ku­lissen mit animierten Hinter­gründen spielt und darin eine herkömm­liche, linear gestrickte narrative Logik auflöst. Die Kunst­fer­tig­keit besteht darin, dass er einer­seits eine starke Nähe und Atmo­sphäre, eine visuelle Takti­lität, Schmutzig- und Fieb­rig­keit generiert – man glaubt, den Knei­pen­dunst mancher Szenen riechen zu können – und zugleich eine perma­nente Verfrem­dung in den Bildern schafft.

Um Zeit­ko­lorit oder histo­ri­sche Authen­ti­zität geht es dabei nicht. Mehr um ein loses Jonglieren mit den getrie­benen, teils psycho­ti­schen Bild­welten von William Burroughs und dessen Künst­ler­per­sona, das selbst das Erschießen von Burroughs’ Frau im Jahr 1951 mit einschließt. Guad­a­gnino und der Dreh­buch­autor Justin Kuritzkes legen diesen realen Todesfall wieder­holt über Lees Geschichte, die ihre Liebe und Zuneigung, ihr Verlangen nach diesem anderen Mann kaum noch von der Zers­törung desselben trennen kann. Physische und psychi­sche Auflösung, Über­schrei­tung und tiefer Schmerz im gegen­sei­tigen Verletzen und Verlassen finden einmal mehr in einem Guad­a­gnino-Film auf untröst­liche Weise zusammen. Es gipfelt in Queer in der univer­sellen Furcht vor der Verein­sa­mung in einem bitteren, selbst­be­spie­gelnden Epilog, der zu den Höhe­punkten der dies­jäh­rigen Film­bi­en­nale von Venedig zählt.