19.09.2024

Klingende Räume

Reas
Reas: Aufbrechen der Räume durch Illusion
(Foto: Gema Films)

Das 10. Leipziger Gegenkino-Festival zeigte einen beachtlichen Mix aus Pornos, Ortserkundungen, Exploitation-Raritäten und aktuellen Arthouse-Hits

Von Janick Nolting

Da leuchtet ein Schild im Dunkeln, das zum Ablegen der Kleidung animiert. Und der Prot­ago­nist lässt sich nicht lange lumpen, um dem elek­tri­schen Befehl nach­zu­geben, ehe er sich tiefer hinein in diesen Unort, dieses dunkle Nichts begibt, in der nur die innersten Triebe und Gelüste lauern. Wakefield Poole, zunächst erfolg­rei­cher Tänzer und Choreo­graph in den 1950ern und 60ern, ehe er sich im Erotik­kino auspro­bierte, hat seinen Film an eine Ritu­al­struktur angelehnt. In Bijou aus dem Jahr 1972 wird erst Schritt für Schritt eine Abkopp­lung vom gewohnten Alltag vollzogen, alles wird abgelegt, wort­wört­lich. Dann geht es in einen zwischen­welt­li­chen, losgelösten Bereich, wo sich Iden­ti­täten neu formieren, Körper orgi­as­ti­sche Knäuel formen, sich pene­trieren, liebkosen, entäußern, ejaku­lieren, ehe es wieder, wenn­gleich verwan­delt, in den Alltag zurück­geht. Nackte – Dunkel­heit – ein paar wenige, klug posi­tio­nierte Lichter: Höchst redu­ziertes und höchst kunstvoll insze­niertes Kino ist das, wie dort ein Körper verloren durch die Schwärze, vorbei an schier außer­ir­di­schen Forma­tionen wandelt, nur um dann mit anderen Körpern zu kolli­dieren, sich mit ihnen zu vereinen, von Nebel eingehüllt und wieder in die 'echte' Welt gespuckt zu werden.

Das Leipziger Gegenkino-Festival hat dieser beson­deren Film­erfah­rung die ganz große Bühne bereitet: der Auftakt zum zweiten Wochen­ende des Festivals, vorge­führt im UT Connewitz, einem der ältesten deutschen Kinos, live vertont von der Post-Punk-Band Pisse. Die Band hat einen eher konser­va­tiven, anschmieg­samen Sound für den Film kompo­niert, der hin und wieder versucht, einige Geräusche des Films zu imitieren, sei es ein Autohupen oder das Klopfen auf einer Baustelle, der vor allem aber den mal bedroh­li­chen, unheim­li­chen und jederzeit eksta­ti­schen sexuellen filmi­schen Raum in einen pochenden und pulsie­renden Klang­körper verwan­delt. Wenig, das man herkömm­li­cher­weise mit Punk verbinden würde, bisweilen Oldschool in seiner Anlehnung an konven­tio­nelle treibende Pornofilm-Scores, aber so verein­nah­mend, atmo­sphärisch und passend, wie es dieser verfüh­re­ri­sche Film verlangt. Bijou demons­triert mit seinen geteilten Bildern und Über­blen­dungen ein Formen­spiel, das in seiner Kunst­fer­tig­keit und Gestal­tungs­freude in der verru­fenen Sparte des Porno­gra­phi­schen seines­glei­chen sucht.

Überhaupt der Porno; er war wieder­holt und zentral vertreten in dieser elftä­gigen Jubiläums­aus­gabe des Leipziger Film­fes­ti­vals, das sich tradi­tio­nell dem absei­tigen, expe­ri­men­tier­freu­digen, trans­gres­siven und kontro­versen Kino aus histo­ri­scher und gegen­wär­tiger Perspek­tive widmet. Das Festival hat seit 2014 unter anderem Filme von Kenneth Anger, Kim Ki-duk, Tinto Brass, Sean Baker, László Nemes, Friedrich Wilhelm Murnau, Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Jan Soldat, Thomas Heise, Frederick Wiseman oder auch jüngere Arbeiten von Gisèle Vienne und Lav Diaz präsen­tiert. Es hat mit Formaten expe­ri­men­tiert, die klas­si­sche Vorführ­si­tua­tion im Kino mit Ausstel­lungen, Lesungen, Vorträgen, Konzert­for­maten erweitert und kommen­tiert – auch in seiner jüngst vergan­genen zehnten Ausgabe, die in vier Leipziger Kinos sowie dem Wiener Milieu­kino stattfand, einem umge­bauten Kino-Truck, der dieses Mal im Rabet-Park im Leipziger Osten Halt machte.

Bahn­hofs­ki­no­kultur unter neuen Vorzei­chen

Ein Motto als Richt­schnur fehlte 2024. Widmete sich die Vorjahres-Ausgabe noch schwer­punkt­mäßig den »Animal Realities«, den Ausein­an­der­set­zungen mit dem Tieri­schen und dem Mensch­lich-Tieri­schen, schlug das jüngste Programm in viel­fäl­ti­gere Rich­tungen aus, die mit einem einzelnen Text nicht zu erfassen sind. Geblieben ist die Konfron­ta­tion mit dem Fremden – eine Konstante, die Kino natürlich immer innewohnt, aber den Filmen, die das Gegenkino zur Dispo­si­tion stellt, im Beson­deren. Eine Retro­spek­tive mit dem Titel »Bad Girls Go To Heaven« beschäf­tigte sich mit Titeln wie Terminal Island, Tenement oder A Woman’s Torment mit den Regis­seu­rinnen Roberta Findlay, Doris Wishman und Stephanie Rothman, die zwischen den 1960ern und 80ern im männlich domi­nierten ameri­ka­ni­schen Exploita­tion-Kino mitmischten. Nicht immer im Sinne einer Revo­lu­tion, Verkeh­rung oder Abrech­nung mit dessen sensa­ti­ons­hei­schenden Struk­turen und Ästhe­tiken, aber durchaus mit Übungen in punkto Eigensinn, der die indi­vi­du­ellen Frei­heiten und Noten mit dem Konven­tio­nellen und Zwang­haften der Industrie in eine zwei­schnei­dige und wech­sel­sei­tige Beziehung setzt. Bahn­hofs­ki­no­kultur unter neu betrach­teten Vorzei­chen. Weitere Retro­spek­tiven des Festivals versam­melten kurze, flackernde Werke der fran­zö­sisch-perua­ni­schen Expe­ri­men­tal­fil­merin Rose Lowder, Kurzfilme aus dem Archiv der Frank­furter Kinothek Asta Nielsen sowie verschie­dene Arbeiten des deutschen Grafikers, Doku­men­tar­fil­mers und Lyrikers Rainer Komers, der dem Leipziger Publikum persön­lich einen Einblick in sein Schaffen gab und einige Gedichte in einer Lesung zum Besten gab.

Festi­val­filme

Abge­rundet von diversen zeit­genös­si­schen Filmen und Festival-High­lights, darunter Lola Arias’ auf der Berlinale urauf­ge­führtes Musical-Expe­ri­ment Reas, der über 200 Minuten lange Doku­men­tar­film Direct Action über den Alltag fran­zö­si­scher Akti­visten, ebenfalls von der Berlinale und demnächst auch beim Münchener UNDERDOX zu sehen, oder auch Radu Judes Odyssee Do Not Expect Too Much From The End of the World, der zwar bereits vor einiger Zeit im Streaming erschien, aber jede Kino­vor­füh­rung als Podest verdient hat. Ebenfalls stark: Critical Zone des Iraners Ali Ahmadzadeh, der von einem Drogen­ku­rier in Teheran erzählt und eine Reihe wider­s­tän­diger Gesten als Reise in die Nacht und durch teils albtraum­hafte, skurrile Stationen insze­niert, in deren Zentrum eine waghal­sige Verfol­gungs­jagd steht. Der Alltag im Iran wird zum Surrealen verfremdet oder zum senso­ri­schen Angriff – mit einer Kamera, die plötzlich die Bewe­gungen des Auto­lenk­rads übernimmt.

Lust an verschüt­teten Kino-Geschichten

Was am Ende bleibt, ist der Eindruck eines Festivals, das es einem nicht immer leicht macht, einen Anhalts­punkt über bestimmte kura­to­ri­sche Entschei­dungen, die Zusam­men­stel­lung und inhalt­li­chen Schwer­punkte im Programm zu finden, das aber einmal mehr zu einer extrem reich­hal­tigen, viel­sei­tigen und anre­genden Entde­ckungs­reise einge­laden hat. Das kleine Team hinter dem Gegenkino hat auch in diesem Jahr eine bemer­kens­werte Lust am Bergen von Raritäten, verschüt­teten Kino-Geschichten, am künst­le­ri­schen und diskur­siven Histo­ri­sieren, am Zele­brieren von Film und Kino in ihren Mate­ria­li­täten und Formen sowie deren Vermitt­lung durch Einfüh­rungen und Texte gezeigt.

Wo sich zahl­reiche Eindrücke von Gegenkino #10 verbinden und verdichten, das sind die markanten, oft selbst­re­fle­xiven klin­genden Räume und Sound­scapes, die viele Filme des Programms erkundet haben und das inzwi­schen Selbst­ver­s­tänd­liche des Tonfilms feiern oder aber bewusst verun­si­chern. Da ist neben der eingangs beschrie­benen, sexuell aufge­la­denen Dunkel­kammer von Bijou etwa Rose Lowders Film La Source de La Loire zu nennen, der die Eindrücke von der Fluss­quelle der Loire ihrer Klänge beraubt, um diese erst am Schluss zu schwarzer Leinwand als Kino im Kopf abzu­spielen. Da kommen einem die durch die Wüste ratternden Züge in Rainer Komers’ USA-Porträts Barstow, Cali­fornia und Nome Road System in den Sinn. Die Windböen, die den Sand umher­treiben. Oder die knal­lenden Schuss­waffen, die die Atmo­sphäre in Barstow zerreißen, weil ein paar Unbe­darfte auch einmal unter Aufsicht der Profis testen wollen, wie es sich anfühlt, so eine tödliche Waffe abzu­feuern. Sowohl Komers’ als auch Lowders Filme sind ebenso eindring­liche Beispiele über das Wider­s­tän­dige derar­tiger Räume selbst, in denen die Mittel des Fragments, der Trennung, aber auch der Über­la­ge­rung audio­vi­su­eller Schichten und Reize ihr sinn­li­ches und appa­ra­tives Bezwingen und Objek­ti­vieren über das Medium Film zur unab­schließ­baren Heraus­for­de­rung werden lassen.

Man denkt an dieses verfal­lene Gefängnis in Buenos Aires, das von ehema­ligen Insassen in Reas musi­ka­lisch zum Klingen gebracht und zurück­er­obert wird. Ein Ort, der Menschen wegsperren, verbergen, der Schick­sale und Lebens­ge­schichten unsichtbar machen soll – am besten weit außerhalb des Sicht­feldes der Nicht-Krimi­nellen, außerhalb der Stadt. Oder man denkt an den jungen Prot­ago­nisten von Toll – sicher­lich einer der anrüh­rendsten, aber auch düstersten Filme des Programms –, dessen queere Identität von der Mutter abgelehnt wird und umgepolt werden soll. Mit Kopf­hö­rern zieht er an den rauchenden und bren­nenden Schloten und Indus­triehöllen seiner Heimat vorbei. Einen Popsong trällert er dahin, den nur er selbst hören kann. Ein Stück imagi­nierte Welt­flucht, deren Genuss nur ihm allein vergönnt ist.