07.11.2024

Kino als Utopie

No crying at the dinner table
Auch Weinen muss man lernen... (Szene aus dem Grand Prix Ruhr-Preisträgerfilm No Crying at the Dinner Table)
(Foto: Carol Nguyen)

Die 12. Ausgabe des innovativen Kinder- und Jugenddokumentarfilmfestivals DOXS RUHR macht nicht nur Spaß und überrascht, sondern weckt auch die Hoffnung, dass die Institution Kino doch noch eine Zukunft hat

Von Axel Timo Purr

Wer in München ins Kino geht, kann bisweilen ins Verzwei­feln geraten. Nicht nur geht das Kinosterben mit der Schließung des wunder­schönen, histo­ri­schen Send­linger Tor-Kinos zum Jahres­ende uner­bitt­lich weiter, sondern finden sich selbst in Filmen, die eigent­lich ein junges Ziel­pu­blikum verdienen, mehr­heit­lich fast nur noch die Gene­ra­tionen der über 60-jährigen ein. Für eine auch finan­ziell ja trotz aller anste­henden Kürzungen im Kultur­be­reich immer noch wohl­be­tuchte und pädago­gi­sche ambi­tio­nierte Kultur­stadt wie München sind das fast schon dysto­pi­sche Zukunfts­aus­sichten.

Umso über­ra­schender ist es deshalb, diese verlorene Zukunft dort wieder­zu­finden, wo man sie gar nicht vermutet, nämlich in dem durch verlorene Indus­trien, archi­tek­to­nisch versehrte Städte und migran­ti­sche Para­do­xien geprägten Ruhr­ge­biet, in dem zum nun schon zwölften Mal die vom Verein zur Förderung des Doku­men­tar­films für Kinder und Jugend­liche, den Freund*innen der Realität, ausge­tra­gene DOXS RUHR stattfand.

Doku­men­tar­film für Kinder und Jugend­liche mag sich im ersten Augen­blick viel­leicht wie die Nische der Nische anhören, die der Kinder­film nun einmal seit Jahren bedau­er­li­cher- und vor allem nach­läs­si­ger­weise in Deutsch­land ist, doch wer sich an die inno­va­tiven Jahre der Reform­pä­d­agogik der 1968er erinnert oder die uner­müd­li­chen Bestre­bungen der DEFA auf der anderen Seite der Mauer, der weiß, was möglich war. Und weiterhin ist. Auch wenn man für diese Erkenntnis nach Bochum reisen muss, um eines Besseren belehrt zu werden.

Denn was dort seit dem 29.10. und noch bis zum 10.11.2024 an kurzen Doku­men­tar­filmen für Kinder und Jugend­liche gezeigt wird, ist allein der Filme wegen schon eine Reise wert. Filme, die nicht nur über zwei Preise, den ECFA Docu­men­tary Award und den Grand Prix Ruhr, gewürdigt werden, sondern vor allem durch sein Publikum, das viel­leicht die größte Über­ra­schung und das eigent­liche Geschenk, der wirkliche Preis dieses Festivals sind. Denn wer sich als erwach­sener Mensch aus München in die bereits um 8.30 Uhr begin­nenden, kosten­losen Scree­nings für Schul­klassen in Bochum, Dortmund, Essen, Gelsen­kir­chen oder Moers einschleicht, findet sich nach nur wenigen Momenten aller Vorur­teile über bildungs­ferne oder neuro­di­verse Soziotope und das Ende des Kinos als solches völlig entledigt.

Das liegt zum einen an den Kinos selbst. Denn die vom Festival-Team ausge­wählten Kinos sind völlig unver­hoffte Perlen deutscher Kino­tra­di­tion, die auch davon erzählen, was das Ruhr­ge­biet war, als Kohle noch wirklich Kohle brachte und die, wie der prächtige Schauburg Film­pa­last in Gelsen­kir­chen aus den späten 1920er Jahren oder ein 1950er-Jahre Schmuck­s­tück wie das Astra Theater in Essen, nicht nur die Scree­nings besonders gestalten, sondern die Schüler zu Selfies und Grup­pen­bil­dern vor Lein­wänden animieren und damit in sozialen Medien die Aufmerk­sam­keit erzeugen, die für gewöhn­lich zu nach­hal­tigen Nach­ah­mer­ef­fekten führen.

Dazu tragen dann aller­dings auch die Filme selbst bei, die über ein beein­dru­ckendes Team an Moderator:innen bzw. Film­ver­mittler:innen nicht nur sorg­fältig einge­führt, sondern auch so kreativ nach­be­spro­chen werden, dass an normale Schul­pä­d­agogik und drögen Schul­un­ter­richt gar nicht zu denken ist und selbst fast schon expe­ri­men­telle Filme wie der öster­rei­chi­sche Allen Gipfeln über ist oder die anspruchs­volle Themen wie Außen­sei­tertum oder migran­ti­sche und familiäre Iden­ti­täten ergrün­denden Preis­trä­ger­filme Entre Les Autres (ECFA DOC Award) und No crying at the dinner table (Grand Prix Ruhr) offene und über­ra­schende Diskus­sionen nach sich ziehen. Gleich­zeitig bieten diese Diskus­sionen auch einen groß­ar­tigen Alltags­ab­gleich mit den in den Filmen gezeigten Reali­täten an, der durchaus auch kritisch ausfallen kann, wie nach dem Screening von Paula und die Kühe, der den bäuer­li­chen Alltag einer 13-jährigen schildert und der über die Anwe­sen­heit von Paula und dem Filmteam nach der Vorstel­lung ein fast schon „ideales“ Kontrast­pro­gramm zum Alltag der anwe­senden Schüler:innen bot.

Dass dann auch noch Programm­schienen wie „Paradox“ – ein Filmblock mit kurzen, sprach­re­du­zierten Filmen für ein neuro­di­verses Publikum – begeis­tert ange­nommen wird, mit groß­ar­tigen, aber äußerst unkon­ven­tio­nellen Filmen wie Ana Vasofs The Other Way Round, der an die Kurzfilme des verges­senen nieder­län­di­schen Video- und Konzept­künst­lers Bas Jan Ader erinnert, ist dann fast schon der guten Kino-Utopie zu viel, zeigt aber zumindest, dass das gute alte Kino noch lange nicht ausge­dient hat, spricht man nur ein junges Publikum mit den richtigen Filmen kreativ an.

Dazu gehört dann viel­leicht auch, die hier gezeigten Kurzfilm der Festi­val­b­lase zu entreißen und Kino­ma­cher davon zu über­zeugen, sie als Vorfilm zu Kinder­block­bus­tern wie der Schule der magischen Tiere zu zeigen oder in Schulen darauf aufmerksam zu machen, dass ein fantas­ti­scher animierter Coming-of-Age-Film, wie der ebenfalls auf der DOXS RUHR gezeigte Gigi zusammen mit anderen Kurz­filmen noch bis zum 29. Juni 2025 auf der arte Mediathek verfügbar ist, der mit 14 Minuten Länge natürlich auch perfekt in eine Schul­un­ter­richts­stunde passen würde. Wie übrigens auch No crying at the dinner table, den die Regis­seurin Carol Nguyen auf Vimeo kostenlos als Stream zur Verfügung gestellt hat.