Kino als Utopie |
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Auch Weinen muss man lernen... (Szene aus dem Grand Prix Ruhr-Preisträgerfilm No Crying at the Dinner Table) | ||
(Foto: Carol Nguyen) |
Von Axel Timo Purr
Wer in München ins Kino geht, kann bisweilen ins Verzweifeln geraten. Nicht nur geht das Kinosterben mit der Schließung des wunderschönen, historischen Sendlinger Tor-Kinos zum Jahresende unerbittlich weiter, sondern finden sich selbst in Filmen, die eigentlich ein junges Zielpublikum verdienen, mehrheitlich fast nur noch die Generationen der über 60-jährigen ein. Für eine auch finanziell ja trotz aller anstehenden Kürzungen im Kulturbereich immer noch wohlbetuchte und pädagogische ambitionierte Kulturstadt wie München sind das fast schon dystopische Zukunftsaussichten.
Umso überraschender ist es deshalb, diese verlorene Zukunft dort wiederzufinden, wo man sie gar nicht vermutet, nämlich in dem durch verlorene Industrien, architektonisch versehrte Städte und migrantische Paradoxien geprägten Ruhrgebiet, in dem zum nun schon zwölften Mal die vom Verein zur Förderung des Dokumentarfilms für Kinder und Jugendliche, den Freund*innen der Realität, ausgetragene DOXS RUHR stattfand.
Dokumentarfilm für Kinder und Jugendliche mag sich im ersten Augenblick vielleicht wie die Nische der Nische anhören, die der Kinderfilm nun einmal seit Jahren bedauerlicher- und vor allem nachlässigerweise in Deutschland ist, doch wer sich an die innovativen Jahre der Reformpädagogik der 1968er erinnert oder die unermüdlichen Bestrebungen der DEFA auf der anderen Seite der Mauer, der weiß, was möglich war. Und weiterhin ist. Auch wenn man für diese Erkenntnis nach Bochum reisen muss, um eines Besseren belehrt zu werden.
Denn was dort seit dem 29.10. und noch bis zum 10.11.2024 an kurzen Dokumentarfilmen für Kinder und Jugendliche gezeigt wird, ist allein der Filme wegen schon eine Reise wert. Filme, die nicht nur über zwei Preise, den ECFA Documentary Award und den Grand Prix Ruhr, gewürdigt werden, sondern vor allem durch sein Publikum, das vielleicht die größte Überraschung und das eigentliche Geschenk, der wirkliche Preis dieses Festivals sind. Denn wer sich als erwachsener Mensch aus München in die bereits um 8.30 Uhr beginnenden, kostenlosen Screenings für Schulklassen in Bochum, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen oder Moers einschleicht, findet sich nach nur wenigen Momenten aller Vorurteile über bildungsferne oder neurodiverse Soziotope und das Ende des Kinos als solches völlig entledigt.
Das liegt zum einen an den Kinos selbst. Denn die vom Festival-Team ausgewählten Kinos sind völlig unverhoffte Perlen deutscher Kinotradition, die auch davon erzählen, was das Ruhrgebiet war, als Kohle noch wirklich Kohle brachte und die, wie der prächtige Schauburg Filmpalast in Gelsenkirchen aus den späten 1920er Jahren oder ein 1950er-Jahre Schmuckstück wie das Astra Theater in Essen, nicht nur die Screenings besonders gestalten, sondern die Schüler zu Selfies und Gruppenbildern vor Leinwänden animieren und damit in sozialen Medien die Aufmerksamkeit erzeugen, die für gewöhnlich zu nachhaltigen Nachahmereffekten führen.
Dazu tragen dann allerdings auch die Filme selbst bei, die über ein beeindruckendes Team an Moderator:innen bzw. Filmvermittler:innen nicht nur sorgfältig eingeführt, sondern auch so kreativ nachbesprochen werden, dass an normale Schulpädagogik und drögen Schulunterricht gar nicht zu denken ist und selbst fast schon experimentelle Filme wie der österreichische Allen Gipfeln über ist oder die anspruchsvolle Themen wie Außenseitertum oder migrantische und familiäre Identitäten ergründenden Preisträgerfilme Entre Les Autres (ECFA DOC Award) und No crying at the dinner table (Grand Prix Ruhr) offene und überraschende Diskussionen nach sich ziehen. Gleichzeitig bieten diese Diskussionen auch einen großartigen Alltagsabgleich mit den in den Filmen gezeigten Realitäten an, der durchaus auch kritisch ausfallen kann, wie nach dem Screening von Paula und die Kühe, der den bäuerlichen Alltag einer 13-jährigen schildert und der über die Anwesenheit von Paula und dem Filmteam nach der Vorstellung ein fast schon „ideales“ Kontrastprogramm zum Alltag der anwesenden Schüler:innen bot.
Dass dann auch noch Programmschienen wie „Paradox“ – ein Filmblock mit kurzen, sprachreduzierten Filmen für ein neurodiverses Publikum – begeistert angenommen wird, mit großartigen, aber äußerst unkonventionellen Filmen wie Ana Vasofs The Other Way Round, der an die Kurzfilme des vergessenen niederländischen Video- und Konzeptkünstlers Bas Jan Ader erinnert, ist dann fast schon der guten Kino-Utopie zu viel, zeigt aber zumindest, dass das gute alte Kino noch lange nicht ausgedient hat, spricht man nur ein junges Publikum mit den richtigen Filmen kreativ an.
Dazu gehört dann vielleicht auch, die hier gezeigten Kurzfilm der Festivalblase zu entreißen und Kinomacher davon zu überzeugen, sie als Vorfilm zu Kinderblockbustern wie der Schule der magischen Tiere zu zeigen oder in Schulen darauf aufmerksam zu machen, dass ein fantastischer animierter Coming-of-Age-Film, wie der ebenfalls auf der DOXS RUHR gezeigte Gigi zusammen mit anderen Kurzfilmen noch bis zum 29. Juni 2025 auf der arte Mediathek verfügbar ist, der mit 14 Minuten Länge natürlich auch perfekt in eine Schulunterrichtsstunde passen würde. Wie übrigens auch No crying at the dinner table, den die Regisseurin Carol Nguyen auf Vimeo kostenlos als Stream zur Verfügung gestellt hat.