Lateinamerikanische Filmtage 2024: Leben mit der Krise |
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Die mittleren Katastrophen einer gescheiterten Beziehung in La práctica von Martín Rejtman | ||
(Foto: LAFITA 2024) |
Argentinien stellt seit jeher eine der größten Filmproduktionen in Lateinamerika. Dabei spiegelt das Kino dieses Landes gerade auch die politischen und ökonomischen Krisen und zeigt eine verzweifelte Widerständigkeit gegen die Wirtschafts- und Regierungsprogramme, die dort wie gerade jetzt unter dem Präsidenten Javier Milei immer wieder neoliberale Exempel statuieren. Noch gibt es eine lebendige argentinische Filmkultur. Und von dieser zeugt die diesjährige LAFITA-Edition in ihrem Schwerpunkt: eine Auswahl, die auf hintersinnige Komik und existentielle Gewitztheit setzt.
Eröffnet wird mit Puán von Benjamín Naishtat und María Alché, zwei Filmschaffenden, die sich mit ihren Vorgängerwerken (Rojo bzw. Familia sumergida) in der internationalen Festivalszene bereits einen Namen gemacht haben.
Der Titel ihrer ersten Zusammenarbeit, Puán, bezieht sich auf den Sitz der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Buenos Aires, so genannt nach der Straße, in der sie sich befindet, und verweist auf das Milieu, in der er spielt: es handelt sich um eine Komödie unter Akademikern. Als der allseits bewunderte Lehrstuhlinhaber für politische Philosophie unerwartet stirbt (er hat sich beim Joggen etwas übernommen), entspinnt sich eine Intrige um seine Nachfolge. Marcelo, der sich eher in der zweiten Reihe wohlfühlt, sieht sich von wohlmeinenden Kolleg*innen gedrängt, als Bewerber um die renommierte Stelle aufzutreten. Jedoch taucht überraschend der erfolgreiche Charismatiker Rafael Sujarchuk auf, der vor allem mit seinen Philosophieprofessuren im Ausland (unter anderem Deutschland) punktet. Auch wenn Marcelo ihn als narzisstischen Blender durchschaut, fühlt er sich zunehmend verunsichert, was seine gesamte Existenz in eine Schieflage bringt. Das setzt sich bis in die privaten Philosophiestunden fort, die er einer begüterten älteren Dame gibt. Deren Angehörige verdächtigen ihn, die alte Frau einfach nur auszunutzen, und möchten bei ihrer Geburtstagsfeier durch eine spontane Philosophie-Performance überzeugt werden…
Diese Komödie der menschlichen Eitelkeiten und Peinlichkeiten unter Akademikern mündet immer wieder in herrlich absurd-schräge Situationen, die aber nicht den Ernst der politischen Zumutungen ausblenden: das von Sparplänen bedrohte Institut begegnet diesen am Ende mit anarchischer Lust.
Die hervorragenden schauspielerischen Leistungen von Marcelo Subiotto (als Marcelo) und Leonardo Sbaraglia (als Rafael), das inszenatorische Können des Regie- und Drehbuchduos Benjamín Naishtat und María Alché (die auch privat ein Paar sind) und die unaufdringlich-souveräne Bildgestaltung der bekannten Kamerafrau Hélène Louvart machen Puán zu einem wunderbaren Eröffnungsfilm. (Eröffnungsabend Mi 27.11. / 19:00 Einlass 18:00 Kulturzentrum Luise | weitere Vorstellung: Fr 29.11. / 20:00 Projektor Gasteig HP8).
Das lakonisch-komische Register bedient auch La práctica von Martín Rejtman. Der argentinische Meister existentiell-abgründiger Alltagskomik verstrickt seine Hauptfigur in die mittleren Katastrophen einer gescheiterten Beziehung. Mit seiner chilenischen Frau hat der Argentinier Gustavo ein gemeinsames Yogastudio in Santiago de Chile betrieben. Nach der Trennung versucht Gustavo sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, doch bringen ihn seine linkischen Bemühungen immer wieder in die Bredouille. Auch das Yoga-Retreat in der ländlichen Abgeschiedenheit im chilenischen Hinterland führt eher zu abseitigen Begegnungen. Esteban Bigliardi (vor allem bekannt aus Los delincuentes) verleiht der Figur des Gustavo eine unnachahmliche Komik des Understatements, die seinen Stolpergängen durch die Fallstricke des Alltags bei aller Ungelenkheit eine eigenartige Abgeklärtheit bewahrt. (Sa 30.11. / 18:00 Projektor Gasteig HP 8)
Eine weitere Komödie der schrägen Art stellt Arturo a los 30 von Martín Shanly dar. Der Regisseur selbst spielt den unglückseligen Taugenichts Arturo, der mit Anfang 30 nach dem Verlust des Jobs wieder bei seinen Eltern wohnt. Also wieder eine Komödie, die aus den wirtschaftlichen Problemen ihr anarchisch-nihilistisches Kapital schlägt: Alltagssituationen der bürgerlichen Schicht werden derart auf die Spitze getrieben, bis die Absurditäten ihrer Normen und Werte sichtbar wird. (So 01.12. / 20:00 Projektor Gasteig HP 8)
Mit Tiempo de pagar bietet LAFITA das vielversprechende Langfilm-Debüt des Newcomers Felipe Wein, einen spannungsgeladenen und temporeichen Wettlauf gegen die Zeit, in der der halbkriminelle Protagonist Richard im Milieu der Kleingangster, Glücksspieler und Geldwechsler den Kopf aus der Schlinge zu ziehen versucht. Das urbane Umfeld des Microcentro, des Geschäfts- und Börsenviertels von Buenos Aires, liefert den fiebrig-hektischen Hintergrund für diesen Trip mit dem Flair eines 70er-Jahre-Kriminalfilms. (Do 28.11. / 19:00 Werkstattkino)
Auf andere Art spannend ist der dokumentarische Essayfilm (mit Spielszenen) Mixtape la Pampa von Andrés Di Tella. Es geht um die Biographie das nach England ausgewanderten argentinischen Schriftstellers und Naturkundlers Guillermo Enrique Hudson (1841-1922), besser gesagt geht es um dessen phantasmatische Besessenheit von der Pampa und den Gauchos, diesem argentinischen Nationalmythos. Di Tellos filmischer Essay, angereichert mit Found Footage, spürt Hudsons Phantomschmerz nach, die ihm die fehlende argentinische Heimat bereitete: der Pampa als imaginärem Ort nähert er sich mit einer Art Nature Writing, das der Film mit seinen Recherche-Bewegungen nachzuzeichnen sucht. (Do 28.11. / 21:30 Werkstattkino)
Über den Fokus Argentinien hinaus bietet die diesjährige Edition von LAFITA eine Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen aus Chile, Ekuador, Peru und Brasilien, die unterschiedliche Facetten dieses an Kinematographien so reichen Kontinents zeigen. Besonders hervorgehoben sei die dokumentarische Autofiktion Retratos Fantasmas von Kleber Mendonça Filho. Der brasilianische Regisseur (bekannt vor allem durch Bacurau) führt hier in seine Heimatstadt Recife zurück, in seine Jugend und die Initiation ins Kino, die er dort erlebte. So entsteht eine wehmütig-nostalgische Hommage an eine mittlerweile untergegangene Kultur der Cinephilie, an ihre auratischen Orte und Gestalten, die Kleber Mendonças Filmbegeisterung prägten. (Fr 29.11. / 18:00 Projektor Gasteig HP8)
Einen entsprechenden Spirit der Kinokultur vermitteln auch die Macher*innen von LAFITA mit ihrem Engagement: viele der Programme werden noch mit Kurzfilmen flankiert und bieten die Gelegenheit zu Publikumsgesprächen mit Gästen.