21.11.2024

Lateinamerikanische Filmtage 2024: Leben mit der Krise

La práctica von Martín Rejtman
Die mittleren Katastrophen einer gescheiterten Beziehung in La práctica von Martín Rejtman
(Foto: LAFITA 2024)

Die diesjährige Ausgabe der Lateinamerikanischen Filmtage rückt Argentinien in den Fokus: Bei allen wirtschaftlichen und politischen Problemen zeigt das Kino dieses Lands wie das Lateinamerikas insgesamt immer wieder eine erstaunliche Kreativität, gerade auch im Umgang mit den Krisen

Von Wolfgang Lasinger

Argen­ti­nien stellt seit jeher eine der größten Film­pro­duk­tionen in Latein­ame­rika. Dabei spiegelt das Kino dieses Landes gerade auch die poli­ti­schen und ökono­mi­schen Krisen und zeigt eine verzwei­felte Wider­s­tän­dig­keit gegen die Wirt­schafts- und Regie­rungs­pro­gramme, die dort wie gerade jetzt unter dem Präsi­denten Javier Milei immer wieder neoli­be­rale Exempel statu­ieren. Noch gibt es eine lebendige argen­ti­ni­sche Film­kultur. Und von dieser zeugt die dies­jäh­rige LAFITA-Edition in ihrem Schwer­punkt: eine Auswahl, die auf hinter­sin­nige Komik und exis­ten­ti­elle Gewitzt­heit setzt.

Eröffnet wird mit Puán von Benjamín Naishtat und María Alché, zwei Film­schaf­fenden, die sich mit ihren Vorgän­ger­werken (Rojo bzw. Familia sumergida) in der inter­na­tio­nalen Festi­valszene bereits einen Namen gemacht haben.

Der Titel ihrer ersten Zusam­men­ar­beit, Puán, bezieht sich auf den Sitz der geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Fakultät der Univer­sität von Buenos Aires, so genannt nach der Straße, in der sie sich befindet, und verweist auf das Milieu, in der er spielt: es handelt sich um eine Komödie unter Akade­mi­kern. Als der allseits bewun­derte Lehr­stuhl­in­haber für poli­ti­sche Philo­so­phie uner­wartet stirbt (er hat sich beim Joggen etwas über­nommen), entspinnt sich eine Intrige um seine Nachfolge. Marcelo, der sich eher in der zweiten Reihe wohlfühlt, sieht sich von wohl­mei­nenden Kolleg*innen gedrängt, als Bewerber um die renom­mierte Stelle aufzu­treten. Jedoch taucht über­ra­schend der erfolg­reiche Charis­ma­tiker Rafael Sujarchuk auf, der vor allem mit seinen Philo­so­phie­pro­fes­suren im Ausland (unter anderem Deutsch­land) punktet. Auch wenn Marcelo ihn als narziss­ti­schen Blender durch­schaut, fühlt er sich zunehmend verun­si­chert, was seine gesamte Existenz in eine Schief­lage bringt. Das setzt sich bis in die privaten Philo­so­phie­stunden fort, die er einer begü­terten älteren Dame gibt. Deren Angehö­rige verdäch­tigen ihn, die alte Frau einfach nur auszu­nutzen, und möchten bei ihrer Geburts­tags­feier durch eine spontane Philo­so­phie-Perfor­mance überzeugt werden…

Diese Komödie der mensch­li­chen Eitel­keiten und Pein­lich­keiten unter Akade­mi­kern mündet immer wieder in herrlich absurd-schräge Situa­tionen, die aber nicht den Ernst der poli­ti­schen Zumu­tungen ausblenden: das von Spar­plänen bedrohte Institut begegnet diesen am Ende mit anar­chi­scher Lust.

Die hervor­ra­genden schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen von Marcelo Subiotto (als Marcelo) und Leonardo Sbaraglia (als Rafael), das insze­na­to­ri­sche Können des Regie- und Dreh­buch­duos Benjamín Naishtat und María Alché (die auch privat ein Paar sind) und die unauf­dring­lich-souveräne Bild­ge­stal­tung der bekannten Kame­ra­frau Hélène Louvart machen Puán zu einem wunder­baren Eröff­nungs­film. (Eröff­nungs­abend Mi 27.11. / 19:00 Einlass 18:00 Kultur­zen­trum Luise | weitere Vorstel­lung: Fr 29.11. / 20:00 Projektor Gasteig HP8).

Das lakonisch-komische Register bedient auch La práctica von Martín Rejtman. Der argen­ti­ni­sche Meister exis­ten­tiell-abgrün­diger Alltags­komik verstrickt seine Haupt­figur in die mittleren Kata­stro­phen einer geschei­terten Beziehung. Mit seiner chile­ni­schen Frau hat der Argen­ti­nier Gustavo ein gemein­sames Yoga­studio in Santiago de Chile betrieben. Nach der Trennung versucht Gustavo sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, doch bringen ihn seine linki­schen Bemühungen immer wieder in die Bredouille. Auch das Yoga-Retreat in der länd­li­chen Abge­schie­den­heit im chile­ni­schen Hinter­land führt eher zu absei­tigen Begeg­nungen. Esteban Bigliardi (vor allem bekannt aus Los delin­cuentes) verleiht der Figur des Gustavo eine unnach­ahm­liche Komik des Under­state­ments, die seinen Stol­per­gängen durch die Fall­stricke des Alltags bei aller Unge­lenk­heit eine eigen­ar­tige Abge­klärt­heit bewahrt. (Sa 30.11. / 18:00 Projektor Gasteig HP 8)

Eine weitere Komödie der schrägen Art stellt Arturo a los 30 von Martín Shanly dar. Der Regisseur selbst spielt den unglück­se­ligen Tauge­nichts Arturo, der mit Anfang 30 nach dem Verlust des Jobs wieder bei seinen Eltern wohnt. Also wieder eine Komödie, die aus den wirt­schaft­li­chen Problemen ihr anar­chisch-nihi­lis­ti­sches Kapital schlägt: Alltags­si­tua­tionen der bürger­li­chen Schicht werden derart auf die Spitze getrieben, bis die Absur­di­täten ihrer Normen und Werte sichtbar wird. (So 01.12. / 20:00 Projektor Gasteig HP 8)

Mit Tiempo de pagar bietet LAFITA das viel­ver­spre­chende Langfilm-Debüt des Newcomers Felipe Wein, einen span­nungs­ge­la­denen und tempo­rei­chen Wettlauf gegen die Zeit, in der der halb­kri­mi­nelle Prot­ago­nist Richard im Milieu der Klein­gangster, Glücks­spieler und Geld­wechsler den Kopf aus der Schlinge zu ziehen versucht. Das urbane Umfeld des Micro­centro, des Geschäfts- und Börsen­vier­tels von Buenos Aires, liefert den fiebrig-hekti­schen Hinter­grund für diesen Trip mit dem Flair eines 70er-Jahre-Krimi­nal­films. (Do 28.11. / 19:00 Werk­statt­kino)

Auf andere Art spannend ist der doku­men­ta­ri­sche Essayfilm (mit Spiel­szenen) Mixtape la Pampa von Andrés Di Tella. Es geht um die Biogra­phie das nach England ausge­wan­derten argen­ti­ni­schen Schrift­stel­lers und Natur­kund­lers Guillermo Enrique Hudson (1841-1922), besser gesagt geht es um dessen phan­tas­ma­ti­sche Beses­sen­heit von der Pampa und den Gauchos, diesem argen­ti­ni­schen Natio­nal­my­thos. Di Tellos filmi­scher Essay, ange­rei­chert mit Found Footage, spürt Hudsons Phan­tom­schmerz nach, die ihm die fehlende argen­ti­ni­sche Heimat bereitete: der Pampa als imaginärem Ort nähert er sich mit einer Art Nature Writing, das der Film mit seinen Recherche-Bewe­gungen nach­zu­zeichnen sucht. (Do 28.11. / 21:30 Werk­statt­kino)

Über den Fokus Argen­ti­nien hinaus bietet die dies­jäh­rige Edition von LAFITA eine Reihe von Doku­mentar- und Spiel­filmen aus Chile, Ekuador, Peru und Brasilien, die unter­schied­liche Facetten dieses an Kine­ma­to­gra­phien so reichen Konti­nents zeigen. Besonders hervor­ge­hoben sei die doku­men­ta­ri­sche Auto­fik­tion Retratos Fantasmas von Kleber Mendonça Filho. Der brasi­lia­ni­sche Regisseur (bekannt vor allem durch Bacurau) führt hier in seine Heimat­stadt Recife zurück, in seine Jugend und die Initia­tion ins Kino, die er dort erlebte. So entsteht eine wehmütig-nost­al­gi­sche Hommage an eine mitt­ler­weile unter­ge­gan­gene Kultur der Cine­philie, an ihre aura­ti­schen Orte und Gestalten, die Kleber Mendonças Film­be­geis­te­rung prägten. (Fr 29.11. / 18:00 Projektor Gasteig HP8)

Einen entspre­chenden Spirit der Kino­kultur vermit­teln auch die Macher*innen von LAFITA mit ihrem Enga­ge­ment: viele der Programme werden noch mit Kurz­filmen flankiert und bieten die Gele­gen­heit zu Publi­kums­ge­sprächen mit Gästen.