05.12.2024

No Other Film

No Other Land
Auf die Zerstörung folgt der Wiederaufbau.
(Foto: IMMERGUTEFILME c/o Lichtblick Cinema)

Über Vorurteile über das Dokumentarische und warum »No Other Land« ein richtiger, ein guter Film ist – auch wenn die politischen Verhältnisse nur die falschen sein können

Von Dunja Bialas

Der paläs­ti­nen­sisch-israe­li­sche Film No Other Land beschäf­tigt »artechock« nun schon seit seinem Filmstart. Dies hier soll keine weitere Kritik werden, aber sich doch mit ein paar Aspekten ausein­an­der­setzen, die über den Film geäußert wurden, auch weil sie m. E. von falschen Prämissen für den Doku­men­tar­film ausgehen.

Zunächst muss man sich immer klar machen, dass ein Doku­men­tar­film keine wahr­heits­ge­mäßen und allge­mein­gül­tigen Abbilder der Wirk­lich­keit liefert. Das ist das große Miss­ver­s­tändnis über die doku­men­ta­ri­sche Kunst. Doku­men­tar­film zeigt Reprä­sen­ta­tionen und Inter­pre­ta­tionen von Wirk­lich­keit und darf als filmische Kunstform, die oft mit dem Autoren­film vergli­chen wird, die Hand­schrift des Filme­ma­chers tragen und sein Anliegen subjektiv und frag­men­ta­risch formu­lieren und darstellen. Doku­men­tar­filme unter­liegen nicht dem Neutra­li­täts- oder Ausge­wo­gen­heits­gebot, wie dies für den Jour­na­lismus verlangt wird. Doku­men­tar­filme dürfen einseitig, speku­lativ, ja sogar fiktional sein – sofern die Methode trans­pa­rent gemacht wird und der Pakt deutlich wird, der mit dem Sehen des Films aktiviert wird.

No Other Land macht aus seiner Position von Beginn an keinen Hehl. Wir haben es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der aus dem Off von frühen Kind­heits­er­leb­nissen berichtet. Die Kamera ist subjektiv und ausschnitt­haft, oft wird aus Zeugen­po­si­tion gefilmt, distanzlos aus der Mitte der Ereig­nisse heraus, »embedded«.

Der Off-Erzähler erinnert sich an seine ersten markanten Erleb­nisse im Verhältnis zur cause pales­ti­ni­enne, die übrigens auch dem viel zitierten Jean-Luc Godard so wichtig war (vgl. seinen Film Ici et ailleurs von 1976). Das ist die Brille, mit der in No Other Land auf die Dinge geblickt wird, auch das Sprach­rohr wird definiert: Der aus dem Off spre­chende Filme­ma­cher stammt aus einer Familie von Akti­visten im West­jor­dan­land, das wird mehrfach betont. Wir haben es also mit einem Film aus dem akti­vis­ti­schen Umfeld zu tun.

Der Sprecher und die damit vorge­ge­bene Perspek­tive ist die von Basel Adra, einer von vier (nicht zwei…) Regis­seuren, die kollektiv den Film gemacht haben: neben Basel Adra sind das der Israeli Yuval Abraham, außerdem der Aktivist Hamdan Ballal (Mitglied des Projekts Humans of Masafer Yatta) und die israe­li­sche Kame­ra­frau und Filme­ma­cherin Rachel Szor. Basel Adra ist das Zentrum des Films, ist Sprecher, meist Perspek­tiv­träger und über seine Familie auch betrof­fener Zeitzeuge. Videos, die sein Vater im Laufe von zwanzig Jahren in Masafer Yatta gedreht hat, der Region im südlichen West­jor­dan­land, in der der Film spielt, werden in die aktuellen Aufnahmen montiert, immer wird präzise kommen­tiert, was zu sehen ist. Der Film erzählt außerdem von der Freund­schaft zwischen Basal und Yuval, dem Jour­na­listen aus Israel, in vielen Szenen sind sie als Prot­ago­nisten zu sehen oder sie unter­halten sich, ganz ernsthaft. Ihre Gespräche sind nach­denk­lich, teilweise stellt Yuval präzise Fragen an Basel zur poli­ti­schen Geschichte von Masafar Yatta. Auch sein Anliegen ist, die Geschichte bekannt zu machen. Am Schluss sind sie sich einig: »It’s compli­cated.«

Und eben nicht: It’s not compli­cated, wie es die Pro-Palästina-Akti­visten behaupten.

Unter­schiede zwischen den Paläs­ti­nen­sern und den Israelis, wie die Farbe der Nummern­schil­dern auf den Autos (grün oder gelb), die unter­schied­liche Akti­ons­ra­dien erlauben, werden benannt. Bilder von Bull­do­zern, die Häuser einreißen, werden gezeigt, und auch die Menschen, die vor ihnen stehen, fassungslos, weil sie kaum die Zeit bekamen, ihr Hab und Gut auszu­räumen.

Die Bilder sind da, es hat etwas statt­ge­funden. Dass es nicht nach­in­sze­niert ist, darauf vertrauen wir im Wissen, dass es sich um einen Doku­men­tar­film handelt (und im Wissen, das wir aus den Nach­richten beziehen, als Reali­täts­ab­gleich).

Doku­men­tar­filme jedoch können prin­zi­piell lügen, können wahr oder unwahr sein, das unter­scheidet sie von fiktio­nalen Filmen. Die Lüge entsteht zwischen den Bildern, in den Zwischen­räumen der Montage, in den subtilen Gesten der Mani­pu­la­tion, im Schuss-Gegen­schuss von einem Bulldozer und einem kleinen Mädchen etwa, oder von der Akti­vistin, die dem Soldaten eine Blume hinhält. Nichts davon aber findet sich in No Other Land. Fast schon über­ra­schend ist No Other Land sehr deskriptiv und wenig narrativ, reiht chro­no­lo­gisch verschie­dene Stadien der sich wieder­ho­lenden »demo­li­tion« und »recon­s­truc­tion« der Häuser der Paläs­ti­nenser anein­ander, ein stetiges Zerstören und Wieder­auf­bauen, eine Sisyphos-Arbeit – was der Film jedoch so nicht meta­pho­ri­siert. Sondern nur beim Namen nennt: Demo­li­tion. Recon­s­truc­tion.

Auffal­lend ist auch die Abwe­sen­heit sugges­tiver Musik. Was wir hören, ist dann und wann das typische Doku­men­tar­film­ge­klimper, aber eben keine emotio­nalen Aufla­dungen wie es sie beispiels­weise in Mstyslaw Tschrnows Oscar-gekröntem 20 Days of Mariupol gibt, wo über die State­ments der Befragten unheil­volle Musik ertönt. Wenn in Mariupol die Kamera draufhält, bis ein Baby dann doch nicht gerettet werden kann und damit einen höchst emotio­nalen Moment schafft, ist dies ungleich mani­pu­la­tiver, als wenn in No Other Land aus Distanz der auf dem Boden liegende gelähmte Bruder gezeigt wird. No Other Land hat nur selten emotional aufge­la­dene Momente, wirkt eher immer wieder wie ein ernüch­terter Kommentar der Gescheh­nisse – bis auf einen Kamera-Filter, der die Bilder in einigen Szenen kontrast­reich und unheil­voll macht.

Welche Rolle haben die Kinder? Die blonden Locken eines Mädchens üben eine große Faszi­na­tion auf die Kamera aus, sie stechen hervor, sehen europäisch aus, auch rötliches Haar ist zu sehen. Alles ist ganz beiläufig und noch nicht einmal die großen Augen, die Kinder nun mal haben, werden exploitet. Kuller­tränen sieht man nicht, und auch kein zurück­ge­las­senes Stofftier.

Die emotio­nale Zurück­ge­nom­men­heit könnte man dem Film natürlich auch als Strategie auslegen. »Du bist stark«, sagt einmal eine inter­na­tio­nale Repor­terin zur Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hat, und unter Tränen, aber auch mit Zornes­falten spricht. Nur: das ist eine Szene, die fürs Fernsehen entstand. Indem No Other Land diese Aufnahmen zeigt, wird gerade auch ihr Kontrast zur Haltung der Filme­ma­cher sichtbar. Die ist eher Resi­gna­tion als Hass oder kämp­fe­ri­sche Stärke. Die ist Peace, nicht Intifada (man sieht übrigens durchaus stei­ne­wer­fende Paläs­ti­nenser).

Die Eska­la­tion beginnt, als für die Landnahme eine Schule zerstört wird – es macht eben doch einen Unter­schied, ob ein Hühner­stall oder eine Schule nieder­ge­macht wird –, und als ein Siedler einen Cousin von Basel erschießt. Fraglich, ob es gut ist, dass dieser doku­men­tierte Moment ebenfalls in den Film aufge­nommen wurde. Im Sinne der Eska­la­ti­ons­dar­stel­lung aber ist dies zumindest vers­tänd­lich.

Ich hatte mich vor dem Film aufgrund der pola­ri­sierten Bericht­erstat­tung auf Hate­speech und Palästina-Parolen gefasst gemacht, auf platte Einsei­tig­keit und grobe Plaka­tie­rungen. Statt­dessen habe ich ein Portrait einer Akti­vis­ten­fa­milie gesehen, das ihre Körper in die Waag­schale wirft, um in ihren Häusern, auf ihrem Land bleiben zu können. »Wir haben kein anderes Land«, sagen sie titel­ge­bend.

Zum Ende hin franst der Film aus. Die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober 2023 auf Israel werden durch eine Texttafel erwähnt, aber nicht mehr in die Erzählung einge­bunden, die jetzt darge­stellten Ereig­nisse nicht auf den Anschlag hin perspek­ti­viert. Das ist eine Blindheit des Films, auch, weil erst danach der schießende Siedler auftritt. Dass die Siedler im West­jor­dan­land orthodox und oft auch militant sind, erwähnt der Film ebenfalls nicht, obwohl es in eine pro-paläs­ti­nen­si­sche Agenda passen würde.

Einmal scheint in der Diskus­sion zwischen dem Paläs­ti­nenser und dem Israeli durch, dass es für sie nur die Einstaa­ten­lö­sung geben kann. Den einen Staat, in dem beide Ethnien, Araber und Juden, univer­selle und gleiche Rechte hätten. Dies entspricht den Gedanken des deutsch-israe­li­schen Philo­so­phen Omri Boehm (»Israel – eine Utopie«), die er in der Über­zeu­gung eines »radikalen Univer­sa­lismus«, so ein weiterer Titel seiner Bücher, formu­liert hat (und wofür er sich angreifen lassen musste). Wo nicht im Namen der Identität gehandelt wird, kann ein Univer­sa­lismus gefunden werden, der die Menschen wieder unter dem Vorzei­chen des Huma­nismus umarmt.

+ + +

Abschließend eine Fußnote zu Godard. In »What is to be done?« von 1970 schreibt er im briti­schen Film­ma­gazin »After­image« ein Manifest zum Diktum der »poli­ti­schen Filme / Filme politisch« zu machen:

1. We must make political films.
2. We must make films poli­ti­cally.

(…)
33. To carry out 2 is to know the history of revo­lu­tio­nary struggles and be deter­mined by them.
34. To carry out 2 is to produce scien­tific knowledge of revo­lu­tio­nary struggles and of their history.
35. To carry out 2 is to know that film making is a secondary activity, a small screw in the revo­lu­tion.
36. To carry out 2 is to use images and sounds as teeth and lips to bite with.
37. To carry out 1 is to only open the eyes and the ears.
38. To carry out 2 is to read the reports of comrade Kiang Tsing.

39. To carry out 2 is to be militant.