No Other Film |
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Auf die Zerstörung folgt der Wiederaufbau. | ||
(Foto: IMMERGUTEFILME c/o Lichtblick Cinema) |
Von Dunja Bialas
Der palästinensisch-israelische Film No Other Land beschäftigt »artechock« nun schon seit seinem Filmstart. Dies hier soll keine weitere Kritik werden, aber sich doch mit ein paar Aspekten auseinandersetzen, die über den Film geäußert wurden, auch weil sie m. E. von falschen Prämissen für den Dokumentarfilm ausgehen.
Zunächst muss man sich immer klar machen, dass ein Dokumentarfilm keine wahrheitsgemäßen und allgemeingültigen Abbilder der Wirklichkeit liefert. Das ist das große Missverständnis über die dokumentarische Kunst. Dokumentarfilm zeigt Repräsentationen und Interpretationen von Wirklichkeit und darf als filmische Kunstform, die oft mit dem Autorenfilm verglichen wird, die Handschrift des Filmemachers tragen und sein Anliegen subjektiv und fragmentarisch formulieren und darstellen. Dokumentarfilme unterliegen nicht dem Neutralitäts- oder Ausgewogenheitsgebot, wie dies für den Journalismus verlangt wird. Dokumentarfilme dürfen einseitig, spekulativ, ja sogar fiktional sein – sofern die Methode transparent gemacht wird und der Pakt deutlich wird, der mit dem Sehen des Films aktiviert wird.
No Other Land macht aus seiner Position von Beginn an keinen Hehl. Wir haben es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der aus dem Off von frühen Kindheitserlebnissen berichtet. Die Kamera ist subjektiv und ausschnitthaft, oft wird aus Zeugenposition gefilmt, distanzlos aus der Mitte der Ereignisse heraus, »embedded«.
Der Off-Erzähler erinnert sich an seine ersten markanten Erlebnisse im Verhältnis zur cause palestinienne, die übrigens auch dem viel zitierten Jean-Luc Godard so wichtig war (vgl. seinen Film Ici et ailleurs von 1976). Das ist die Brille, mit der in No Other Land auf die Dinge geblickt wird, auch das Sprachrohr wird definiert: Der aus dem Off sprechende Filmemacher stammt aus einer Familie von Aktivisten im Westjordanland, das wird mehrfach betont. Wir haben es also mit einem Film aus dem aktivistischen Umfeld zu tun.
Der Sprecher und die damit vorgegebene Perspektive ist die von Basel Adra, einer von vier (nicht zwei…) Regisseuren, die kollektiv den Film gemacht haben: neben Basel Adra sind das der Israeli Yuval Abraham, außerdem der Aktivist Hamdan Ballal (Mitglied des Projekts Humans of Masafer Yatta) und die israelische Kamerafrau und Filmemacherin Rachel Szor. Basel Adra ist das Zentrum des Films, ist Sprecher, meist Perspektivträger und über seine Familie auch betroffener Zeitzeuge. Videos, die sein Vater im Laufe von zwanzig Jahren in Masafer Yatta gedreht hat, der Region im südlichen Westjordanland, in der der Film spielt, werden in die aktuellen Aufnahmen montiert, immer wird präzise kommentiert, was zu sehen ist. Der Film erzählt außerdem von der Freundschaft zwischen Basal und Yuval, dem Journalisten aus Israel, in vielen Szenen sind sie als Protagonisten zu sehen oder sie unterhalten sich, ganz ernsthaft. Ihre Gespräche sind nachdenklich, teilweise stellt Yuval präzise Fragen an Basel zur politischen Geschichte von Masafar Yatta. Auch sein Anliegen ist, die Geschichte bekannt zu machen. Am Schluss sind sie sich einig: »It’s complicated.«
Und eben nicht: It’s not complicated, wie es die Pro-Palästina-Aktivisten behaupten.
Unterschiede zwischen den Palästinensern und den Israelis, wie die Farbe der Nummernschildern auf den Autos (grün oder gelb), die unterschiedliche Aktionsradien erlauben, werden benannt. Bilder von Bulldozern, die Häuser einreißen, werden gezeigt, und auch die Menschen, die vor ihnen stehen, fassungslos, weil sie kaum die Zeit bekamen, ihr Hab und Gut auszuräumen.
Die Bilder sind da, es hat etwas stattgefunden. Dass es nicht nachinszeniert ist, darauf vertrauen wir im Wissen, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt (und im Wissen, das wir aus den Nachrichten beziehen, als Realitätsabgleich).
Dokumentarfilme jedoch können prinzipiell lügen, können wahr oder unwahr sein, das unterscheidet sie von fiktionalen Filmen. Die Lüge entsteht zwischen den Bildern, in den Zwischenräumen der Montage, in den subtilen Gesten der Manipulation, im Schuss-Gegenschuss von einem Bulldozer und einem kleinen Mädchen etwa, oder von der Aktivistin, die dem Soldaten eine Blume hinhält. Nichts davon aber findet sich in No Other Land. Fast schon überraschend ist No Other Land sehr deskriptiv und wenig narrativ, reiht chronologisch verschiedene Stadien der sich wiederholenden »demolition« und »reconstruction« der Häuser der Palästinenser aneinander, ein stetiges Zerstören und Wiederaufbauen, eine Sisyphos-Arbeit – was der Film jedoch so nicht metaphorisiert. Sondern nur beim Namen nennt: Demolition. Reconstruction.
Auffallend ist auch die Abwesenheit suggestiver Musik. Was wir hören, ist dann und wann das typische Dokumentarfilmgeklimper, aber eben keine emotionalen Aufladungen wie es sie beispielsweise in Mstyslaw Tschrnows Oscar-gekröntem 20 Days of Mariupol gibt, wo über die Statements der Befragten unheilvolle Musik ertönt. Wenn in Mariupol die Kamera draufhält, bis ein Baby dann doch nicht gerettet werden kann und damit einen höchst emotionalen Moment schafft, ist dies ungleich manipulativer, als wenn in No Other Land aus Distanz der auf dem Boden liegende gelähmte Bruder gezeigt wird. No Other Land hat nur selten emotional aufgeladene Momente, wirkt eher immer wieder wie ein ernüchterter Kommentar der Geschehnisse – bis auf einen Kamera-Filter, der die Bilder in einigen Szenen kontrastreich und unheilvoll macht.
Welche Rolle haben die Kinder? Die blonden Locken eines Mädchens üben eine große Faszination auf die Kamera aus, sie stechen hervor, sehen europäisch aus, auch rötliches Haar ist zu sehen. Alles ist ganz beiläufig und noch nicht einmal die großen Augen, die Kinder nun mal haben, werden exploitet. Kullertränen sieht man nicht, und auch kein zurückgelassenes Stofftier.
Die emotionale Zurückgenommenheit könnte man dem Film natürlich auch als Strategie auslegen. »Du bist stark«, sagt einmal eine internationale Reporterin zur Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hat, und unter Tränen, aber auch mit Zornesfalten spricht. Nur: das ist eine Szene, die fürs Fernsehen entstand. Indem No Other Land diese Aufnahmen zeigt, wird gerade auch ihr Kontrast zur Haltung der Filmemacher sichtbar. Die ist eher Resignation als Hass oder kämpferische Stärke. Die ist Peace, nicht Intifada (man sieht übrigens durchaus steinewerfende Palästinenser).
Die Eskalation beginnt, als für die Landnahme eine Schule zerstört wird – es macht eben doch einen Unterschied, ob ein Hühnerstall oder eine Schule niedergemacht wird –, und als ein Siedler einen Cousin von Basel erschießt. Fraglich, ob es gut ist, dass dieser dokumentierte Moment ebenfalls in den Film aufgenommen wurde. Im Sinne der Eskalationsdarstellung aber ist dies zumindest verständlich.
Ich hatte mich vor dem Film aufgrund der polarisierten Berichterstattung auf Hatespeech und Palästina-Parolen gefasst gemacht, auf platte Einseitigkeit und grobe Plakatierungen. Stattdessen habe ich ein Portrait einer Aktivistenfamilie gesehen, das ihre Körper in die Waagschale wirft, um in ihren Häusern, auf ihrem Land bleiben zu können. »Wir haben kein anderes Land«, sagen sie titelgebend.
Zum Ende hin franst der Film aus. Die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober 2023 auf Israel werden durch eine Texttafel erwähnt, aber nicht mehr in die Erzählung eingebunden, die jetzt dargestellten Ereignisse nicht auf den Anschlag hin perspektiviert. Das ist eine Blindheit des Films, auch, weil erst danach der schießende Siedler auftritt. Dass die Siedler im Westjordanland orthodox und oft auch militant sind, erwähnt der Film ebenfalls nicht, obwohl es in eine pro-palästinensische Agenda passen würde.
Einmal scheint in der Diskussion zwischen dem Palästinenser und dem Israeli durch, dass es für sie nur die Einstaatenlösung geben kann. Den einen Staat, in dem beide Ethnien, Araber und Juden, universelle und gleiche Rechte hätten. Dies entspricht den Gedanken des deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm (»Israel – eine Utopie«), die er in der Überzeugung eines »radikalen Universalismus«, so ein weiterer Titel seiner Bücher, formuliert hat (und wofür er sich angreifen lassen musste). Wo nicht im Namen der Identität gehandelt wird, kann ein Universalismus gefunden werden, der die Menschen wieder unter dem Vorzeichen des Humanismus umarmt.
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Abschließend eine Fußnote zu Godard. In »What is to be done?« von 1970 schreibt er im britischen Filmmagazin »Afterimage« ein Manifest zum Diktum der »politischen Filme / Filme politisch« zu machen:
1. We must make political films.
2. We must make films politically.
(…)
33. To carry out 2 is to know the history of revolutionary struggles and be determined by them.
34. To carry out 2 is to produce scientific knowledge of revolutionary struggles and of their history.
35. To carry out 2 is to know that film making is a secondary activity, a small screw in the revolution.
36. To carry out 2 is to use images and sounds as teeth and lips to bite with.
37. To carry out 1 is to only open the eyes and the ears.
38. To carry out 2 is to read the reports of comrade Kiang Tsing.39. To carry out 2 is to be militant.