19.12.2024

Alles, was an Dunkelheit möglich ist

All we imagine as light
Sich das Licht in der Dunkelheit vorzustellen reicht nicht – Szene aus All We Imagine as Light...
(Foto: Rapid Eye / Real Fiction)

Ein Oscar-prämierter Song 2023, der Große Preis der Jury in Cannes 2024 – man könnte glauben, es läuft für Indien. Doch fährt man (nicht) zum Filmfest nach Kolkata, zeigt sich die so düstere wie drastische Kehrseite indischer (Kultur-) Politik

Von Axel Timo Purr

Wie schlimm es um Indien steht, hätte eigent­lich schon klar sein müssen, als kein indischer Film­stu­dent auf dem 18. Mumbai Inter­na­tional Film­fes­tival über Politik sprechen wollte, aus Angst, den Studi­en­platz verlieren zu können. Und die Beschwich­ti­gungen des Filmfests machten natürlich Sinn. Man solle lieber das halbvolle als das halbleere Glas sehen, also erleich­ternd aner­kennen, dass nur ein Drittel der Filme im natio­nalen Wett­be­werb hindu­is­ti­sche Propa­gan­da­filme waren und damit immer noch genug Raum genug bliebe, um auf das aufre­gende diverse Kino Indiens aufmerksam zu machen, das ja auch dieses Jahr in Cannes mit Payal Kapadias All We Imagine as Light gewürdigt werden konnte.

Doch da fängt es eigent­lich schon an. Natürlich ist All We Imagine as Light ein groß­ar­tiger Film, der subtil und zärtlich die Geschichte dreier Kran­ken­schwes­tern erzählt, die so unter­schied­lich, wie sie sind, drei Wege gehen, um sich selbst zu ermäch­tigen. Dem west­li­chen Blick wird sicher­lich die im Zentrum stehende Geschichte von Prabha am wich­tigsten erscheinen, haben wir es hier doch auch mit einer sehr westlich erzählten Lebens­linie zu tun, die mit Mitteln des magischen Realismus nicht nur zu einer Selbst­be­freiung von Prabha führt, sondern auch ihren Blick auf ihre Freundin Anu verändert, die sich auf ein Liebes­ver­hältnis mit einem jungen Muslimen einge­lassen hat. Bei einem zweiten Blick fällt jedoch nicht nur der leicht­sin­nige Umgang mit musli­mi­schen Stereo­typen auf, die über die „Verklei­dungs­se­quenz“ repro­du­ziert werden, sondern ein fast schon erschüt­ternd-naives Happy End, das es in dem seit zehn Jahren von Narendra Modi zunehmend national-hindu­is­tisch geführten Indien so nie und nimmer gebe, Zauber­wald hin oder Zauber­wald her. Doch wie im irani­schen Kino, muss man inzwi­schen auch im indischen Kino erfin­de­risch sein, um sich nicht zu gefährden. Und auch der große Erfolg des indischen Films bei der Oscar-Verlei­hung 2023, als Naatu Naatu aus RRR – Rise Roar Revolt als bester Origi­nal­song den Oscar erhielt, ist ange­sichts des natio­na­lis­ti­schen Grundtons von RRR eher unheim­lich, wäscht doch hier erneut der westliche Blick ein System rein, dass es nicht verdient hat, rein­ge­wa­schen zu werden.

Doch warum soll die Kultur­po­litik als Sünden­bock herhalten, wenn schon die Alltags­po­litik mit Scheu­klappen nach Indien reist, wie Ende Oktober 2024 die deutsche Regie­rungs­mann­schaft, um die so wichtigen Wirt­schafts­be­zie­hungen mit Indien zu stärken? Über den „Crackdown“ auf auslän­di­sche Jour­na­listen, die das Reuters Institut im November diesen Jahres zusam­men­fasste, und unter dem schon seit Jahren indische Jour­na­listen und Schrift­steller leiden, fiel natürlich genauso wenig ein Wort, wie über den rapiden Absturz Indiens im inter­na­tio­nalen Ranking der Pres­se­frei­heit, wo es seit 2017 stetig bergab ging und Indien inzwi­schen auf Platz 159 (von 180) rangiert. Das liegt natürlich nicht nur an den 50 in den letzten zwei Jahr­zehnten getöteten Jour­na­listen im Land.

Ein weiteres, sehr trauriges Beispiel dieser repres­siven (Kultur-) Politik ist eines der diver­sesten, aufre­gendsten Film­fes­ti­vals des Landes, das Kolkata Inter­na­tional Film Festival, das dieses Jahr vom 4.-11. Dezember stattfand. Da Kolkata in West­ben­galen liegt und sich aus kolo­nialer Tradition („Kalkutta“ war die Haupt­stadt des briti­schen-indischen Protek­to­rats) auch als Kultur­haupt­stadt versteht und über das benga­lisch-sprachige Kultur­ver­s­tändnis auch Bangla­desch diesem Kultur­raum angehörig ist, war es stets selbst­ver­s­tänd­lich, dass benga­li­sche Filme aus Bangla­desch Teil der Program­mie­rung sind. Doch nicht nur diese Selbst­ver­s­tänd­lich­keit wurde dieses Jahr zentral­staat­lich unter­bunden, sondern auch die Visa­ver­gabe für deutsche, iranische und chine­si­sche Regis­seure. Aber auch jour­na­lis­ti­sche Stimmen wurden ausge­schlossen, so wie der Autor dieser Zeilen, der als Mitglied der FIPRESCI-Jury nach Kolkata einge­laden war und ebenfalls das früher selbst­ver­s­tänd­liche Visum zur Einreise nicht erhalten hat und die Sichtung der Filme wie in Corona-Zeiten online vornehmen musste.

Als vager Hoff­nungs­schimmer mag immerhin gelten, dass diese Vorkomm­nisse noch in der indischen Presse erwähnt werden dürfen, doch ob das ange­sichts der zunehmend wich­ti­geren Rolle Indiens in der Welt­po­litik noch im nächsten Jahr der Fall sein wird, darf bezwei­felt werden. Denn wie Prabha am Ende von All We Imagine as Light erkennt, reicht es nicht, in der Dunkel­heit fest­zu­ste­cken und sich das Licht vorzu­stellen. Man muss vielmehr die Dunkel­heit sehen und einge­stehen, um sie hinter sich zu lassen und einen Neuanfang bei Tages­licht zu garan­tieren.