Cinema Moralia – Folge 342
»Wir müssen uns fragen, für welche Zukunft wir sparen« |
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Good Bye, Wolfgang Becker! | ||
(Foto: X-Verleih) |
»Erst die Künstler haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber will.«
Friedrich Nietzsche: »Die fröhliche Wissenschaft«
»Das ist doch bestenfalls ein Fernsehfilm!« – so reagierten die Kollegen in Wolfgang Beckers eigener Produktionsfirna X-Filme zuerst auf seine Idee zu Good Bye, Lenin!. Es sollte sein größter Erfolg werden, und einmal mehr die Rettung für die Berliner Firma, zu deren Gründern er gehörte, eine europäische und über Europas Grenzen hinausreichende Erfolgsstory. Der seltene Fall einer
Komödie, die zugleich intelligent ist; einer deutschen Komödie, die man erwachsen nennen kann, die das Publikum nicht durch Infantilität beleidigt, die kaum regressiv ist und subtil ins Unterbewusste einer ganzen Nation – nicht etwa nur der ostdeutschen – hineinfasst.
Ob dies sein bester Film ist? Ich weiß es nicht, ich glaube in der Erinnerung, dass Das Leben ist eine Baustelle,
ebenfalls auf seine Art eine Komödie, aber doch etwas mehr, sowohl der noch etwas bessere Film ist, als auch der Film, der vielleicht am besten den Ton eines möglichen deutschen Kinos getroffen hat. Eines deutschen Kinos, das nie geworden ist, sondern immer nur Entwurf blieb, Skizze in diesem und einigen wenigen anderen Filmen.
Der Ton Wolfgang Beckers, der seiner Filme, der aber mit dem des Menschen ziemlich identisch war, wird mir am meisten in Erinnerung bleiben. Dieser Ton hat einen glücklich machen können, beim Zusehen im Kino und bei kurzen Treffen mit dem Regisseur, eher Begegnungen auf Filmpremieren, vor allem in Berlin. Richtig verabredet haben wir uns nie und eine echte Gesprächsgrundlage hatten wir glaube ich auch nicht. Dafür waren die Temperamente zu verschieden, im Gegensatz zu anderen aus Berlin und anderswo. So habe ich weder zu seinen Filmen, noch zu ihm selbst ein enges Verhältnis gehabt.
Aber wenn man sich mal begegnete, dann war da immer eine respektvolle Art, die besonders hervortrat, wenn man sich leidenschaftlich stritt. Was nicht selten vorkam – etwa über die neuesten Kommentare im Rundfunk oder hier im »Cinema Moralia«, die Becker meistens zu hart, zu grob, grundsätzlich zu negativ fand. Noch mehr als über meine Texte ging es aber über manche Kollegen.
Von ihm, der fast alles gelesen, gehört und in sich reingefressen hat, konnte man – überraschenderweise! – Streitkultur lernen und Streitlust, die für ihn zusammenhingen.
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Ob er Filmkritiker und die Filmkritik auch dann gemocht hat, wenn sie seine Filme nicht, wie so oft, vor allem am Anfang, lobten, wenn sie differenzierten, wenn sie außer Gefühlen und Leidenschaft auch Intellektualität zeigten, das wage ich nicht zu beurteilen. Ich fürchte nein. Aber er hat uns gelesen und auch vor Filmkritikern immer menschlichen Respekt gehabt – was keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, nicht nur für Regisseure.
In einem Gespräch vor fünf Jahren blickte Becker auf Good Bye, Lenin! zurück und zeigt ganz offen seine nachhaltige Verletzung über die Kritiken zum Film während der Berlinale, insbesondere in der »Berliner Zeitung«. Auch hier zeigt sich nochmal eine gewisse Rechthaberei und ein Nicht-Verstehen (wollen?), dessen, was Filmkritik eigentlich tut, tun will und tun kann.
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Noch mehr als Filme zu machen hat Wolfgang Becker es geliebt, zu leben. Das konnte er dann allein schon vom Good Bye, Lenin!-Erfolg. Und so konnte man ihm mehr als am Set in Berliner Lokalen begegnen, vor allem in Kreuzberg und um die Oranienburger Straße und das Kottbusser Tor.
Hier waren seine Stammkneipen, hier machte er seine Projekte für neue Filme, derer es viele gab. Denn nach Good Bye, Lenin! erwarteten alle von ihm einen ähnlichen Erfolg gleich hinterher; er selber wohl am meisten – doch gleichzeitig mischten sich in diese Erwartungen und den Druck, den er, so scheint mir, sich selber gemacht hat, auch ein Perfektionismus, der das Fertigstellen eher verhinderte und eine Bequemlichkeit, eben die Liebe zum Leben und zum nächsten schönen Abend mit Freunden, und zum nächsten Glas Rotwein, die noch wichtiger waren, als die Liebe zum nächsten Film und zur eigenen Filmografie.
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Irgendwann war Becker dann ein Gefangener seines Mega-Erfolgs und der Fertigstellungsblockade geworden, die dazu führte, dass er außer drei Kurzfilmen nur noch einen Spielfilm beendete: Ich und Kaminski 2015 nach Daniel Kehlmanns Roman.
Für jüngere Filmemacher, vor allem männliche, war Wolfgang Becker trotzdem eine Inspiration, ein guter Partner und Kumpel. Er war anstrengend, er war laut, er konnte manchmal auch unerträglich sein, aber er hatte – wie man so sagt – das Herz am richtigen Fleck. Einige muss man namentlich nennen: Jan Ole Gerster, MX Oberg und Achim von Borries, der ihm, der damals schon schwer krank war, bei seinem letzten, knapp fertiggestellten Film zur Hand ging.
Oder für Daniel Brühl, der vielleicht ihm seine Weltkarriere zu verdanken hat, und der sich in der »SZ« mit einem bewegenden Gastbeitrag verabschiedete.
Man stirbt immer zu früh, aber wenn einer wie er mit gerade mal 70 Jahren stirbt, ist es auf alle Fälle viel zu früh. Good Bye, Wolfgang Becker!
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»Alles musste stimmen, bevor er einen Film an Angriff nahm. Doch wann stimmt schon alles, gerade in Deutschland, wo man immer wieder improvisieren muss, wenn man dreht?«
Lars-Olav Beier im »Spiegel« zu Wolfgang Beckers Tod.
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Glückliches Frankreich! Ein Weihnachtsbesuch bei den französischen Nachbarn ist auch eine gute Gelegenheit, ins Kino zu gehen, französische Filmzeitschriften zu lesen, und sich etwas gründlicher mit der Lage des hiesigen Kinos zu beschäftigen.
Man kann es eigentlich nicht fassen, denn das französische und das deutsche Kino sind zwei Universen, die zwei extremen Enden der recht diversen europäischen Filmlandschaft.
Im Mai, als wir in Cannes waren, war noch von einer »französischen Kinokrise« die Rede gewesen, davon dass es in Zukunft weniger Autorenfilme geben würde – und wenn Deutsche das sagen, klingt es immer auch wie ein Hauch von Triumph, wie die klammheimliche Freude, dass es in Frankreich jetzt endlich auch so schlecht läuft, wie immer schon in Deutschland. Anstatt, dass man vom Nachbarn etwas lernen würde. Zum Beispiel, wie es besser geht. Aber nein! Dann müsste man am Ende ja noch etwas in Deutschland grundsätzlich ändern. Und das will der träge deutsche Michel um keinen Preis.
Jetzt ein gutes halbes Jahr später, sieht es schon wieder anders aus, wenn man auf die Lage in Frankreich blickt. Von Kinokrise ist in den jetzigen Jahresbilanzen keine Rede. Wie es mit dem Autorenfilm langfristig weitergeht, vor allem mit seinen jüngeren Vertretern, muss man vielleicht noch etwas abwarten.
Aber die Zahlen in Frankreich und somit auch die ökonomische Lage des französischen Kinos sind so, dass wir in Deutschland nur vor Neid erblassen können.
Das trifft im Jahr der zweiten Teile zunächst einmal die Hollywood-Filme: Was immer man von diesen Titeln im Einzelnen halten mag, aber ein Film wie Inside Out 2 hat in Frankreich 8,4 Millionen Besucher gefunden. Der Disney-Renner Moana 2 bekam 5 Millionen Besucher. 4,1 Millionen für Dune: Part Two sind da schon fast enttäuschend. Aber auch Tim Burtons Beetlejuice Beetlejuice lockte 1,7 Millionen Zuschauer in die französischen Kinos – phänomenale Zahlen. Joker 2: Folie À Deux bekam eine Million. Gladiator II 2,7 Millionen. Und die Goldene Palme dieses Jahres, Sean Bakers Independent-Crowd-Pleaser Anora, der noch in den französischen Kinos läuft, hat bislang immerhin 600.000 Kinoeintritte generieren können.
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Doch all das wird vom französischen Kino in den Schatten gestellt, und zwar mit einer bemerkenswerten Diversität der Genres und Filmstile. Das beweisen jene zehn französischen Filme, die in Frankreich auf den besten Plätzen liegen, und die teilweise in Deutschland überhaupt erst noch starten müssen – oder bislang keinen Verleih gefunden haben. An der Spitze der französischen Kinoeintritte steht Un p'tit truc en plus, eine Behindertenkomödie und ohne Frage ein Wohlfühlfilm im Gefolge von Intouchables, der versucht, das Rezept des Films zu wiederholen. In Frankreich sahen den Film tatsächlich 10.804.250 Zuschauer. Fast 11 Millionen!! Bei einer Bevölkerung von gut 60 Millionen, also über einem Viertel weniger Menschen als in
Deutschland.
Bei uns startete er am 5. September dieses Jahres unter dem Titel Was ist schon normal? und ging ziemlich unter. Vielleicht auch, weil man bei uns keine Witze über Behinderte macht, kamen nur 175.000 Zuschauer in diesen Film.
Der zweitbeste französische Film ist mit knapp unter 10 Millionen die xte Verfilmung des unsterblichen Klassikers »Der Graf von Monte Christo«, die auch in Deutschland im Frühjahr in die Kinos kommen wird, und bisher 9.345.566 Zuschauer bekam. An dritter Stelle der französischen Filme steht L’amour ouf, der »artechock«-Kollegin Dunja Bialas genauso wie mich am Ende des Wettbewerbs von Cannes begeisterte, auch wenn alle anderen deutschen Kritiker ziemlich ungnädig auf diesen virtuosen Liebesfilm im Geiste Jacques Demys reagierten. Der Film bekam bislang 4.657.816 Zuschauer, und zwar vor allem bei jungen Erwachsenen, also der gefragtesten Zielgruppe. An vierter Stelle mit 1.070.000 Zuschauern steht gerade Emilia Pérez der kürzlich auch bei uns gestartet ist. Drei weitere französische Filme bekommen deutlich über 500.000 Zuschauer und unter allen diesen französischen Filmen kein einziger Kinderfilm und keine einzige infantile Deppenkomödie.
Zum Vergleich: Der erfolgreichste Filmstart in Deutschland 2024 ist Inside Out 2 mit 5,7 Millionen. Auch alle anderen oben genannten Filme laufen in Deutschland schlechter als in Frankreich, teilweise signifikant schlechter, wie bei Insidekino nachzuprüfen.
Der beste deutsche Film hat 2,9 Millionen Eintritte: Die Schule der magischen Tiere 3, dann folgt mit 2,7 Millionen Chantal im Märchenland und der weißgott nicht geglückte Eine Million Minuten mit 1,2 Millionen Eintritten.
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Das Kaputtsparen des derzeitigen Deutschlands trifft zuallererst die Kultur. Berlin ist auch in dieser Hinsicht ein Exempel für die ganze Gesellschaft.
Es lohnt sich, sich dazu die engagierte, leidenschaftlich-verzweifelte Ansprache der Dirigentin Johanna Malwitz anzuschauen, zu der sie sich kürzlich vor einem Konzert genötigt sah: »Die Zeit, in der wir Kunst nicht nur als Einzelne, sondern als Gesellschaft bitter nötig haben, ist jetzt! ... Wir müssen uns fragen, für welche Zukunft wir sparen?«
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Vor der Frankreichreise stand noch ein Weihnachtseinkauf in der deutschen Hauptstadt. Wo geht man hin? Natürlich ins KaDeWe, das Aushängeschild, die Bau gewordene Wiederkehr des alten Berlin der 20er und 30er Jahre. Eine Fernsehserie ist das KaDeWe wert, aber nicht die Investitionen von deutschen Firmen.
Bei der Suche nach Weihnachtskerzen finde ich dort nur armdicke Duftkerzen für die nächste Yoga-Session, wahlweise Lila und Orange. Eine sehr nette Mitarbeiterin erklärt mir auf Nachfrage: »Wir sind froh, dass wir überhaupt noch Kerzen haben, aber wenn sie was Normales suchen... haben Sie schon bei dm oder bei Rossmann geguckt? Das kommt ja durch die ganze Misere.«
Die ganze Misere, die sie meint, hat einen Namen: Nikolaus Berggrün, der das KaDeWe ausgenommen hat wie eine
Weihnachtsgans und dann die leergelutschte Haut verkauft hat. Und in dieser leergelutschten KaDeWe-Haut tummeln sich jetzt lauter kleine und mittelgroße Firmen, denen es auch nicht allen gut geht. Und Luxusmarken wie zum Beispiel Hermès. Die verkaufen dann hier ihr schönes klassisches Herren-Parfum »Equipage« im Preis fast doppelt so hoch, wie es in verschiedenen seriösen Portalen im Netz zu haben ist.
Warum also sollte man noch im KaDeWe kaufen? Wegen des Einkaufserlebnisses vielleicht? Nun ja. Das Einkaufserlebnis KaDeWe besteht vor allem daraus, dass man sich dicht an dicht an irgendwelche unbekannten Menschen tummelt, oder dass man in der Schlange eine halbe Stunde ansteht, um mal bei bestimmten modischen Händlern einkaufen zu dürfen.
Um Ökonomie und Konsum steht es in Deutschland also auch nicht besser als um die Kultur.
(to be continued)