26.12.2024
Cinema Moralia – Folge 342

»Wir müssen uns fragen, für welche Zukunft wir sparen«

Good Bye, Lenin
Good Bye, Wolfgang Becker!
(Foto: X-Verleih)

Als wir träumten: Die beneidenswerte Lage des französischen Kinos im Jahr der zweiten Teile, und Erinnerungen an Wolfgang Becker – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 342. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Erst die Künstler haben den Menschen Augen und Ohren einge­setzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber will.«
Friedrich Nietzsche: »Die fröhliche Wissen­schaft«

»Das ist doch besten­falls ein Fern­seh­film!« – so reagierten die Kollegen in Wolfgang Beckers eigener Produk­ti­ons­firna X-Filme zuerst auf seine Idee zu Good Bye, Lenin!. Es sollte sein größter Erfolg werden, und einmal mehr die Rettung für die Berliner Firma, zu deren Gründern er gehörte, eine europäi­sche und über Europas Grenzen hinaus­rei­chende Erfolgs­story. Der seltene Fall einer Komödie, die zugleich intel­li­gent ist; einer deutschen Komödie, die man erwachsen nennen kann, die das Publikum nicht durch Infan­ti­lität beleidigt, die kaum regressiv ist und subtil ins Unter­be­wusste einer ganzen Nation – nicht etwa nur der ostdeut­schen – hinein­fasst.
Ob dies sein bester Film ist? Ich weiß es nicht, ich glaube in der Erin­ne­rung, dass Das Leben ist eine Baustelle, ebenfalls auf seine Art eine Komödie, aber doch etwas mehr, sowohl der noch etwas bessere Film ist, als auch der Film, der viel­leicht am besten den Ton eines möglichen deutschen Kinos getroffen hat. Eines deutschen Kinos, das nie geworden ist, sondern immer nur Entwurf blieb, Skizze in diesem und einigen wenigen anderen Filmen.

Der Ton Wolfgang Beckers, der seiner Filme, der aber mit dem des Menschen ziemlich identisch war, wird mir am meisten in Erin­ne­rung bleiben. Dieser Ton hat einen glücklich machen können, beim Zusehen im Kino und bei kurzen Treffen mit dem Regisseur, eher Begeg­nungen auf Film­pre­mieren, vor allem in Berlin. Richtig verab­redet haben wir uns nie und eine echte Gesprächs­grund­lage hatten wir glaube ich auch nicht. Dafür waren die Tempe­ra­mente zu verschieden, im Gegensatz zu anderen aus Berlin und anderswo. So habe ich weder zu seinen Filmen, noch zu ihm selbst ein enges Verhältnis gehabt.

Aber wenn man sich mal begegnete, dann war da immer eine respekt­volle Art, die besonders hervor­trat, wenn man sich leiden­schaft­lich stritt. Was nicht selten vorkam – etwa über die neuesten Kommen­tare im Rundfunk oder hier im »Cinema Moralia«, die Becker meistens zu hart, zu grob, grund­sätz­lich zu negativ fand. Noch mehr als über meine Texte ging es aber über manche Kollegen.

Von ihm, der fast alles gelesen, gehört und in sich rein­ge­fressen hat, konnte man – über­ra­schen­der­weise! – Streit­kultur lernen und Streit­lust, die für ihn zusam­men­hingen.

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Ob er Film­kri­tiker und die Film­kritik auch dann gemocht hat, wenn sie seine Filme nicht, wie so oft, vor allem am Anfang, lobten, wenn sie diffe­ren­zierten, wenn sie außer Gefühlen und Leiden­schaft auch Intel­lek­tua­lität zeigten, das wage ich nicht zu beur­teilen. Ich fürchte nein. Aber er hat uns gelesen und auch vor Film­kri­ti­kern immer mensch­li­chen Respekt gehabt – was keines­wegs eine Selbst­ver­s­tänd­lich­keit ist, nicht nur für Regis­seure.

In einem Gespräch vor fünf Jahren blickte Becker auf Good Bye, Lenin! zurück und zeigt ganz offen seine nach­hal­tige Verlet­zung über die Kritiken zum Film während der Berlinale, insbe­son­dere in der »Berliner Zeitung«. Auch hier zeigt sich nochmal eine gewisse Recht­ha­berei und ein Nicht-Verstehen (wollen?), dessen, was Film­kritik eigent­lich tut, tun will und tun kann.

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Noch mehr als Filme zu machen hat Wolfgang Becker es geliebt, zu leben. Das konnte er dann allein schon vom Good Bye, Lenin!-Erfolg. Und so konnte man ihm mehr als am Set in Berliner Lokalen begegnen, vor allem in Kreuzberg und um die Orani­en­burger Straße und das Kott­busser Tor.

Hier waren seine Stamm­kneipen, hier machte er seine Projekte für neue Filme, derer es viele gab. Denn nach Good Bye, Lenin! erwar­teten alle von ihm einen ähnlichen Erfolg gleich hinterher; er selber wohl am meisten – doch gleich­zeitig mischten sich in diese Erwar­tungen und den Druck, den er, so scheint mir, sich selber gemacht hat, auch ein Perfek­tio­nismus, der das Fertig­stellen eher verhin­derte und eine Bequem­lich­keit, eben die Liebe zum Leben und zum nächsten schönen Abend mit Freunden, und zum nächsten Glas Rotwein, die noch wichtiger waren, als die Liebe zum nächsten Film und zur eigenen Filmo­grafie.

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Irgend­wann war Becker dann ein Gefan­gener seines Mega-Erfolgs und der Fertig­stel­lungs­blo­ckade geworden, die dazu führte, dass er außer drei Kurz­filmen nur noch einen Spielfilm beendete: Ich und Kaminski 2015 nach Daniel Kehlmanns Roman.

Für jüngere Filme­ma­cher, vor allem männliche, war Wolfgang Becker trotzdem eine Inspi­ra­tion, ein guter Partner und Kumpel. Er war anstren­gend, er war laut, er konnte manchmal auch uner­träg­lich sein, aber er hatte – wie man so sagt – das Herz am richtigen Fleck. Einige muss man nament­lich nennen: Jan Ole Gerster, MX Oberg und Achim von Borries, der ihm, der damals schon schwer krank war, bei seinem letzten, knapp fertig­ge­stellten Film zur Hand ging.

Oder für Daniel Brühl, der viel­leicht ihm seine Welt­kar­riere zu verdanken hat, und der sich in der »SZ« mit einem bewe­genden Gast­bei­trag verab­schie­dete.

Man stirbt immer zu früh, aber wenn einer wie er mit gerade mal 70 Jahren stirbt, ist es auf alle Fälle viel zu früh. Good Bye, Wolfgang Becker!

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»Alles musste stimmen, bevor er einen Film an Angriff nahm. Doch wann stimmt schon alles, gerade in Deutsch­land, wo man immer wieder impro­vi­sieren muss, wenn man dreht?«
Lars-Olav Beier im »Spiegel« zu Wolfgang Beckers Tod.

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Glück­li­ches Frank­reich! Ein Weih­nachts­be­such bei den fran­zö­si­schen Nachbarn ist auch eine gute Gele­gen­heit, ins Kino zu gehen, fran­zö­si­sche Film­zeit­schriften zu lesen, und sich etwas gründ­li­cher mit der Lage des hiesigen Kinos zu beschäf­tigen.
Man kann es eigent­lich nicht fassen, denn das fran­zö­si­sche und das deutsche Kino sind zwei Universen, die zwei extremen Enden der recht diversen europäi­schen Film­land­schaft.

Im Mai, als wir in Cannes waren, war noch von einer »fran­zö­si­schen Kinokrise« die Rede gewesen, davon dass es in Zukunft weniger Autoren­filme geben würde – und wenn Deutsche das sagen, klingt es immer auch wie ein Hauch von Triumph, wie die klamm­heim­liche Freude, dass es in Frank­reich jetzt endlich auch so schlecht läuft, wie immer schon in Deutsch­land. Anstatt, dass man vom Nachbarn etwas lernen würde. Zum Beispiel, wie es besser geht. Aber nein! Dann müsste man am Ende ja noch etwas in Deutsch­land grund­sätz­lich ändern. Und das will der träge deutsche Michel um keinen Preis.

Jetzt ein gutes halbes Jahr später, sieht es schon wieder anders aus, wenn man auf die Lage in Frank­reich blickt. Von Kinokrise ist in den jetzigen Jahres­bi­lanzen keine Rede. Wie es mit dem Autoren­film lang­fristig weiter­geht, vor allem mit seinen jüngeren Vertre­tern, muss man viel­leicht noch etwas abwarten.
Aber die Zahlen in Frank­reich und somit auch die ökono­mi­sche Lage des fran­zö­si­schen Kinos sind so, dass wir in Deutsch­land nur vor Neid erblassen können.

Das trifft im Jahr der zweiten Teile zunächst einmal die Hollywood-Filme: Was immer man von diesen Titeln im Einzelnen halten mag, aber ein Film wie Inside Out 2 hat in Frank­reich 8,4 Millionen Besucher gefunden. Der Disney-Renner Moana 2 bekam 5 Millionen Besucher. 4,1 Millionen für Dune: Part Two sind da schon fast enttäu­schend. Aber auch Tim Burtons Beet­le­juice Beet­le­juice lockte 1,7 Millionen Zuschauer in die fran­zö­si­schen Kinos – phäno­me­nale Zahlen. Joker 2: Folie À Deux bekam eine Million. Gladiator II 2,7 Millionen. Und die Goldene Palme dieses Jahres, Sean Bakers Inde­pen­dent-Crowd-Pleaser Anora, der noch in den fran­zö­si­schen Kinos läuft, hat bislang immerhin 600.000 Kino­ein­tritte gene­rieren können.

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Doch all das wird vom fran­zö­si­schen Kino in den Schatten gestellt, und zwar mit einer bemer­kens­werten Diver­sität der Genres und Filmstile. Das beweisen jene zehn fran­zö­si­schen Filme, die in Frank­reich auf den besten Plätzen liegen, und die teilweise in Deutsch­land überhaupt erst noch starten müssen – oder bislang keinen Verleih gefunden haben. An der Spitze der fran­zö­si­schen Kino­ein­tritte steht Un p'tit truc en plus, eine Behin­der­ten­komödie und ohne Frage ein Wohl­fühl­film im Gefolge von Intouch­a­bles, der versucht, das Rezept des Films zu wieder­holen. In Frank­reich sahen den Film tatsäch­lich 10.804.250 Zuschauer. Fast 11 Millionen!! Bei einer Bevöl­ke­rung von gut 60 Millionen, also über einem Viertel weniger Menschen als in Deutsch­land.
Bei uns startete er am 5. September dieses Jahres unter dem Titel Was ist schon normal? und ging ziemlich unter. Viel­leicht auch, weil man bei uns keine Witze über Behin­derte macht, kamen nur 175.000 Zuschauer in diesen Film.

Der zweit­beste fran­zö­si­sche Film ist mit knapp unter 10 Millionen die xte Verfil­mung des unsterb­li­chen Klas­si­kers »Der Graf von Monte Christo«, die auch in Deutsch­land im Frühjahr in die Kinos kommen wird, und bisher 9.345.566 Zuschauer bekam. An dritter Stelle der fran­zö­si­schen Filme steht L’amour ouf, der »artechock«-Kollegin Dunja Bialas genauso wie mich am Ende des Wett­be­werbs von Cannes begeis­terte, auch wenn alle anderen deutschen Kritiker ziemlich ungnädig auf diesen virtuosen Liebes­film im Geiste Jacques Demys reagierten. Der Film bekam bislang 4.657.816 Zuschauer, und zwar vor allem bei jungen Erwach­senen, also der gefrag­testen Ziel­gruppe. An vierter Stelle mit 1.070.000 Zuschauern steht gerade Emilia Pérez der kürzlich auch bei uns gestartet ist. Drei weitere fran­zö­si­sche Filme bekommen deutlich über 500.000 Zuschauer und unter allen diesen fran­zö­si­schen Filmen kein einziger Kinder­film und keine einzige infantile Deppen­komödie.

Zum Vergleich: Der erfolg­reichste Filmstart in Deutsch­land 2024 ist Inside Out 2 mit 5,7 Millionen. Auch alle anderen oben genannten Filme laufen in Deutsch­land schlechter als in Frank­reich, teilweise signi­fi­kant schlechter, wie bei Insi­de­kino nach­zu­prüfen.

Der beste deutsche Film hat 2,9 Millionen Eintritte: Die Schule der magischen Tiere 3, dann folgt mit 2,7 Millionen Chantal im Märchen­land und der weißgott nicht geglückte Eine Million Minuten mit 1,2 Millionen Eintritten.

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Das Kaputt­sparen des derzei­tigen Deutsch­lands trifft zual­ler­erst die Kultur. Berlin ist auch in dieser Hinsicht ein Exempel für die ganze Gesell­schaft.

Es lohnt sich, sich dazu die enga­gierte, leiden­schaft­lich-verzwei­felte Ansprache der Diri­gentin Johanna Malwitz anzu­schauen, zu der sie sich kürzlich vor einem Konzert genötigt sah: »Die Zeit, in der wir Kunst nicht nur als Einzelne, sondern als Gesell­schaft bitter nötig haben, ist jetzt! ... Wir müssen uns fragen, für welche Zukunft wir sparen?«

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Vor der Frank­reich­reise stand noch ein Weih­nachts­ein­kauf in der deutschen Haupt­stadt. Wo geht man hin? Natürlich ins KaDeWe, das Aushän­ge­schild, die Bau gewordene Wieder­kehr des alten Berlin der 20er und 30er Jahre. Eine Fern­seh­serie ist das KaDeWe wert, aber nicht die Inves­ti­tionen von deutschen Firmen.

Bei der Suche nach Weih­nachts­kerzen finde ich dort nur armdicke Duft­kerzen für die nächste Yoga-Session, wahlweise Lila und Orange. Eine sehr nette Mitar­bei­terin erklärt mir auf Nachfrage: »Wir sind froh, dass wir überhaupt noch Kerzen haben, aber wenn sie was Normales suchen... haben Sie schon bei dm oder bei Rossmann geguckt? Das kommt ja durch die ganze Misere.«
Die ganze Misere, die sie meint, hat einen Namen: Nikolaus Berggrün, der das KaDeWe ausge­nommen hat wie eine Weih­nachts­gans und dann die leer­ge­lutschte Haut verkauft hat. Und in dieser leer­ge­lutschten KaDeWe-Haut tummeln sich jetzt lauter kleine und mittel­große Firmen, denen es auch nicht allen gut geht. Und Luxus­marken wie zum Beispiel Hermès. Die verkaufen dann hier ihr schönes klas­si­sches Herren-Parfum »Equipage« im Preis fast doppelt so hoch, wie es in verschie­denen seriösen Portalen im Netz zu haben ist.

Warum also sollte man noch im KaDeWe kaufen? Wegen des Einkaufs­er­leb­nisses viel­leicht? Nun ja. Das Einkaufs­er­lebnis KaDeWe besteht vor allem daraus, dass man sich dicht an dicht an irgend­welche unbe­kannten Menschen tummelt, oder dass man in der Schlange eine halbe Stunde ansteht, um mal bei bestimmten modischen Händlern einkaufen zu dürfen.

Um Ökonomie und Konsum steht es in Deutsch­land also auch nicht besser als um die Kultur.

(to be continued)