13.02.2025
75. Berlinale 2025

Kurzkritiken

Berlinale

Kurz und gut: Spots auf die Filme aus allen Berlinale-Sektionen (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

Ari (FR, BE 2025 · R: Léonor Serraille · Wett­be­werb)

Ari
(Foto: Berlinale | Léonor Serraille)

Das bürger­liche Glück. Der Film folgt dem titel­ge­benden Prot­ago­nisten – einem Statio­nen­drama gleich – auf seiner betu­li­chen Odyssey durch Frank­reich. Er gibt seinen Beruf als Grund­schul­lehrer auf, kämpft mit vagen psychi­schen Problemen. Als ihn sein Vater enttäuscht vor die Tür setzt, wendet er sich an alte Freunde, verges­sene Konflikte brodeln hoch, ebenso vertraute, trostsame Gefühle.
Diese subjek­tive Auslegung wird formal unter­s­tützt, die wackelige Hand­ka­mera bewegt sich stets nah an den Gesich­tern. Das gefällt zunächst, zumal die Begeg­nungen angenehm undif­fe­ren­ziert ausfallen, Klas­sen­un­ter­schiede und konträre Lebens­phi­lo­so­phien aufzeigen. Leider wird dieser diskur­sive Stil bald fallen­ge­lassen, ergibt sich in verein­fa­chenden Symbo­liken und kommt zum lang­wei­ligsten aller Schlüsse: Zum Glück genügt ein Kind, die eigene Wohnung, das richtige »Mindset« – jeder kann es schaffen. Wie erbaulich… – Benedikt Gunten­taler

Family Matters. Sie könnte eine Schwester Dardenne sein, nah, durch­drin­gend und mit flir­rendem Blick klarer 35mm-Bilder. Léonor Serraille erzählt in ihrem dritten Spielfilm zuerst einmal vom drohenden sozialen Abstieg im Norden von Frank­reich. Ari, ein sensibler junger Mann, quittiert den Schul­dienst, noch bevor er ihn überhaupt richtig begonnen hatte. Der Vater, ein Maler­meister, setzt ihn vor die Tür. Obdachlos macht Ari Station bei seinen arbeits­scheuen Freunden und verhan­delt mit ihnen die Herkunft, die Lebens­ziele und überhaupt den Lifestyle. Ari wird deutlich als leidende Jesus­figur insze­niert, die abge­ma­gert das Herz in den Händen trägt. Der schlin­gernde Abwärts­trend von Ari wird jedoch wie aus dem Nichts aufge­halten, als ein Kind auftaucht (wie die Jungfrau zum Kinde…). Erlösung folgt und mit ihr eine äußerst schlichte Lösung, wo der Blick auf die Klas­sen­un­ter­schiede doch unendlich viel span­nender war. – Dunja Bialas

Baksho Bondi (IND, FR, USA, ES, 2025 · Tanushree Das, Saum­y­a­nanda Sahi · Perspec­tives)

Husbands are best when the are dead. Oder doch nicht? Denn das gleiche könnte in diesem inten­siven Drama in einem Vorort Kolkatas auch für den Poli­zei­ap­parat und Familien, Nachbarn und Männer aller Art gelten. Das und Sahi zeigen ein von zermür­benden Hier­ar­chien geprägtes Indien, in dem alles und jeder an seinem ange­stammten Platz verharrt und der Alltag ein steter Über­le­bens­kampf ist, in dem die Männer aller­dings ein besonders trauriges Bild abgeben. Aufbe­gehren wie das von der groß­ar­tigen von Tilotama Shome verkör­perten Maya irritiert, ist gefähr­lich und wird nicht nur verbal in die Schranken gewiesen. Wie Payal Kapadia in All We Imagine as Light entscheiden sich auch Das und Dahin in Baksho für ein versöhn­li­ches Ende, das hier – in einer wunder­schönen Schluss­ein­stel­lung – aller­dings stimmiger, realis­ti­scher ist. – Axel Timo Purr

Batim (Houses) (Israel, DE 2025 · Nicole Tetelbaum · Forum)

Poeti­sches Schwarz­weiß, ein berüh­render Debütfilm. Sasha, ist ein nicht-binäres Indi­vi­duum, die in den 1990er Jahren in die Sowjet­union emigrierte. Ursprüng­lich ist sie in Israel aufge­wachsen. Dorthin zurück­keh­rend, sucht sie die Häuser auf, in denen sie einst groß geworden ist. Begeg­nungen mit ihrem totge­glaubten Fami­li­en­hund, alte Videos und expres­sive Tage­buch­ein­träge rufen verdrängte Blicke in die Vergan­gen­heit hervor. In dieser israe­lisch-deutschen Produk­tion erschafft Nicole Tetelbaum durch ihre poeti­schen Bilder und ihr entschleu­ni­gendes Erzähl­tempo einen inten­siven Zugang zu Sashas Erin­ne­rungen. Hierbei wird nicht nur das Gefühl eines Zuhauses erkundet, sondern auch die Rolle des Körpers, der Sprache und schließ­lich das Verändern des eigenen indi­vi­du­ellen Narrativs. – Stella Kluge

Blue Moon (USA, IE 2025 · R: Richard Linklater · Wett­be­werb)

Närrisch-narziss­tisch-narko­ti­sche Nerven­säge. Für Freunde des klas­si­schen ameri­ka­ni­schen Musicals mag Richard Link­la­ters Geschichte über den Song­writer Lorenz Hart, dessen bishe­riges Leben während der Premie­ren­feier für das Musical »Oklahoma!«, mit dem sein ehema­liger Partner, der Komponist Richard Rodgers, seinen bis dahin größten Erfolg feiert, Bedeutung haben. Name- und Musi­caldrop­ping ohne Ende, schlüpf­rige, dem Zeit­ko­lorit des Jahres 1943 ange­mes­sene Alther­ren­witze und mit Ethan Hawke als Lorenz Hart eine großartig performte, aber kaum zu ertra­gende selbst­ge­rechte, wehlei­dige, egoma­ni­sche, entsetz­lich lang­wei­lige Nerven­säge im Zentrum, der man den frühen Lungen­ent­zün­dungstod noch viel früher im Film wünscht. Statt­dessen muss man einen langen, mono­lo­gi­schen, nost­al­gie­be­flis­senen Abend durch­stehen. – Axel Timo Purr

Einsam stirbt der Roman­tiker. Zumindest in Blue Moon, der in Echtzeit die Premie­ren­feier des Musicals »Oklahoma!« begleitet. Für den Endvier­ziger Lorenz Hart (Ethan Hawke) turbu­lente 100 Minuten, vermi­schen sich darin doch karrie­ris­ti­sche Tief­schläge mit roman­ti­schen Hoff­nungen. Er hat sich in die 20-jährige Studentin Elizabeth (Margaret Qualley) verliebt, will sie nun endlich für sich gewinnen. Hawke trägt den gesamten Film, schießt als narziss­ti­sche, tragische Quas­sel­strippe von Gespräch zu Gespräch, hört sich selbst dabei am liebsten zu. Lange Zeit nervt das, ist zwar auf den Punkt geschrieben, doch zu kalku­liert, zu selbst­ver­liebt insze­niert. Erst wenn die Romanze Fahrt aufnimmt findet der Film wirklich zu sich, trans­for­miert den geschwät­zigen Hart in eine traurige Figur, die sich selbst am besten kennt. – Benedikt Gunten­taler

Bombam (Spring Night) (KOR 2024 · R: Kang Mi-ja · Forum)

Radikale Reduktion: der Figuren, des Plots, der Bilder. Nach diversen Schick­sals­schlägen widmet Yeong-gyeong ihr Leben nur noch dem Trinken, eine Figur, die aus einem der Gelage in den Filmen Hong Sang-soos heraus­ge­fallen zu scheint. Der an rheu­ma­ti­scher Arthrose leidende Su-hwan verliebt sich in sie und wohnt ihrer Sucht geduldig-duldend bei. Kein Misera­bi­lismus, sondern, ja, nüchterne Analyse eines 'odd couple'. Aber auch keine Beschö­ni­gung der Sucht: jedes Mal, wenn ihr Kopf voll­trunken auf der Tisch­platte aufschlägt, durch­zuckt es einen unwill­kür­lich. Eine zart-karge Poesie der Einfach­heit, die sich auch einem mehrfach rezi­tierten Gedicht Kim Soo-youngs verdankt. Gewiss ein Film, der einem etwas abver­langt. Doch in der Beschrän­kung öffnet sich eine neue Sicht, eine Hoffnung auf Neubeginn, viel­leicht… – Wolfgang Lasinger

A Complete Unknown (USA 2024 · R: James Mangold · Berlinale Special)

A Series of Dreams: James Mangold entwirft in seinem Bob Dylan-Biopic, das auf der Berlinale Deutsch­land-Premiere feiert, ein Porträt des Künstlers als junger Mann, ohne große Tiefen und voller Stereo­typen, aber immerhin den Mut hat, auch die dunklen Seiten Dylans zu zeigen. Es ist ein Film wie ein Traum­ge­bilde, eine Abfolge von Traum­mo­menten, Vorstel­lungen, wie diese kreative Zeit mit ihren kreativen Momenten damals war. Das hat durch das Tempo, das aufwändig und liebevoll insze­nierte Zeit­ko­lorit und das üppige Einspielen von Dylans Musik immer auch etwas von der flüch­tigen, sedie­renden Kraft von Youtube-Shorts oder Tiktok-Clips, ist aber gleich­zeitig auch ein fast schon ideales Werbe­format für eine Musik und eine Zeit, die mehr und mehr in Verges­sen­heit gerät. (-> Lang­kritik) – Axel Timo Purr

Den stygge stesøs­teren (The Ugly Step­sister) (NOR, POL, SWE, DNK 2025 · R: Emilie Blich­feldt · Panorama)

Ruckedigu, ruckedigu, sehr viel Blut ist im Schuh! Eine junge Frau zu sein war schon bei den Brüdern Grimm der pure (Body) Horror. Welch psychi­scher Druck es ist, die eigene Physis in Schön­heits­ideale zu zwängen, das bringt Emilie Blich­feldts Debut drastisch rüber. Sie erzählt »Aschen­puttel« aus Sicht der Stief­schwester, die sich die Zehen abschneidet, um ins legendäre Schuhwerk zu passen. Angenähte Wimpern­ver­län­ge­rung und orale Bandwurm-Extrak­tion inklusive. Der Film braucht diese Extreme aber auch, weil er sonst wenig zu bieten hat. Die Haupt­figur erhält keine Dimension außer ihrem absoluten Willen, dem Prinzen zu gefallen. Und Kostüm, Ausstat­tung plündern, weil Märchen!, den Fundus will­kür­lich nach allem zwischen 1700-1910. Was die histo­risch-soziale Gemacht­heit von Schön­heits­idealen tilgt. – Thomas Willmann

Das Licht (DE 2025 · R: Tom Tykwer · Berlinale Special Gala · Eröff­nungs­film · mit Lars Eidinger, Nicolette Krebitz)

Das Licht
(Foto: Berlinale | X-Verleih)

Esoterik meets Migration. Eine dysfunk­tio­nale Bohème-Patch­work­fa­milie aus dem Berliner Enga­gierten-Milieu trifft auf eine Syrerin mit trau­ma­ti­scher Vorge­schichte. Sie, hoch­ge­bildet, mehr­spra­chig, mit thera­peu­ti­schen Fähig­keiten, lässt sich bei der Familie als Haus­halts­kraft anstellen. Dort werden in virtu­ellen Flucht­räumen Eska­pismus aus der Realität zele­briert; während »das Licht«, eine Stro­bo­skop­licht aussen­dende Kris­tall­halb­kugel, neuro­lo­gisch indu­zierte Séancen mit den Geistern ermög­licht. In Tykwers dyspho­ri­scher, im Regen ertrin­kenden Gegenwart geht es um nichts weniger als die großen exis­ten­ti­ellen Frage­stel­lungen. Diese können nur mittels Meta­physik beant­wortet werden. Garniert wird das mit vielen Tykwer-Momenten, die an die gute alte Zeit des Regis­seurs erinnern (Lola rennt, Die tödliche Maria) und, Achtung, Musical-Einlagen. Denn: So hässlich böse ist die Welt dann doch nicht, sondern auch: unglaub­lich komisch. – Dunja Bialas

Dreams (MEX 2025 · R: Michel Franco · Wett­be­werb)

Rasier­mes­ser­scharf sezierter Amour fou: Jennifer, die für ihren mega­rei­chen Vater in San Francisco die Spenden für die Hoch-Kultur orga­ni­siert, liebt den mexi­ka­ni­schen Ballett­tänzer Fernando. Der reist illegal in die USA ein. Die leiden­schaft­liche Affäre reibt sich an der mexi­ka­nisch-ameri­ka­ni­schen Grenze und an den Distink­ti­ons­an­sprüchen der ameri­ka­ni­schen Upper­class auf. Michel Franco entfes­selt die zerstö­re­ri­schen Kräfte der Emotionen wie in den großen Tragödien der fran­zö­si­schen Klassik. Mit zwin­gender erzäh­le­ri­scher Ökonomie treibt er das Wech­selbad der Affekte bis zum Äußersten. Die Liebe steigert sich bis in Exzesse der Rachsucht hinein. – Wolfgang Lasinger

Migration als Vexier­spiel. Als Fernando aus dem mit Mexi­ka­nern voll­ge­pferchten Lkw aussteigen muss, weil die Polizei anrückt, und zu Fuß weiter­flieht, meinen wir eine klas­si­sche Migra­ti­ons­er­zäh­lung vor uns zu haben. Aus der Flucht wird jedoch eine Ankunft in San Francisco, in einer Villa mit bereit­ge­legtem Haus­tür­schlüssel. Dieses Kippspiel der Sicht­weisen trägt der Film in vielen Details und auf vielen Ebenen weiter. Die Annahme einer prekären Herkunft von Fernando, der sich als begna­deter Ballett­tänzer aus dem mexi­ka­ni­schen Bürgertum entpuppt, wird als Klischee entlarvt, die titel­ge­benden Träume sind nicht nur die Träume der Migranten, sondern auch der weißen Ober­schicht, die Gutes tun will und nach großen Gefühlen verlangt. Jessica Chastain und Isaac Hernández tanzen hier einen Pas de Deux der Leiden­schaften, nie gefeit vor den dunklen Abgründen des Bösen. – Dunja Bialas

Dreams in Night­mares (USA, Taiwan, UK, 2024 • Shatara Michelle Ford • Panorama)

Der ameri­ka­ni­sche Traum in Zeiten des Post­ka­pi­ta­lismus. Z lebt als schwarze Frau in einer poly­amorösen Beziehung in Los Angeles. Ihr Job wurde gekürzt, sie schafft es nicht, ihr Buch zu verwirk­li­chen und träumt nachts von ihren Vorahnen, die ihr etwas mitteilen wollen. Nachdem sich Freund*in Cal seit Monaten nicht meldet, beschließt sie mit ihren zwei engsten Freun­dinnen einen Roadtrip zu machen, um diese*n zu suchen. Verspielt, witzig und charmant widmet Ford deren zweiten Film »to all of us« und erzählt von dieser queeren Wahl­fa­milie, die sich im zerrüt­teten Amerika immer wieder für ihre persön­li­chen Ideale kämpfen müssen und was es bedeutet in einem spät­ka­pi­ta­lis­ti­schen System noch hoch hinaus zu träumen. – Stella Kluge

Drømmer (NO 2024 • R: Dag Johan Haugerud • Wett­be­werb)

Gerade so viel­seitig und hübsch wie ein Strick­pull­over. Eine junge Schülerin verliebt sich unglück­lich in ihre Lehrerin, ihre Begeg­nungen schreibt sie nieder und ihre Mutter, wie Groß­mutter schlagen vor, dies als Buch zu publi­zieren. Was eine gute Prämisse für eine mehr­di­men­sio­nale, andere Art von Lite­ra­tur­ver­fil­mung ist, wird leider zur einfäl­tigen Vorle­se­stunde. Eine Text-Bild-Schere gibt es nicht: Wir sehen immer nur, was die Prot­ago­nistin scheint vorzu­lesen, andere Ebenen sucht man vergeb­lich (und das in einem Film der sich Dreams nennt). Der Text und dessen Kommentar wird unauf­hör­lich drüber­ge­spro­chen. Kein Bild, kein Blick, keine Figur darf für sich stehen. In seinen Tief­punkten bricht der Film das dann auch noch ironisch, was eigent­lich nur zeigt, wie wahn­sinnig ernst er sich ansonsten nimmt. – Noah Mrosczok

El Diablo Fuma (MEX 2025 · R: Ernesto Martínez Bucio · Perspec­tives)

Scheiß auf die Kinder: Ernesto Martínez Bucio greift ein span­nendes Thema auf. Was machen, wenn einem der Alltag völlig über den Kopf wächst, vor allem wenn man gleich fünf Kinder und eine etwas durch­ge­knallte Groß­mutter in einem Mittel­klas­se­haus in Mexiko City zu versorgen hat. Erst haut die als Kran­ken­schwester arbei­tende Mutter ab und dann ist auch der Vater weg. Was Bucio dann aus diesem aufre­genden Alltags­drama macht, ist nur schwer zu ertragen: überlange Alltags­szenen nervender Kinder, redun­dante Video­clips aus scheinbar glück­li­chen Fami­li­en­zeiten, ein zuneh­mender Kontroll­ver­lust über das Narrativ und eine damit bei diesem aufre­genden Thema mehr und mehr aufquel­lende Lange­weile, die nicht einmal durch die Besuche des Jugend­amtes gebrochen wird. Was bleibt, ist die immer wieder inter­es­sante, aber meist zäh-doku­men­ta­ri­sche Beschrei­bung von Alltag (inkl. Papst­be­such) in einem der größten Städte der Welt. Und den Teufel? Hätte sich Bucio wie so vieles in diesem Film sparen können. – Axel Timo Purr

El mensaje (AR, ES, UY 2025 · R: Iván Fund · Wett­be­werb)

Im Wohnmobil durch Argen­ti­nien. Oma, Lebens­ge­fährte und Enkelin Anika machen sich auf zur Mutter der letzt­ge­nannten, unterwegs verdienen sie sich Geld mit einer spezi­ellen Dienst­leis­tung: Anika kann mit Tieren kommu­ni­zieren, die kryp­ti­schen Erkennt­nisse werden an Haus­tier­be­sitzer*innen auf Nachfrage verkauft. Doch die Handlung ist nur Neben­sache, der Motor für eine stille Medi­ta­tion über die Kindheit auf den Highways. In wunder­vollen schwarz-weiß Bildern erzählt sich dieser Film, ordnet ihnen alles unter, gibt ihnen Zeit ihre hypno­ti­sche Wirkung zu entfalten. Blicke aus dem Fenster bei voller Fahrt, die para­die­si­schen Nicht-Orte dieses Lebens­ge­fühls: Tank­stellen mit billigen Sand­wi­ches, Spiel­hallen voll Taschen­geld verschlin­gender Greif­au­to­maten. Poeti­sches Atmo­sphä­ren­kino, man vertraut diesem Film. – Benedikt Gunten­taler

Fremde Stadt (BRD 1972 · R: Rudolf Thome · Retro­spek­tive)

Vergiss die Beute! Das München der 70er: In schönsten schwarz-weiß Bildern erzählt uns Thome Gangs­ter­kino. Bankü­ber­fall, Flucht vor der Polizei, Liebe, Verrat, Habgier, Geld. Ganz nach Godards »Für einen Film braucht man nur eine Waffe und eine Frau« also. Dennoch fällt der Film unge­wöhn­lich aus, bleibt Krimi, inter­es­siert sich aber für keine Span­nungs­kurve. Es wird durch München flaniert, geraucht was die Lunge hergibt, geflirtet und gescherzt, bei Cartier mit 100.000 Bar bezahlt. Lässig geht es hier zu, gemäch­lich und ausschwei­fend, selbst der entführte Sohn hat noch einen schönen Tag im Zoo. Was soll man denn auch machen mit dem vielen Geld, Wohnungen kaufen, oder Aktien, klar, doch bringen tuts einem ja doch nichts…
Thome war anwesend, er ist der letzte lebende Regisseur aus der Retro-Reihe. – Benedikt Gunten­taler

Home Sweet Home (DNK 2025 · Frelle Petersen · Panorama)

Notwen­dige Tränen­drüse. Und das ganz ohne musi­ka­li­sche Mani­pu­la­tion. Alten­pfle­gerin Sofie unter­nimmt Haus­be­suche bei ihren Pati­en­tInnen. Die Kamera schreckt vor nichts zurück, nicht vor Kot, Blut, Schwäche und Einsam­keit. Außer besagter empa­thi­scher Prot­ago­nistin – allein­er­zie­hende Mutter und täglich am Spagat zwischen Gerech­tig­keits­sinn, Verpflich­tung und Über­las­tung zu zerbre­chen drohend – wurden alle (betagten!) Laien-Schau­spie­lerInnen in der süddä­ni­schen Provinz bei einem offenen Casting aufge­lesen. Diese besondere Intimität ist spürbar und verleiht nahezu doku­men­ta­ri­schen Charakter. Viel­leicht ein neuer Fokus im Vergleich zu anderen Filmen, die auf Preka­ri­täten im Gesund­heits­sektor aufmerksam machen wollen: Auf Dauer kann Sofie nur eine gute Heldin sein, wenn ihr zu Hause bei der Care-Arbeit geholfen wird. Denn einsam und ohne eine gewisse Pflege mutieren alle Menschen zu Maschinen, und deren Einsatz wäre in sozialen Berufen fatal. – Anna Raab

Hot Milk (UK 2025 · R: Rebecca Lenkie­wicz · Wett­be­werb)

Spätes Coming-of-Age: Rebecca Lenkie­wicz Regie­debüt über eine junge Frau, die sich von ihrer gehbe­hin­derten Mutter immer wieder düpieren lässt, ist eine so schwül insze­nierte Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte wie die Hitze des spani­schen Sommers in Almería, wo sich Mutter und Tochter hinbe­geben haben, um es mal mit einer alter­na­tiven Heil­me­thode für die leidende Mutter zu versuchen. So bizarr die Klinik, so grotesk die Begeg­nungen der Tochter, die ein heilsam lesbi­sches Coming-of-Age erleben darf. Haupt­dar­stel­lerin Emma Mackey darf sich gleich mehrfach von Feuer­quallen verun­stalten lassen und Vicky Krieps Rolle als gebrochen mora­li­sche Instanz und Sirene ist so abstrus wie der ganze Film, bei dem man sich am Ende nur fragt, wie er sich bloß in den Wett­be­werb der dies­jäh­rigen Berlinale geschmug­gelt haben könnte. – Axel Timo Purr

Strand. Eine Frau kommt auf einem Pferd ange­ritten. Laut dem phil­ip­pi­ni­schen Bomba-Genre-Kino ist das eine Szene, auf die sicher Sex folgt. So auch hier. In Rebecca Lenkie­wicz Regie­debüt Hot Milk geschieht dies sogleich zwischen der leicht­be­klei­deten Amazonin Ingrid (Vicky Krieps) und der am Strand fläzenden Sofia (Emma Mackey). Die wiederum lebt mit ihrer an den Rollstuhl gefes­selten Mutter (Fiona Shaw) in Spanien, ist für sie eine Art Mädchen für alles und Punching Ball. Da bahnt sich Horror à la François Ozon an, der aber leider nicht eingelöst wird, auch Camp oder Kitsch kommen nicht. Statt­dessen: Eifer­sucht auf die Liebhaber der poly­amourösen Ingrid, holprige Szenen und stol­pernde Dialoge. Das Ende des Films muss auf allen Ebenen als Verzweif­lungsakt gelten. Da hätte man sich von der versierten Dreh­buch­au­torin Lenkie­wicz (Ida) mehr erwartet. – Dunja Bialas

Hysteria (DE 2025 · R: Mehmet Akif Büyü­ka­talay · Panorama)

Der Epilog des Grauens. Oder: Wie man einen hand­werk­lich soliden Film in den letzten Minuten völlig zugrunde richtet. Der poli­ti­sche Thriller über einen aus dem Ruder laufenden Filmdreh – ein Koran wird verbrannt – beginnt als Span­nungs­kino, eine Kombi­na­tion aus falschen Entschei­dungen, Unglücks­fällen und Grund­satz­de­batten, die keinen Ausweg mehr zulassen. Das unaus­weich­liche Fiasko wird dabei nicht auf formalem oder drama­tur­gi­schem Weg erreicht, statt­dessen verläuft sich der Plot immer mehr, endet im banalen Nichts – und zaubert dann den Epilog aus dem Hut. Der Film torpe­diert sich selbst, wirft den behut­samen Aufbau über den Haufen, nur für ein paar billige Lacher im Publikum. Er hat keinen davon verdient. – Benedikt Gunten­taler

If I Had Legs I’d Kick You (USA 2024 · R: Mary Bronstein · Wett­be­werb)

SCHREIKINO! Die Themen des Wett­be­werbs bislang: Dysfunk­tio­nale Familien, Mutter-Tochter-Konflikt. Dieser Film reiht sich darin nicht nur nahtlos ein, er ist diese Themen. Rose Byrnes Figur muss sich um ihre schwer erkrankte Tochter kümmern, zudem fällt ihr die Decke auf den Kopf. Wort­wört­lich, ein myste­riöses Loch in der Decke setzt ihre Wohnung unter Wasser. Das ist dann auch das intel­lek­tu­elle Niveau dieses Machwerks, der Hektik für Stil ausgibt, Stress durch unend­liche Kreisch­ti­raden evozieren will. Niemand hört einander zu, die Psych­iater gehen selbst zu Psych­ia­tern und auch dort wieder nur: Geschrei! Ein paar makabre Gags schlei­chen sich unwirksam hinein, unter­strei­chen die Absur­dität dieses nerv­tö­tenden Films. Dem Zuseher wird dabei nichts zugetraut; Wackel­ka­mera, Nahauf­nahme, Hirntod. – Benedikt Gunten­taler

Islands (DE 2025 • Jan-Ole Gerster • Berlinale Special Gala)

Ein Kamel verschwindet! Fuer­te­ven­tura: Ein ambi­ti­ons­loser Tennis-Coach (Sam Riley) gerät in die Bezie­hungs­kiste einer briti­schen Klein­fa­milie. Es ist bemer­kens­wert, auf welche zwanghaft-einfalls­rei­chen Ideen der Film stößt beim Versuch dem immer-gleichen klein­bür­ger­li­chen Alltag, der im Urlaub zu seinem Höhepunkt kommt, ästhe­tisch und drama­tur­gisch zu entkommen. Tatsäch­lich faszi­nie­rend ist aber zu sehen, wie der Film im eigent­lich banalen Scheitern dieses Versuchs voll­kommen aufgeht und sich damit selbst genau wie der klein­bür­ger­liche Tourist verhält – und wie gern man dem zuschaut. – Noah Mrosczok

Khartoum (SDN, UK, DEU, QAT 2024 · R: Anas Saeed, Rawia Alhag, Ibrahim Snoopy, Timeea M. Ahmed, Phil Cox · Panorama Dokumente)

Film als Therapie. Was die suda­ne­si­sche Literatur schon seit Jahren geleistet hat, dem nimmt sich nun endlich auch ein suda­ne­si­scher Film an, der zwar in der Kürze von 80 Minuten keine histo­ri­schen Analysen bewerk­stel­ligen kann, aber dafür andere, sehr wichtige und gegen­wär­tige Fragen stellt. Der einer­seits den Alltag seiner fünf Prot­ago­nisten in den Revo­lu­ti­ons­jahren bis zum Beginn des gegen­wär­tigen Bürger­kriegs vor mehr als einem Jahr zeigt, dann aber in beein­dru­ckenden Momenten diese Menschen im Exil zeigt und sie über Reenact­ments vor der Kamera ihre erlit­tenen Traumata nach­stellen lässt und immer wieder Kern­fragen dieses Kultur­raums nachgeht wie der nach arabi­schen und afri­ka­ni­schen Iden­ti­täts­kon­flikten. Das führt nicht nur zu einer bewe­genden Katharsis, sondern macht diesen Film auch zu etwas sehr Beson­derem. Denn was hier passiert, lässt sich auf jedes migran­ti­sche Umfeld über­tragen und macht Migration nicht nur trans­pa­rent, sondern auch zutiefst „mensch­lich“. – Axel Timo Purr

La Tour de Glace (FR, DE 2025 · R: Lucile Hadži­ha­li­lović · Wett­be­werb · mit Marion Cotillard, August Diehl, Gaspar Noé)

tour de glace
(Foto: Berlinale | Lucile Hadzi­ha­li­lovic)

Stim­mungs­in­ten­sives Kauder­welsch. Da helfen auch die von Lucile Hadži­ha­li­lović betonten Refe­renzen zu Hirokazu Koreedas La Vérité – Leben und lügen lassen (2019) und dem Werk Georges Méliès, das unter anderem das Szenen­bild des Films inspi­riert hat, nicht. Wie hier das groß­ar­tige Märchen »Die Schneekö­nigin« von Hans Christian Andersen in einem 1970er-Jahre Film­set­ting verschwur­belt wird ist, nicht nur schreck­lich pathe­tisch, sondern auch grot­ten­lang­weilig. Ein bisschen Spaß machen immerhin all die Neube­set­zungen, von den Krähen bis zu den eisigen Küssen, die hier natürlich nicht ein männ­li­ches Kind sondern zeitgemäß ein jugend­li­ches Mädchen berühren und statt sie zu binden, letzt­end­lich befreien. Tränen, die die Verblen­dung über unsere eisige Gegen­warts­mo­derne, schmelzen lassen, braucht es hier nicht, aber leider ist damit auch Andersens subtile Kritik an unserer eiskalten, alles tötenden Moderne dahin und damit eigent­lich alles nur noch larifari und über­in­sze­niertes, aber immerhin stim­mungs­in­ten­sives Kauder­welsch. – Axel Timo Purr

Der Kuss der Eiskö­nigin. Die verschneiten, sich hoch auftür­menden Berge in den Savoyen in den Sieb­zi­gern sind die Kulisse für einen Märchen­film, der ziemlich schnell in die Metaebene gleitet, in den Film im Film. Gedreht wird »Die Schneekö­nigin«, Marion Cotillard spielt sie mit bebenden Wimpern. Alles glitzert in diesem Märchen-Universum, von dem Jeanne, hinter den Kulissen versteckt, träumt. Sie ist aus einem Kinder­heim in den Bergen geflohen, hat die Identität einer Schlitt­schuh­prin­zessin auf dem Eis ange­nommen, nennt sich Bianca. Die Ebenen verschwimmen, das Begehren des Märchens und auch im Märchen zeigt sich als Sehnsucht nach einer grausamen und trotzdem heilsamen Welt. Lucile Hadži­ha­li­lović belebt den fran­zö­si­schen Märchen­film der Siebziger wieder und nimmt das Märchen in einer Welt der Armut und der Waisen­kinder après guerre, nach dem Krieg, ganz und gar real. – Dunja Bialas

Gefro­rener Blick. Viel versam­melt sich in diesem schönen Film, nur wenig tritt tatsäch­lich zu Tage. Zwischen Wunsch und Enttäu­schung, Dominanz und Subor­di­na­tion, Leben und Film entwirft Hadži­ha­li­lović eine kalte, melan­cho­li­sche Welt. Ein lupen­reines Märchen, das nicht in Symbole zerfällt, vage und andeutend bleibt, selbst das Aller­schlimmste mit einem gewissen dunklen Reiz versieht. Cotillard ist wunder­schön in diesem Film, spielt die tragische Diva brillant. Als Enigma, als Mythos – als böse Hexe, die doch der Star bleibt. Ambi­gui­täten also, die sich psyche­de­lisch vermi­schen, langsam und soghaft in eine Welt entführen, die nichts Fantas­ti­sches bleiben muss, die Gedanken, Trauer und Schönheit freimütig in Bilder übersetzt, die sich nicht der Wahrheit verschrieben haben, subjektiv bleiben dürfen. – Benedikt Gunten­taler

Little Boy (USA 2025 · R: James Benning · Forum)

Die ameri­ka­ni­sche Kindheit feiert ihre Rückkehr. Das natürlich nicht senti­mental, sondern als traurige Hinfüh­rung zum aktuellen poli­ti­schen Diskurs. In eine Handvoll Kapitel unter­teilt findet eine Reise von den 60er Jahren in die Moderne statt, einge­leitet durch Aufnahmen von Händen (entliehen von 8 – 81 jährigen Schau­spielen), die Revell-Modelle bemalen, und endend in einer stati­schen Foto­grafie der fertigen Miniatur. Das (kindliche, naive) Erschaffen künst­li­cher Welten, die dann in ihrer Voll­endung entfremdet werden, geschluckt und deter­mi­niert durch weltliche, poli­ti­sche Umstände. Ein depri­mie­render, trauriger Film; poetisch in seinem Mini­ma­lismus. Wie die Welt verändern, wenn sie stets einen Schritt voraus zu sein scheint? – Benedikt Gunten­taler

Vom Saurier zur Atombombe: James Benning erkundet die (ameri­ka­ni­sche) Zivi­li­sa­tions-Geschichte, anhand prägnanter Rede­aus­schnitte von Präsi­denten (Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, Ronald Reagan) und Aktivist*innen (Stokely Carmi­chael, César Chávez, Severn Cullis-Suzuki), die in Bezug zur Gegenwart erschre­ckend visionär wirken. Bennings strenge filmische Instal­la­tion lässt keinen Eska­pismus in die Kontem­pla­tion zu wie sonst bei ihm: Dies hier ist eine verzwei­felte Abrech­nung und eine Mahnung. Die Unschuld der Hände, die Bauteile für das Jungs­spiel­zeug einer Modell­ei­sen­bahn bemalen, ist definitiv verloren. Benning exponiert sie in Einstel­lungen, die einem didak­ti­schen Lehrfilm entstammen könnten. Dazu hören wir Songs von Ricky Nelson über Pete Seeger bis Catpower, alle prägend für Benning und sein 82-jähriges Leben. – Wolfgang Lasinger

La memoria de las mariposas (MEX, PER 2025 · R: Tatiana Fuentes Sadowski · Forum)

Auf die Spuren eines Genozids im perua­ni­schen Amazo­nas­ge­biet begibt sich Tatiana Fuentes Sadowski. Ihre Familie hat Wurzeln bei den Kautschuk-Baronen, deren brutale Exploita­tion indigene Stämme am Putumayo in Peru und Brasilien bei der Rohstoff-Gewinnung für Gummi auslöschte. Huitoto, Andoque, Ocaina, Nonuya, so ertönen die Namen der Ethnien beschwö­rend zu den faszi­nie­rend flackernden Bildern aus dem Regenwald. Die Regis­seurin montiert Archiv­ma­te­rial mit sicht­li­chen Verschleiß­spuren (etwa von dem Portu­giesen Silvino Santos, der in den 1920er Jahren am Amazonas anthro­po­lo­gi­sche Doku­men­ta­tionen erstellte). Diese Aufnahmen kombi­niert sie mit selbst gedrehtem und verfrem­detem Super8-Schwarz-Weiß. Eindring­li­cher Filmessay, der das Untilg­bare kolo­nialer Gewalt dem filmi­schen Material förmlich einprägt. – Wolfgang Lasinger

Mickey 17 (USA, KOR 2024 · R: Bong Joon Ho · Berlinale Special Gala)

The same river twice. Wer sich noch an die Berlinale 2012 und Timo Vuoren­solas Quatsch-Science-Fiction Iron Sky erinnert, wird bei Bong Joon Hos Welt­pre­miere von Mickey 17 auf der dies­jäh­rigen Berlinale ein paar Déjà-vus schlucken müssen. Aber neben diesen grotesken, schwarz-humorigen Blöde­leien, die dem an sich aufre­genden Setting leider immer wieder die Luft nehmen, vermurkst Bong Joon Ho in seinem Science-Fiction auch inter­es­sante Aspekte: ein Wieder­gänger Trump/Musks ist genauso dabei wie überhaupt eine gnaden­lose Kritik am gegen­wär­tigen Popu­lismus mit seinen grotesken Neonazi-meets-evan­ge­li­kale-Irre-Elementen. Aber fast noch span­nender ist die Beschäf­ti­gung mit dem ewigen Leben, und eine Reak­ti­vie­rung von Cyberpunk-Klassiker wie Richard Morgans Altered Carbon, das von dem großen Helden dieses Films, Robert Pattinson als Mickey 17 und 18, grandios verkör­pert wird und dessen Spiel an Jim Carrey in seinen besten Zeiten erinnert. – Axel Timo Purr

Mit der Faust in die Welt schlagen (DE 2025 · R: Constanze Klaue · Perspec­tives)

Stille Wucht. Constanze Klaues Adaption des Romans von Lukas Rietz­schel (2018) geht unter die Haut. Und das nicht nur wegen des groß­ar­tigen Ensembles, bei dem auch – für deutsche Verhält­nisse nicht selbst­ver­s­tänd­lich – die Kinder­dar­steller über­zeugen. Aber dann ist da auch diese umwer­fende Geschichte aus der Lausitz, geplatzte Träume, versehrte Lebens­li­nien und ein abge­hängtes Deutsch­land, dass sich den Rassismus gewis­ser­maßen selbst erfindet, um sich nicht zu suizi­dieren. Das Schweigen unter einer Glas­glocke ist von Klaue bis ins letzte Detail subtil insze­niert, die Leer­stellen sind pointiert platziert und mit dem Zeit­sprung aus dem Jahr 2006 ins Jahr 2015 wird dann irgendwie auch der ewige Schatten der DDR-Sozia­li­sie­rung abge­worfen. Das dieser Sprung die Dinge nicht besser macht, ist das eigent­liche Drama unserer Gegenwart, denn was bleibt, ist das dunkle Nichts des zu gebä­renden Weltgotts. – Axel Timo Purr

The Narrow Road to the Deep North (AUS 2025 · R: Justin Kurzel · Berlinale Special Gala)

Im Westen was Neues. Die Adaption des gleich­na­migen, mit dem Man Booker Prize ausge­zeich­neten Romans von Richard Flanagan als fünf­tei­lige Serie überzeugt in dem auf der Berlinale gezeigten ersten Teil durchaus. Nicht ist die Perspek­tive auf den 2. Weltkrieg einmal nicht wie sonst üblich euro­zen­tris­tisch, sondern erzählt über den bei uns kaum bekannten Krieg in Asien und das Aufein­an­der­treffen von Japanern und Austra­liern Vor allem Kurzels Entschei­dung, die natürlich der Vorlage geschuldet ist, das Kriegs­ge­schehen in nur relativ kurzen Episoden zu abzu­han­deln und wie in Michael Ciminos Vietnam-Klassiker Deer Hunter, mehr vom harmo­ni­schen Davor und trau­ma­ti­sierten Danach zu erzählen, ist beein­dru­ckend umgesetzt. – Axel Timo Purr

Olmo (MEX, USA 2025 · R: Fernando Eimbcke · Panorama)

Ein Teenager ohne Handy: Wir sind im Jahr 1979. Fernando Eimbcke erzählt wie schon in Lake Tahoe vom emotio­nalen Reifungs­pro­zess eines Jugend­li­chen: der 14-jährige Olmo lebt mit Schwester und Eltern in prekären Verhält­nissen in New Mexico, wo sich Spanisch und Englisch vermi­schen. Der Vater ist bett­lägrig und braucht ständige Pflege. Auch Olmo ist immer wieder an der Reihe, gerade wenn er mit seinem Kumpel Miguel von der ange­him­melten Nach­bars­tochter zu einer Party einge­laden wird. Eimbcke versteht es meis­ter­haft, die erns­testen Situa­tionen über­ra­schend ins Komische kippen zu lassen, auf ganz unfor­cierte Weise. Besonders hervor­zu­heben ist die liebe­volle Ausstat­tung: Autos, Klamotten, tech­ni­sche Geräte wie Plat­ten­spieler und nicht zuletzt die Musik. Und unbedingt sollte man den gesamten Abspann anschauen – wie schon bei »Lake Tahoe ist da das wunder­schön traurige Tradi­tional La Llorona zu hören: ¡Ay, de mí, llorona! – Wolfgang Lasinger«

Paul (R: Denis Côté · CA 2025 · Panorama)

»I clean for women.« Paul ist ein Stuben­ho­cker und beschließt nicht nur wegen seines adipösen Gewichts, seine Komfort­zone zu verlassen. In der Welt der Social Media bietet er seine Dienste für Frauen an, die ihn ordent­lich herum­scheu­chen – als Domina. So wird er der Cleaning Man für Frauen mit beson­deren Bedürf­nissen. Denis Côté steigt ein in seine Aben­teu­er­reise, in der Paul wie Alice hinter den Spiegel blickt, und zugleich die Spiegel stets selbst produ­ziert: Paul generiert permanent Content über das, was er putzt, die Kühl­schränke, den Herd, das Klo. Das geht im fertigen Insta-Reel ruckzuck, wie bei Meister Propper. Am Set seiner Tätigkeit aber ist er der Sklave. Ohne Voyeu­rismus filmt Côté die delikaten Seiten des Domi­nanz­ver­hält­nisses, nur eine Donut-Szene deutet die Imagi­na­tionen seiner Prot­ago­nist:innen mehr als an. Ein zärtlich umar­mender Blick in eine verbor­gene Welt. – Dunja Bialas

Punku (PER, SPA 2025 · R: J. D. Fernández Molero · Forum)

Ein entzün­deter Augapfel wird dem 14-jährigen Iván gleich zu Beginn des Films heraus­ope­riert. Die Infektion springt augen­blick­lich auf das Film­ma­te­rial über und die Schleusen zur Magie des perua­ni­schen Regen­walds öffnen sich. Aus dem expe­ri­men­tellen Mix aus opakem Schwarz-Weiß und Farbe, aus Analog und Digital schält sich ein doku­men­ta­ri­scher Kern um einen schmie­rigen Schön­heits­wett­be­werb heraus: die junge Meshia, die sich Iváns ange­nommen hat, gilt als Meer­jung­frauen-Favoritin unter den Männern des abge­le­genen Orts. Das begehr­liche Auge, das sie auf Meshia geworfen haben, ist ebenso von bösen Geistern befallen wie Iván. Der zwei­fel­hafte Heiler, der den Zauber bannen soll, scheint ihn aber eher zu vermehren. Eine vers­tö­rende Ambi­guität prägt die rauen Bilder dieses Films. – Wolfgang Lasinger

Reflet dans un diamant mort (BEL, LUX, ITA, FRA 2025 · R: Hélène Cattet & Bruno Forzani · Wett­be­werb) [Berlinale-Katalog]

Cattet & Forzani go Eurospy: Der Fetisch des Duos für den italie­ni­schen Genre-Film der »60er hat sich nicht mit Giallo (Amer), Western und Gangs­ter­film (Laissez bronzer les cadavres) erschöpft. Ihre Mischung aus filmi­schem Fieber­traum und Dekon­struk­tion taucht nun in die Welt von ›Diabo­lique‹ & Co., mit Kille­rinnen in Leder­over­alls, absurden Gadgets, binärer Weltsicht, aber endlos fluiden Masken-Iden­ti­täten. Der große Fabio Testi ist ein seig­no­raler Hotelgast an der Côte d«Azur, der sich entweder an seine Karriere als Geheim­agent, als Schau­spieler, oder an Groschen­ro­mane erinnert. Alles nur ein Traum? Ja eh, aber halt was für einer! Schön, auf der Berlinale erinnert zu werden, dass Kino, dass Sehen auch orgas­misch, manisch sein kann. – Thomas Willmann

Stolz & Eigensinn (R: Gerd Kroske · DE 2025 · Forum)

Arbei­te­rinnen erinnern sich. Doku­men­tar­filmer Gerd Kroske (DER SPK KOMPLEX) hat in den Archiven des Leipziger Pira­ten­sen­ders Kanal X Aufnahmen aus den 1990ern gefunden, in denen sich Frauen an ihre Arbeit in klas­si­schen Männer­be­rufen in der DDR erinnern. Sie haben Schwert­onner gefahren, Technik überwacht, im Gleisbau geschuftet, viel in Schicht gear­beitet, mit redu­ziertem Privat­leben. Die Kinder­be­treuung ging genauso im Schicht­be­trieb. Es ging um Verant­wor­tung, erzählen sie, sie waren den Männern absolut gleich­ge­stellt, nur in der Kraft gab es das Limit. Das änderte sich mit der Wende, die Betriebe wurden abge­wi­ckelt, entlassen wurden sie in eine Welt ohne Arbeit. Kroske stellt die State­ments mit den Erin­ne­rungen der Frauen heute gegenüber; er hat die Prot­ago­nis­tinnen aufge­spürt und lässt sie ein zweites Mal Fazit ziehen. Ein reicher Einblick in eine verschwun­dene Arbeits­welt. – Dunja Bialas

Was Marielle weiß (R: Frédéric Hambalek · DE 2025 · Wett­be­werb)

Wie erziehe ich meine Eltern? Marielle erlangt nach einer Ohrfeige hell­se­he­ri­sche Fähig­keiten und kann das Leben der Eltern in allen Details miter­leben, selbst wenn sie nicht dabei ist. Ihr bleibt nichts verborgen: Der Sextalk der Mutter mit ihrem Kollegen, die Nieder­lage des Vaters in einem Meeting. Irri­ta­tion und Panik machen sich bei den Eltern breit, Korrek­turen im eigenen Verhalten und Sprechen werden angesetzt, gut gemeinte Botschaften an das zuhörende Kind ausge­sendet, schließ­lich wird trotzig dem Unver­nünf­tigsten überhaupt nach­ge­geben. Das ist alles lustig, erinnert an Das perfekte Geheimnis, nur wird statt dem Handy das die Geheim­nisse preis­ge­bende Kind sozusagen auf Tisch­mitte platziert. Letztlich bleibt in diesem Fern­seh­spiel mit der freud­losen Ausstat­tung deutscher Norm­haus­halte trotz gewolltem Witz alles fürch­ter­lich mora­lin­sauer. Benehmt Euch mal, Ihr Eltern! – Dunja Bialas

Ohne Lüge leben: zur Situation des Einzelnen in der Gesell­schaft – daran ist schon der große Soziologe und Philosoph Arno Plack verzwei­felt. In Frédéric Hambaleks kluger Versuchs­an­ord­nung wird dieser Anspruch über die großartig spielende und an die Königin von Niendorf erin­nernde Laeni Geiseler als puber­tie­rende Marielle eingelöst, die nach einer Ohrfeige plötzlich Gedanken lesen kann. Die Komödie ist hier nur Vehikel für den Ernst des Lebens und entsteht erst im Kopf des Zuschauers, der sich dieses gefähr­li­chen Ethos nur durch Lachen entziehen kann. Was auf der Leinwand passiert, ist hingegen verzwei­felte Tragödie, ein Ringen um Lieben, Leiden und Wahr­haf­tig­keit. Und dann ist da noch dieses Glück, nach ihrer groß­ar­tigen Mutter­rolle in Waren einmal Revo­luzzer Julia Jentsch in einer ähnlichen Rollen zu sehen. Aller­dings hätte das wichtige Thema, das subtile Drehbuch und das tolle Ensemble eine mutigere Umsetzung als die gepflegte TV-Ästhetik verdient. – Axel Timo Purr

Die kleine Andere. Das ist die titel­ge­bende Marielle, die durch eine Ohrfeige magische Kräfte erlangt. Sie sieht und hört alles was ihre Eltern treiben, vom Sexge­spräch übers Rauchen bis zum Versagen in der Arbeit. Was wie eine Horror­ge­schichte klingt (wie trau­ma­ti­siert muss dieses arme Kind sein?!), wandelt sich schnell zum psycho­lo­gi­sie­renden Brennglas: Wie verhalten sich die Eltern nun unter Beob­ach­tung?
Das birgt ein paar gute Gags, gerade auf Seiten des Vaters, erreicht aber keinen wirklich inter­es­santen Punkt, endet im Mora­li­schen. Es ist eine nette Idee, eine deutsche Twigh­light-Zone, die als Fern­seh­film sicher großen Spaß macht, im Wett­be­werb ob der blassen Kulissen, der umam­bi­tio­nierten Kamera, des schlichten Stils jedoch deplat­ziert wirkt. Gut gespielt, gut gemeint, da tut sich keiner weh. – Benedikt Gunten­taler

What Does That Nature Say To You (KR 2025 · Hong Sang-soo · Wett­be­werb)

Regisseur des digitalen Anthro­pozän. Die Tonalität des schrillen iPhone-Klin­gel­tons, das beinahe neon-grün der Bäume, die blendend weißen Hinter­gründe, die verpi­xelte Karotte: Es ist immer die Media­lität selbst, die in jedem Bild (und Ton) zu uns spricht. Das Biotop, der Garten, das Quaken der Frösche: Hong Sang-soo zeigt wie die digi­ta­li­sierte Wahr­neh­mung – der Blick durch das iPhone auf die Welt – erst eine Auffas­sung von so etwas wie Natur und Natür­lich­keit hervor­bringt. Hierfür muss dem Betrun­kenen erst gesagt werden, wie es um ihn steht, damit er merkt, dass er betrunken ist. Wie schade, dass man sich an diese Wahr­neh­mung sonst so schnell gewöhnt. – Noah Mrosczok

Yunan (DE, CA, IT, PSE, QAT, JOR, SAU 2025 · R: Ameer Fakher Eldin · Wett­be­werb)

Das beste im Leben gibt’s doch immer umsonst. Eine bizarrere Über­schnei­dung von Exilanten-Heimweh und Fremde-Schmerz gibt es wohl kaum. Eldins gebro­chener Held Munir sinniert auf der Hallig Hooge über verlorene Mutter-Parabeln und psycho­so­ma­ti­sches Exilan­tenweh. Die Kamera und Eldins Geschichte verliert sich dabei zunehmend in langen Einstel­lungen von Nord­see­licht und Hallig-Grün, die zusammen mit einer aufkom­menden Sturmflut und lyrische Sentenzen – »Er hatte nichts wie der Mond, wie Granat­ap­fel­blüten« – symbo­lisch aufge­laden werden. Also ob das nicht reicht, schwa­dro­niert auch noch Hannah Schygulla Alltags­weis­heiten in die Räume ihres kleinen Hotels. Etwas aufge­lo­ckert werden all die leeren Wort und Blicke durch Eldins präzisen ethno­gra­fi­schen Blick, der ein paar eigen­ar­tige Rituale der Hallig­be­wohner in die Erzählung einbindet und damit auch seinen Helden endlich einmal zum Lachen bringt. – Axel Timo Purr

Zirkus­kind (R: Julia Lemke, Anna Koch · DE 2025 · Gene­ra­tion)

Ein anderes Leben. Nachdem die Entwick­lung des Stoffes 2021 von der Initia­tive Der Besondere Kinder­film gefördert wurde, ging es für diesen beson­deren doku­men­ta­ri­schen Kinder­film über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkus­di­rektor in Deutsch­land tatsäch­lich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erin­ne­rungen des alten Mannes, die liebevoll animiert darge­stellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien darge­stellt, der verblüf­fender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbst­ver­s­tänd­lich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erin­ne­rungen des Groß­va­ters eindrucks­voll illu­mi­nieren. – Axel Timo Purr