75. Berlinale 2025
Kurzkritiken |
![]() |
Das bürgerliche Glück. Der Film folgt dem titelgebenden Protagonisten – einem Stationendrama gleich – auf seiner betulichen Odyssey durch Frankreich. Er gibt seinen Beruf als Grundschullehrer auf, kämpft mit vagen psychischen Problemen. Als ihn sein Vater enttäuscht vor die Tür setzt, wendet er sich an alte Freunde, vergessene Konflikte brodeln hoch, ebenso vertraute, trostsame Gefühle.
Diese subjektive Auslegung wird formal unterstützt, die wackelige
Handkamera bewegt sich stets nah an den Gesichtern. Das gefällt zunächst, zumal die Begegnungen angenehm undifferenziert ausfallen, Klassenunterschiede und konträre Lebensphilosophien aufzeigen. Leider wird dieser diskursive Stil bald fallengelassen, ergibt sich in vereinfachenden Symboliken und kommt zum langweiligsten aller Schlüsse: Zum Glück genügt ein Kind, die eigene Wohnung, das richtige »Mindset« – jeder kann es schaffen. Wie erbaulich… –
Benedikt Guntentaler
Family Matters. Sie könnte eine Schwester Dardenne sein, nah, durchdringend und mit flirrendem Blick klarer 35mm-Bilder. Léonor Serraille erzählt in ihrem dritten Spielfilm zuerst einmal vom drohenden sozialen Abstieg im Norden von Frankreich. Ari, ein sensibler junger Mann, quittiert den Schuldienst, noch bevor er ihn überhaupt richtig begonnen hatte. Der Vater, ein Malermeister, setzt ihn vor die Tür. Obdachlos macht Ari Station bei seinen arbeitsscheuen Freunden und verhandelt mit ihnen die Herkunft, die Lebensziele und überhaupt den Lifestyle. Ari wird deutlich als leidende Jesusfigur inszeniert, die abgemagert das Herz in den Händen trägt. Der schlingernde Abwärtstrend von Ari wird jedoch wie aus dem Nichts aufgehalten, als ein Kind auftaucht (wie die Jungfrau zum Kinde…). Erlösung folgt und mit ihr eine äußerst schlichte Lösung, wo der Blick auf die Klassenunterschiede doch unendlich viel spannender war. – Dunja Bialas
Husbands are best when the are dead. Oder doch nicht? Denn das gleiche könnte in diesem intensiven Drama in einem Vorort Kolkatas auch für den Polizeiapparat und Familien, Nachbarn und Männer aller Art gelten. Das und Sahi zeigen ein von zermürbenden Hierarchien geprägtes Indien, in dem alles und jeder an seinem angestammten Platz verharrt und der Alltag ein steter Überlebenskampf ist, in dem die Männer allerdings ein besonders trauriges Bild abgeben. Aufbegehren wie das von der großartigen von Tilotama Shome verkörperten Maya irritiert, ist gefährlich und wird nicht nur verbal in die Schranken gewiesen. Wie Payal Kapadia in All We Imagine as Light entscheiden sich auch Das und Dahin in Baksho für ein versöhnliches Ende, das hier – in einer wunderschönen Schlusseinstellung – allerdings stimmiger, realistischer ist. – Axel Timo Purr
Poetisches Schwarzweiß, ein berührender Debütfilm. Sasha, ist ein nicht-binäres Individuum, die in den 1990er Jahren in die Sowjetunion emigrierte. Ursprünglich ist sie in Israel aufgewachsen. Dorthin zurückkehrend, sucht sie die Häuser auf, in denen sie einst groß geworden ist. Begegnungen mit ihrem totgeglaubten Familienhund, alte Videos und expressive Tagebucheinträge rufen verdrängte Blicke in die Vergangenheit hervor. In dieser israelisch-deutschen Produktion erschafft Nicole Tetelbaum durch ihre poetischen Bilder und ihr entschleunigendes Erzähltempo einen intensiven Zugang zu Sashas Erinnerungen. Hierbei wird nicht nur das Gefühl eines Zuhauses erkundet, sondern auch die Rolle des Körpers, der Sprache und schließlich das Verändern des eigenen individuellen Narrativs. – Stella Kluge
Närrisch-narzisstisch-narkotische Nervensäge. Für Freunde des klassischen amerikanischen Musicals mag Richard Linklaters Geschichte über den Songwriter Lorenz Hart, dessen bisheriges Leben während der Premierenfeier für das Musical »Oklahoma!«, mit dem sein ehemaliger Partner, der Komponist Richard Rodgers, seinen bis dahin größten Erfolg feiert, Bedeutung haben. Name- und Musicaldropping ohne Ende, schlüpfrige, dem Zeitkolorit des Jahres 1943 angemessene Altherrenwitze und mit Ethan Hawke als Lorenz Hart eine großartig performte, aber kaum zu ertragende selbstgerechte, wehleidige, egomanische, entsetzlich langweilige Nervensäge im Zentrum, der man den frühen Lungenentzündungstod noch viel früher im Film wünscht. Stattdessen muss man einen langen, monologischen, nostalgiebeflissenen Abend durchstehen. – Axel Timo Purr
Einsam stirbt der Romantiker. Zumindest in Blue Moon, der in Echtzeit die Premierenfeier des Musicals »Oklahoma!« begleitet. Für den Endvierziger Lorenz Hart (Ethan Hawke) turbulente 100 Minuten, vermischen sich darin doch karrieristische Tiefschläge mit romantischen Hoffnungen. Er hat sich in die 20-jährige Studentin Elizabeth (Margaret Qualley) verliebt, will sie nun endlich für sich gewinnen. Hawke trägt den gesamten Film, schießt als narzisstische, tragische Quasselstrippe von Gespräch zu Gespräch, hört sich selbst dabei am liebsten zu. Lange Zeit nervt das, ist zwar auf den Punkt geschrieben, doch zu kalkuliert, zu selbstverliebt inszeniert. Erst wenn die Romanze Fahrt aufnimmt findet der Film wirklich zu sich, transformiert den geschwätzigen Hart in eine traurige Figur, die sich selbst am besten kennt. – Benedikt Guntentaler
Radikale Reduktion: der Figuren, des Plots, der Bilder. Nach diversen Schicksalsschlägen widmet Yeong-gyeong ihr Leben nur noch dem Trinken, eine Figur, die aus einem der Gelage in den Filmen Hong Sang-soos herausgefallen zu scheint. Der an rheumatischer Arthrose leidende Su-hwan verliebt sich in sie und wohnt ihrer Sucht geduldig-duldend bei. Kein Miserabilismus, sondern, ja, nüchterne Analyse eines 'odd couple'. Aber auch keine Beschönigung der Sucht: jedes Mal, wenn ihr Kopf volltrunken auf der Tischplatte aufschlägt, durchzuckt es einen unwillkürlich. Eine zart-karge Poesie der Einfachheit, die sich auch einem mehrfach rezitierten Gedicht Kim Soo-youngs verdankt. Gewiss ein Film, der einem etwas abverlangt. Doch in der Beschränkung öffnet sich eine neue Sicht, eine Hoffnung auf Neubeginn, vielleicht… – Wolfgang Lasinger
A Series of Dreams: James Mangold entwirft in seinem Bob Dylan-Biopic, das auf der Berlinale Deutschland-Premiere feiert, ein Porträt des Künstlers als junger Mann, ohne große Tiefen und voller Stereotypen, aber immerhin den Mut hat, auch die dunklen Seiten Dylans zu zeigen. Es ist ein Film wie ein Traumgebilde, eine Abfolge von Traummomenten, Vorstellungen, wie diese kreative Zeit mit ihren kreativen Momenten damals war. Das hat durch das Tempo, das aufwändig und liebevoll inszenierte Zeitkolorit und das üppige Einspielen von Dylans Musik immer auch etwas von der flüchtigen, sedierenden Kraft von Youtube-Shorts oder Tiktok-Clips, ist aber gleichzeitig auch ein fast schon ideales Werbeformat für eine Musik und eine Zeit, die mehr und mehr in Vergessenheit gerät. (-> Langkritik) – Axel Timo Purr
Ruckedigu, ruckedigu, sehr viel Blut ist im Schuh! Eine junge Frau zu sein war schon bei den Brüdern Grimm der pure (Body) Horror. Welch psychischer Druck es ist, die eigene Physis in Schönheitsideale zu zwängen, das bringt Emilie Blichfeldts Debut drastisch rüber. Sie erzählt »Aschenputtel« aus Sicht der Stiefschwester, die sich die Zehen abschneidet, um ins legendäre Schuhwerk zu passen. Angenähte Wimpernverlängerung und orale Bandwurm-Extraktion inklusive. Der Film braucht diese Extreme aber auch, weil er sonst wenig zu bieten hat. Die Hauptfigur erhält keine Dimension außer ihrem absoluten Willen, dem Prinzen zu gefallen. Und Kostüm, Ausstattung plündern, weil Märchen!, den Fundus willkürlich nach allem zwischen 1700-1910. Was die historisch-soziale Gemachtheit von Schönheitsidealen tilgt. – Thomas Willmann
Esoterik meets Migration. Eine dysfunktionale Bohème-Patchworkfamilie aus dem Berliner Engagierten-Milieu trifft auf eine Syrerin mit traumatischer Vorgeschichte. Sie, hochgebildet, mehrsprachig, mit therapeutischen Fähigkeiten, lässt sich bei der Familie als Haushaltskraft anstellen. Dort werden in virtuellen Fluchträumen Eskapismus aus der Realität zelebriert; während »das Licht«, eine Stroboskoplicht aussendende Kristallhalbkugel, neurologisch induzierte Séancen mit den Geistern ermöglicht. In Tykwers dysphorischer, im Regen ertrinkenden Gegenwart geht es um nichts weniger als die großen existentiellen Fragestellungen. Diese können nur mittels Metaphysik beantwortet werden. Garniert wird das mit vielen Tykwer-Momenten, die an die gute alte Zeit des Regisseurs erinnern (Lola rennt, Die tödliche Maria) und, Achtung, Musical-Einlagen. Denn: So hässlich böse ist die Welt dann doch nicht, sondern auch: unglaublich komisch. – Dunja Bialas
Rasiermesserscharf sezierter Amour fou: Jennifer, die für ihren megareichen Vater in San Francisco die Spenden für die Hoch-Kultur organisiert, liebt den mexikanischen Balletttänzer Fernando. Der reist illegal in die USA ein. Die leidenschaftliche Affäre reibt sich an der mexikanisch-amerikanischen Grenze und an den Distinktionsansprüchen der amerikanischen Upperclass auf. Michel Franco entfesselt die zerstörerischen Kräfte der Emotionen wie in den großen Tragödien der französischen Klassik. Mit zwingender erzählerischer Ökonomie treibt er das Wechselbad der Affekte bis zum Äußersten. Die Liebe steigert sich bis in Exzesse der Rachsucht hinein. – Wolfgang Lasinger
Migration als Vexierspiel. Als Fernando aus dem mit Mexikanern vollgepferchten Lkw aussteigen muss, weil die Polizei anrückt, und zu Fuß weiterflieht, meinen wir eine klassische Migrationserzählung vor uns zu haben. Aus der Flucht wird jedoch eine Ankunft in San Francisco, in einer Villa mit bereitgelegtem Haustürschlüssel. Dieses Kippspiel der Sichtweisen trägt der Film in vielen Details und auf vielen Ebenen weiter. Die Annahme einer prekären Herkunft von Fernando, der sich als begnadeter Balletttänzer aus dem mexikanischen Bürgertum entpuppt, wird als Klischee entlarvt, die titelgebenden Träume sind nicht nur die Träume der Migranten, sondern auch der weißen Oberschicht, die Gutes tun will und nach großen Gefühlen verlangt. Jessica Chastain und Isaac Hernández tanzen hier einen Pas de Deux der Leidenschaften, nie gefeit vor den dunklen Abgründen des Bösen. – Dunja Bialas
Der amerikanische Traum in Zeiten des Postkapitalismus. Z lebt als schwarze Frau in einer polyamorösen Beziehung in Los Angeles. Ihr Job wurde gekürzt, sie schafft es nicht, ihr Buch zu verwirklichen und träumt nachts von ihren Vorahnen, die ihr etwas mitteilen wollen. Nachdem sich Freund*in Cal seit Monaten nicht meldet, beschließt sie mit ihren zwei engsten Freundinnen einen Roadtrip zu machen, um diese*n zu suchen. Verspielt, witzig und charmant widmet Ford deren zweiten Film »to all of us« und erzählt von dieser queeren Wahlfamilie, die sich im zerrütteten Amerika immer wieder für ihre persönlichen Ideale kämpfen müssen und was es bedeutet in einem spätkapitalistischen System noch hoch hinaus zu träumen. – Stella Kluge
Gerade so vielseitig und hübsch wie ein Strickpullover. Eine junge Schülerin verliebt sich unglücklich in ihre Lehrerin, ihre Begegnungen schreibt sie nieder und ihre Mutter, wie Großmutter schlagen vor, dies als Buch zu publizieren. Was eine gute Prämisse für eine mehrdimensionale, andere Art von Literaturverfilmung ist, wird leider zur einfältigen Vorlesestunde. Eine Text-Bild-Schere gibt es nicht: Wir sehen immer nur, was die Protagonistin scheint vorzulesen, andere Ebenen sucht man vergeblich (und das in einem Film der sich Dreams nennt). Der Text und dessen Kommentar wird unaufhörlich drübergesprochen. Kein Bild, kein Blick, keine Figur darf für sich stehen. In seinen Tiefpunkten bricht der Film das dann auch noch ironisch, was eigentlich nur zeigt, wie wahnsinnig ernst er sich ansonsten nimmt. – Noah Mrosczok
Scheiß auf die Kinder: Ernesto Martínez Bucio greift ein spannendes Thema auf. Was machen, wenn einem der Alltag völlig über den Kopf wächst, vor allem wenn man gleich fünf Kinder und eine etwas durchgeknallte Großmutter in einem Mittelklassehaus in Mexiko City zu versorgen hat. Erst haut die als Krankenschwester arbeitende Mutter ab und dann ist auch der Vater weg. Was Bucio dann aus diesem aufregenden Alltagsdrama macht, ist nur schwer zu ertragen: überlange Alltagsszenen nervender Kinder, redundante Videoclips aus scheinbar glücklichen Familienzeiten, ein zunehmender Kontrollverlust über das Narrativ und eine damit bei diesem aufregenden Thema mehr und mehr aufquellende Langeweile, die nicht einmal durch die Besuche des Jugendamtes gebrochen wird. Was bleibt, ist die immer wieder interessante, aber meist zäh-dokumentarische Beschreibung von Alltag (inkl. Papstbesuch) in einem der größten Städte der Welt. Und den Teufel? Hätte sich Bucio wie so vieles in diesem Film sparen können. – Axel Timo Purr
Im Wohnmobil durch Argentinien. Oma, Lebensgefährte und Enkelin Anika machen sich auf zur Mutter der letztgenannten, unterwegs verdienen sie sich Geld mit einer speziellen Dienstleistung: Anika kann mit Tieren kommunizieren, die kryptischen Erkenntnisse werden an Haustierbesitzer*innen auf Nachfrage verkauft. Doch die Handlung ist nur Nebensache, der Motor für eine stille Meditation über die Kindheit auf den Highways. In wundervollen schwarz-weiß Bildern erzählt sich dieser Film, ordnet ihnen alles unter, gibt ihnen Zeit ihre hypnotische Wirkung zu entfalten. Blicke aus dem Fenster bei voller Fahrt, die paradiesischen Nicht-Orte dieses Lebensgefühls: Tankstellen mit billigen Sandwiches, Spielhallen voll Taschengeld verschlingender Greifautomaten. Poetisches Atmosphärenkino, man vertraut diesem Film. – Benedikt Guntentaler
Vergiss die Beute! Das München der 70er: In schönsten schwarz-weiß Bildern erzählt uns Thome Gangsterkino. Banküberfall, Flucht vor der Polizei, Liebe, Verrat, Habgier, Geld. Ganz nach Godards »Für einen Film braucht man nur eine Waffe und eine Frau« also. Dennoch fällt der Film ungewöhnlich aus, bleibt Krimi, interessiert sich aber für keine Spannungskurve. Es wird durch München flaniert, geraucht was die Lunge hergibt, geflirtet und gescherzt, bei Cartier mit 100.000 Bar
bezahlt. Lässig geht es hier zu, gemächlich und ausschweifend, selbst der entführte Sohn hat noch einen schönen Tag im Zoo. Was soll man denn auch machen mit dem vielen Geld, Wohnungen kaufen, oder Aktien, klar, doch bringen tuts einem ja doch nichts…
Thome war anwesend, er ist der letzte lebende Regisseur aus der Retro-Reihe. – Benedikt Guntentaler
Notwendige Tränendrüse. Und das ganz ohne musikalische Manipulation. Altenpflegerin Sofie unternimmt Hausbesuche bei ihren PatientInnen. Die Kamera schreckt vor nichts zurück, nicht vor Kot, Blut, Schwäche und Einsamkeit. Außer besagter empathischer Protagonistin – alleinerziehende Mutter und täglich am Spagat zwischen Gerechtigkeitssinn, Verpflichtung und Überlastung zu zerbrechen drohend – wurden alle (betagten!) Laien-SchauspielerInnen in der süddänischen Provinz bei einem offenen Casting aufgelesen. Diese besondere Intimität ist spürbar und verleiht nahezu dokumentarischen Charakter. Vielleicht ein neuer Fokus im Vergleich zu anderen Filmen, die auf Prekaritäten im Gesundheitssektor aufmerksam machen wollen: Auf Dauer kann Sofie nur eine gute Heldin sein, wenn ihr zu Hause bei der Care-Arbeit geholfen wird. Denn einsam und ohne eine gewisse Pflege mutieren alle Menschen zu Maschinen, und deren Einsatz wäre in sozialen Berufen fatal. – Anna Raab
Spätes Coming-of-Age: Rebecca Lenkiewicz Regiedebüt über eine junge Frau, die sich von ihrer gehbehinderten Mutter immer wieder düpieren lässt, ist eine so schwül inszenierte Emanzipationsgeschichte wie die Hitze des spanischen Sommers in Almería, wo sich Mutter und Tochter hinbegeben haben, um es mal mit einer alternativen Heilmethode für die leidende Mutter zu versuchen. So bizarr die Klinik, so grotesk die Begegnungen der Tochter, die ein heilsam lesbisches Coming-of-Age erleben darf. Hauptdarstellerin Emma Mackey darf sich gleich mehrfach von Feuerquallen verunstalten lassen und Vicky Krieps Rolle als gebrochen moralische Instanz und Sirene ist so abstrus wie der ganze Film, bei dem man sich am Ende nur fragt, wie er sich bloß in den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale geschmuggelt haben könnte. – Axel Timo Purr
Strand. Eine Frau kommt auf einem Pferd angeritten. Laut dem philippinischen Bomba-Genre-Kino ist das eine Szene, auf die sicher Sex folgt. So auch hier. In Rebecca Lenkiewicz Regiedebüt Hot Milk geschieht dies sogleich zwischen der leichtbekleideten Amazonin Ingrid (Vicky Krieps) und der am Strand fläzenden Sofia (Emma Mackey). Die wiederum lebt mit ihrer an den Rollstuhl gefesselten Mutter (Fiona Shaw) in Spanien, ist für sie eine Art Mädchen für alles und Punching Ball. Da bahnt sich Horror à la François Ozon an, der aber leider nicht eingelöst wird, auch Camp oder Kitsch kommen nicht. Stattdessen: Eifersucht auf die Liebhaber der polyamourösen Ingrid, holprige Szenen und stolpernde Dialoge. Das Ende des Films muss auf allen Ebenen als Verzweiflungsakt gelten. Da hätte man sich von der versierten Drehbuchautorin Lenkiewicz (Ida) mehr erwartet. – Dunja Bialas
Der Epilog des Grauens. Oder: Wie man einen handwerklich soliden Film in den letzten Minuten völlig zugrunde richtet. Der politische Thriller über einen aus dem Ruder laufenden Filmdreh – ein Koran wird verbrannt – beginnt als Spannungskino, eine Kombination aus falschen Entscheidungen, Unglücksfällen und Grundsatzdebatten, die keinen Ausweg mehr zulassen. Das unausweichliche Fiasko wird dabei nicht auf formalem oder dramaturgischem Weg erreicht, stattdessen verläuft sich der Plot immer mehr, endet im banalen Nichts – und zaubert dann den Epilog aus dem Hut. Der Film torpediert sich selbst, wirft den behutsamen Aufbau über den Haufen, nur für ein paar billige Lacher im Publikum. Er hat keinen davon verdient. – Benedikt Guntentaler
SCHREIKINO! Die Themen des Wettbewerbs bislang: Dysfunktionale Familien, Mutter-Tochter-Konflikt. Dieser Film reiht sich darin nicht nur nahtlos ein, er ist diese Themen. Rose Byrnes Figur muss sich um ihre schwer erkrankte Tochter kümmern, zudem fällt ihr die Decke auf den Kopf. Wortwörtlich, ein mysteriöses Loch in der Decke setzt ihre Wohnung unter Wasser. Das ist dann auch das intellektuelle Niveau dieses Machwerks, der Hektik für Stil ausgibt, Stress durch unendliche Kreischtiraden evozieren will. Niemand hört einander zu, die Psychiater gehen selbst zu Psychiatern und auch dort wieder nur: Geschrei! Ein paar makabre Gags schleichen sich unwirksam hinein, unterstreichen die Absurdität dieses nervtötenden Films. Dem Zuseher wird dabei nichts zugetraut; Wackelkamera, Nahaufnahme, Hirntod. – Benedikt Guntentaler
Ein Kamel verschwindet! Fuerteventura: Ein ambitionsloser Tennis-Coach (Sam Riley) gerät in die Beziehungskiste einer britischen Kleinfamilie. Es ist bemerkenswert, auf welche zwanghaft-einfallsreichen Ideen der Film stößt beim Versuch dem immer-gleichen kleinbürgerlichen Alltag, der im Urlaub zu seinem Höhepunkt kommt, ästhetisch und dramaturgisch zu entkommen. Tatsächlich faszinierend ist aber zu sehen, wie der Film im eigentlich banalen Scheitern dieses Versuchs vollkommen aufgeht und sich damit selbst genau wie der kleinbürgerliche Tourist verhält – und wie gern man dem zuschaut. – Noah Mrosczok
Film als Therapie. Was die sudanesische Literatur schon seit Jahren geleistet hat, dem nimmt sich nun endlich auch ein sudanesischer Film an, der zwar in der Kürze von 80 Minuten keine historischen Analysen bewerkstelligen kann, aber dafür andere, sehr wichtige und gegenwärtige Fragen stellt. Der einerseits den Alltag seiner fünf Protagonisten in den Revolutionsjahren bis zum Beginn des gegenwärtigen Bürgerkriegs vor mehr als einem Jahr zeigt, dann aber in beeindruckenden Momenten diese Menschen im Exil zeigt und sie über Reenactments vor der Kamera ihre erlittenen Traumata nachstellen lässt und immer wieder Kernfragen dieses Kulturraums nachgeht wie der nach arabischen und afrikanischen Identitätskonflikten. Das führt nicht nur zu einer bewegenden Katharsis, sondern macht diesen Film auch zu etwas sehr Besonderem. Denn was hier passiert, lässt sich auf jedes migrantische Umfeld übertragen und macht Migration nicht nur transparent, sondern auch zutiefst „menschlich“. – Axel Timo Purr
Stimmungsintensives Kauderwelsch. Da helfen auch die von Lucile Hadžihalilović betonten Referenzen zu Hirokazu Koreedas La Vérité – Leben und lügen lassen (2019) und dem Werk Georges Méliès, das unter anderem das Szenenbild des Films inspiriert hat, nicht. Wie hier das großartige Märchen »Die Schneekönigin« von Hans Christian Andersen in einem 1970er-Jahre Filmsetting verschwurbelt wird ist, nicht nur schrecklich pathetisch, sondern auch grottenlangweilig. Ein bisschen Spaß machen immerhin all die Neubesetzungen, von den Krähen bis zu den eisigen Küssen, die hier natürlich nicht ein männliches Kind sondern zeitgemäß ein jugendliches Mädchen berühren und statt sie zu binden, letztendlich befreien. Tränen, die die Verblendung über unsere eisige Gegenwartsmoderne, schmelzen lassen, braucht es hier nicht, aber leider ist damit auch Andersens subtile Kritik an unserer eiskalten, alles tötenden Moderne dahin und damit eigentlich alles nur noch larifari und überinszeniertes, aber immerhin stimmungsintensives Kauderwelsch. – Axel Timo Purr
Der Kuss der Eiskönigin. Die verschneiten, sich hoch auftürmenden Berge in den Savoyen in den Siebzigern sind die Kulisse für einen Märchenfilm, der ziemlich schnell in die Metaebene gleitet, in den Film im Film. Gedreht wird »Die Schneekönigin«, Marion Cotillard spielt sie mit bebenden Wimpern. Alles glitzert in diesem Märchen-Universum, von dem Jeanne, hinter den Kulissen versteckt, träumt. Sie ist aus einem Kinderheim in den Bergen geflohen, hat die Identität einer Schlittschuhprinzessin auf dem Eis angenommen, nennt sich Bianca. Die Ebenen verschwimmen, das Begehren des Märchens und auch im Märchen zeigt sich als Sehnsucht nach einer grausamen und trotzdem heilsamen Welt. Lucile Hadžihalilović belebt den französischen Märchenfilm der Siebziger wieder und nimmt das Märchen in einer Welt der Armut und der Waisenkinder après guerre, nach dem Krieg, ganz und gar real. – Dunja Bialas
Gefrorener Blick. Viel versammelt sich in diesem schönen Film, nur wenig tritt tatsächlich zu Tage. Zwischen Wunsch und Enttäuschung, Dominanz und Subordination, Leben und Film entwirft Hadžihalilović eine kalte, melancholische Welt. Ein lupenreines Märchen, das nicht in Symbole zerfällt, vage und andeutend bleibt, selbst das Allerschlimmste mit einem gewissen dunklen Reiz versieht. Cotillard ist wunderschön in diesem Film, spielt die tragische Diva brillant. Als Enigma, als Mythos – als böse Hexe, die doch der Star bleibt. Ambiguitäten also, die sich psychedelisch vermischen, langsam und soghaft in eine Welt entführen, die nichts Fantastisches bleiben muss, die Gedanken, Trauer und Schönheit freimütig in Bilder übersetzt, die sich nicht der Wahrheit verschrieben haben, subjektiv bleiben dürfen. – Benedikt Guntentaler
Die amerikanische Kindheit feiert ihre Rückkehr. Das natürlich nicht sentimental, sondern als traurige Hinführung zum aktuellen politischen Diskurs. In eine Handvoll Kapitel unterteilt findet eine Reise von den 60er Jahren in die Moderne statt, eingeleitet durch Aufnahmen von Händen (entliehen von 8 – 81 jährigen Schauspielen), die Revell-Modelle bemalen, und endend in einer statischen Fotografie der fertigen Miniatur. Das (kindliche, naive) Erschaffen künstlicher Welten, die dann in ihrer Vollendung entfremdet werden, geschluckt und determiniert durch weltliche, politische Umstände. Ein deprimierender, trauriger Film; poetisch in seinem Minimalismus. Wie die Welt verändern, wenn sie stets einen Schritt voraus zu sein scheint? – Benedikt Guntentaler
Vom Saurier zur Atombombe: James Benning erkundet die (amerikanische) Zivilisations-Geschichte, anhand prägnanter Redeausschnitte von Präsidenten (Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, Ronald Reagan) und Aktivist*innen (Stokely Carmichael, César Chávez, Severn Cullis-Suzuki), die in Bezug zur Gegenwart erschreckend visionär wirken. Bennings strenge filmische Installation lässt keinen Eskapismus in die Kontemplation zu wie sonst bei ihm: Dies hier ist eine verzweifelte Abrechnung und eine Mahnung. Die Unschuld der Hände, die Bauteile für das Jungsspielzeug einer Modelleisenbahn bemalen, ist definitiv verloren. Benning exponiert sie in Einstellungen, die einem didaktischen Lehrfilm entstammen könnten. Dazu hören wir Songs von Ricky Nelson über Pete Seeger bis Catpower, alle prägend für Benning und sein 82-jähriges Leben. – Wolfgang Lasinger
Auf die Spuren eines Genozids im peruanischen Amazonasgebiet begibt sich Tatiana Fuentes Sadowski. Ihre Familie hat Wurzeln bei den Kautschuk-Baronen, deren brutale Exploitation indigene Stämme am Putumayo in Peru und Brasilien bei der Rohstoff-Gewinnung für Gummi auslöschte. Huitoto, Andoque, Ocaina, Nonuya, so ertönen die Namen der Ethnien beschwörend zu den faszinierend flackernden Bildern aus dem Regenwald. Die Regisseurin montiert Archivmaterial mit sichtlichen Verschleißspuren (etwa von dem Portugiesen Silvino Santos, der in den 1920er Jahren am Amazonas anthropologische Dokumentationen erstellte). Diese Aufnahmen kombiniert sie mit selbst gedrehtem und verfremdetem Super8-Schwarz-Weiß. Eindringlicher Filmessay, der das Untilgbare kolonialer Gewalt dem filmischen Material förmlich einprägt. – Wolfgang Lasinger
The same river twice. Wer sich noch an die Berlinale 2012 und Timo Vuorensolas Quatsch-Science-Fiction Iron Sky erinnert, wird bei Bong Joon Hos Weltpremiere von Mickey 17 auf der diesjährigen Berlinale ein paar Déjà-vus schlucken müssen. Aber neben diesen grotesken, schwarz-humorigen Blödeleien, die dem an sich aufregenden Setting leider immer wieder die Luft nehmen, vermurkst Bong Joon Ho in seinem Science-Fiction auch interessante Aspekte: ein Wiedergänger Trump/Musks ist genauso dabei wie überhaupt eine gnadenlose Kritik am gegenwärtigen Populismus mit seinen grotesken Neonazi-meets-evangelikale-Irre-Elementen. Aber fast noch spannender ist die Beschäftigung mit dem ewigen Leben, und eine Reaktivierung von Cyberpunk-Klassiker wie Richard Morgans Altered Carbon, das von dem großen Helden dieses Films, Robert Pattinson als Mickey 17 und 18, grandios verkörpert wird und dessen Spiel an Jim Carrey in seinen besten Zeiten erinnert. – Axel Timo Purr
Stille Wucht. Constanze Klaues Adaption des Romans von Lukas Rietzschel (2018) geht unter die Haut. Und das nicht nur wegen des großartigen Ensembles, bei dem auch – für deutsche Verhältnisse nicht selbstverständlich – die Kinderdarsteller überzeugen. Aber dann ist da auch diese umwerfende Geschichte aus der Lausitz, geplatzte Träume, versehrte Lebenslinien und ein abgehängtes Deutschland, dass sich den Rassismus gewissermaßen selbst erfindet, um sich nicht zu suizidieren. Das Schweigen unter einer Glasglocke ist von Klaue bis ins letzte Detail subtil inszeniert, die Leerstellen sind pointiert platziert und mit dem Zeitsprung aus dem Jahr 2006 ins Jahr 2015 wird dann irgendwie auch der ewige Schatten der DDR-Sozialisierung abgeworfen. Das dieser Sprung die Dinge nicht besser macht, ist das eigentliche Drama unserer Gegenwart, denn was bleibt, ist das dunkle Nichts des zu gebärenden Weltgotts. – Axel Timo Purr
Im Westen was Neues. Die Adaption des gleichnamigen, mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Romans von Richard Flanagan als fünfteilige Serie überzeugt in dem auf der Berlinale gezeigten ersten Teil durchaus. Nicht ist die Perspektive auf den 2. Weltkrieg einmal nicht wie sonst üblich eurozentristisch, sondern erzählt über den bei uns kaum bekannten Krieg in Asien und das Aufeinandertreffen von Japanern und Australiern Vor allem Kurzels Entscheidung, die natürlich der Vorlage geschuldet ist, das Kriegsgeschehen in nur relativ kurzen Episoden zu abzuhandeln und wie in Michael Ciminos Vietnam-Klassiker Deer Hunter, mehr vom harmonischen Davor und traumatisierten Danach zu erzählen, ist beeindruckend umgesetzt. – Axel Timo Purr
Ein Teenager ohne Handy: Wir sind im Jahr 1979. Fernando Eimbcke erzählt wie schon in Lake Tahoe vom emotionalen Reifungsprozess eines Jugendlichen: der 14-jährige Olmo lebt mit Schwester und Eltern in prekären Verhältnissen in New Mexico, wo sich Spanisch und Englisch vermischen. Der Vater ist bettlägrig und braucht ständige Pflege. Auch Olmo ist immer wieder an der Reihe, gerade wenn er mit seinem Kumpel Miguel von der angehimmelten Nachbarstochter zu einer Party eingeladen wird. Eimbcke versteht es meisterhaft, die ernstesten Situationen überraschend ins Komische kippen zu lassen, auf ganz unforcierte Weise. Besonders hervorzuheben ist die liebevolle Ausstattung: Autos, Klamotten, technische Geräte wie Plattenspieler und nicht zuletzt die Musik. Und unbedingt sollte man den gesamten Abspann anschauen – wie schon bei »Lake Tahoe ist da das wunderschön traurige Traditional La Llorona zu hören: ¡Ay, de mí, llorona! – Wolfgang Lasinger«
»I clean for women.« Paul ist ein Stubenhocker und beschließt nicht nur wegen seines adipösen Gewichts, seine Komfortzone zu verlassen. In der Welt der Social Media bietet er seine Dienste für Frauen an, die ihn ordentlich herumscheuchen – als Domina. So wird er der Cleaning Man für Frauen mit besonderen Bedürfnissen. Denis Côté steigt ein in seine Abenteuerreise, in der Paul wie Alice hinter den Spiegel blickt, und zugleich die Spiegel stets selbst produziert: Paul generiert permanent Content über das, was er putzt, die Kühlschränke, den Herd, das Klo. Das geht im fertigen Insta-Reel ruckzuck, wie bei Meister Propper. Am Set seiner Tätigkeit aber ist er der Sklave. Ohne Voyeurismus filmt Côté die delikaten Seiten des Dominanzverhältnisses, nur eine Donut-Szene deutet die Imaginationen seiner Protagonist:innen mehr als an. Ein zärtlich umarmender Blick in eine verborgene Welt. – Dunja Bialas
Ein entzündeter Augapfel wird dem 14-jährigen Iván gleich zu Beginn des Films herausoperiert. Die Infektion springt augenblicklich auf das Filmmaterial über und die Schleusen zur Magie des peruanischen Regenwalds öffnen sich. Aus dem experimentellen Mix aus opakem Schwarz-Weiß und Farbe, aus Analog und Digital schält sich ein dokumentarischer Kern um einen schmierigen Schönheitswettbewerb heraus: die junge Meshia, die sich Iváns angenommen hat, gilt als Meerjungfrauen-Favoritin unter den Männern des abgelegenen Orts. Das begehrliche Auge, das sie auf Meshia geworfen haben, ist ebenso von bösen Geistern befallen wie Iván. Der zweifelhafte Heiler, der den Zauber bannen soll, scheint ihn aber eher zu vermehren. Eine verstörende Ambiguität prägt die rauen Bilder dieses Films. – Wolfgang Lasinger
Cattet & Forzani go Eurospy: Der Fetisch des Duos für den italienischen Genre-Film der »60er hat sich nicht mit Giallo (Amer), Western und Gangsterfilm (Laissez bronzer les cadavres) erschöpft. Ihre Mischung aus filmischem Fiebertraum und Dekonstruktion taucht nun in die Welt von ›Diabolique‹ & Co., mit Killerinnen in Lederoveralls, absurden Gadgets, binärer Weltsicht, aber endlos fluiden Masken-Identitäten. Der große Fabio Testi ist ein seignoraler Hotelgast an der Côte d«Azur, der sich entweder an seine Karriere als Geheimagent, als Schauspieler, oder an Groschenromane erinnert. Alles nur ein Traum? Ja eh, aber halt was für einer! Schön, auf der Berlinale erinnert zu werden, dass Kino, dass Sehen auch orgasmisch, manisch sein kann. – Thomas Willmann
Arbeiterinnen erinnern sich. Dokumentarfilmer Gerd Kroske (DER SPK KOMPLEX) hat in den Archiven des Leipziger Piratensenders Kanal X Aufnahmen aus den 1990ern gefunden, in denen sich Frauen an ihre Arbeit in klassischen Männerberufen in der DDR erinnern. Sie haben Schwertonner gefahren, Technik überwacht, im Gleisbau geschuftet, viel in Schicht gearbeitet, mit reduziertem Privatleben. Die Kinderbetreuung ging genauso im Schichtbetrieb. Es ging um Verantwortung, erzählen sie, sie waren den Männern absolut gleichgestellt, nur in der Kraft gab es das Limit. Das änderte sich mit der Wende, die Betriebe wurden abgewickelt, entlassen wurden sie in eine Welt ohne Arbeit. Kroske stellt die Statements mit den Erinnerungen der Frauen heute gegenüber; er hat die Protagonistinnen aufgespürt und lässt sie ein zweites Mal Fazit ziehen. Ein reicher Einblick in eine verschwundene Arbeitswelt. – Dunja Bialas
Wie erziehe ich meine Eltern? Marielle erlangt nach einer Ohrfeige hellseherische Fähigkeiten und kann das Leben der Eltern in allen Details miterleben, selbst wenn sie nicht dabei ist. Ihr bleibt nichts verborgen: Der Sextalk der Mutter mit ihrem Kollegen, die Niederlage des Vaters in einem Meeting. Irritation und Panik machen sich bei den Eltern breit, Korrekturen im eigenen Verhalten und Sprechen werden angesetzt, gut gemeinte Botschaften an das zuhörende Kind ausgesendet, schließlich wird trotzig dem Unvernünftigsten überhaupt nachgegeben. Das ist alles lustig, erinnert an Das perfekte Geheimnis, nur wird statt dem Handy das die Geheimnisse preisgebende Kind sozusagen auf Tischmitte platziert. Letztlich bleibt in diesem Fernsehspiel mit der freudlosen Ausstattung deutscher Normhaushalte trotz gewolltem Witz alles fürchterlich moralinsauer. Benehmt Euch mal, Ihr Eltern! – Dunja Bialas
Ohne Lüge leben: zur Situation des Einzelnen in der Gesellschaft – daran ist schon der große Soziologe und Philosoph Arno Plack verzweifelt. In Frédéric Hambaleks kluger Versuchsanordnung wird dieser Anspruch über die großartig spielende und an die Königin von Niendorf erinnernde Laeni Geiseler als pubertierende Marielle eingelöst, die nach einer Ohrfeige plötzlich Gedanken lesen kann. Die Komödie ist hier nur Vehikel für den Ernst des Lebens und entsteht erst im Kopf des Zuschauers, der sich dieses gefährlichen Ethos nur durch Lachen entziehen kann. Was auf der Leinwand passiert, ist hingegen verzweifelte Tragödie, ein Ringen um Lieben, Leiden und Wahrhaftigkeit. Und dann ist da noch dieses Glück, nach ihrer großartigen Mutterrolle in Waren einmal Revoluzzer Julia Jentsch in einer ähnlichen Rollen zu sehen. Allerdings hätte das wichtige Thema, das subtile Drehbuch und das tolle Ensemble eine mutigere Umsetzung als die gepflegte TV-Ästhetik verdient. – Axel Timo Purr
Die kleine Andere. Das ist die titelgebende Marielle, die durch eine Ohrfeige magische Kräfte erlangt. Sie sieht und hört alles was ihre Eltern treiben, vom Sexgespräch übers Rauchen bis zum Versagen in der Arbeit. Was wie eine Horrorgeschichte klingt (wie traumatisiert muss dieses arme Kind sein?!), wandelt sich schnell zum psychologisierenden Brennglas: Wie verhalten sich die Eltern nun unter Beobachtung?
Das birgt ein paar gute Gags, gerade auf Seiten des Vaters,
erreicht aber keinen wirklich interessanten Punkt, endet im Moralischen. Es ist eine nette Idee, eine deutsche Twighlight-Zone, die als Fernsehfilm sicher großen Spaß macht, im Wettbewerb ob der blassen Kulissen, der umambitionierten Kamera, des schlichten Stils jedoch deplatziert wirkt. Gut gespielt, gut gemeint, da tut sich keiner weh. – Benedikt Guntentaler
Regisseur des digitalen Anthropozän. Die Tonalität des schrillen iPhone-Klingeltons, das beinahe neon-grün der Bäume, die blendend weißen Hintergründe, die verpixelte Karotte: Es ist immer die Medialität selbst, die in jedem Bild (und Ton) zu uns spricht. Das Biotop, der Garten, das Quaken der Frösche: Hong Sang-soo zeigt wie die digitalisierte Wahrnehmung – der Blick durch das iPhone auf die Welt – erst eine Auffassung von so etwas wie Natur und Natürlichkeit hervorbringt. Hierfür muss dem Betrunkenen erst gesagt werden, wie es um ihn steht, damit er merkt, dass er betrunken ist. Wie schade, dass man sich an diese Wahrnehmung sonst so schnell gewöhnt. – Noah Mrosczok
Das beste im Leben gibt’s doch immer umsonst. Eine bizarrere Überschneidung von Exilanten-Heimweh und Fremde-Schmerz gibt es wohl kaum. Eldins gebrochener Held Munir sinniert auf der Hallig Hooge über verlorene Mutter-Parabeln und psychosomatisches Exilantenweh. Die Kamera und Eldins Geschichte verliert sich dabei zunehmend in langen Einstellungen von Nordseelicht und Hallig-Grün, die zusammen mit einer aufkommenden Sturmflut und lyrische Sentenzen – »Er hatte nichts wie der Mond, wie Granatapfelblüten« – symbolisch aufgeladen werden. Also ob das nicht reicht, schwadroniert auch noch Hannah Schygulla Alltagsweisheiten in die Räume ihres kleinen Hotels. Etwas aufgelockert werden all die leeren Wort und Blicke durch Eldins präzisen ethnografischen Blick, der ein paar eigenartige Rituale der Halligbewohner in die Erzählung einbindet und damit auch seinen Helden endlich einmal zum Lachen bringt. – Axel Timo Purr
Ein anderes Leben. Nachdem die Entwicklung des Stoffes 2021 von der Initiative Der Besondere Kinderfilm gefördert wurde, ging es für diesen besonderen dokumentarischen Kinderfilm über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkusdirektor in Deutschland tatsächlich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erinnerungen des alten Mannes, die liebevoll animiert dargestellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien dargestellt, der verblüffender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbstverständlich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erinnerungen des Großvaters eindrucksvoll illuminieren. – Axel Timo Purr