10.04.2025
Cinema Moralia – Folge 349

Schlimmer geht's immer

Rote Sterne überm Feld
Feld mit Fortschritts-Banner
(Foto: FFMOP | Laura Laab)

Westdeutsche benehmen sich realistisch, Triggerwarnungen, Soft power und der zweite Pop-Versuch – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 349. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Make safe space a brave space!«
– Lana Haile­ma­riam

»Gegen Produk­tion hilft nur Gegen­pro­duk­tion.«
– Alexander Kluge

Herr und Knecht – wer dient hier wem? Film­fes­ti­vals sind die Diener der Filme, die sie zeigen. Diese Filme werden ihnen anver­traut. Teil dieses Vertrauens ist das Bewusst­sein dafür, dass es eine hoch­sen­sible Ange­le­gen­heit für Film­re­gis­seure und Film­pro­du­zenten ist, sich für ein Festival zu entscheiden – sie müssen davon ausgehen, dass an diesen Orten auf die best­mög­liche Weise mit ihrem Film umge­gangen wird; dass die Festivals ein Schutz­raum und ein ange­nehmer Präsen­ta­ti­onsort für diese Filme sind; dass auch Film­ge­spräche und Programm­mit­tei­lungen der Festivals eine vor allem dienende Funktion haben, also eine dem Film dienende Funktion, die das Best­mög­liche für den jewei­ligen Film zu erreichen versucht. Es ist keines­wegs ein Gnaden­er­weis eines Film­fes­ti­vals, einen Film zu zeigen, sondern es ist eher ein Vorschuss von Filme­ma­chern, einem Festival die Gunst zu erweisen, den Film zeigen zu dürfen.
Dieses Verhältnis sollte unter keinen Umständen umgedreht werden. Zunehmend aber spielen sich Film­fes­ti­vals auf, als seien sie die Könige und die Filme die Lakaien bei Hofe.

Dieses selbst­ver­s­tänd­liche Verhalten einzu­klagen, wie an dieser Stelle vergan­gene Woche geschehen – vergleiche Cinema Moralia 348 –, ist kein »Festi­val­bas­hing«, wie es der eine oder andere mit einer an sich schon frag­wür­digen Vokabel jetzt bezeichnen möchte. Sondern es ist das Erinnern der Festivals an ihre eigent­liche Aufgabe.
Die Tatsache, dass viele im Kultur­be­trieb ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, sondern etwas anderes machen, nicht zuletzt oft sehr gerne Neben­po­litik, führt am langen Ende dazu, dass Kultur­in­sti­tu­tionen zunehmend in ihrer Existenz gefährdet werden.

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Dem DOK Leipzig drohen massive Kürzungen. Wie das Festival vergan­gene Woche öffent­lich machte, plant der Freistaat Sachsen uner­wartet hohe Mittel­kür­zungen.
Der Regie­rungs­ent­wurf zum Doppel­haus­halt 2025/26 sieht unter anderem vor, die insti­tu­tio­nelle Förderung des Festivals um ca. 22 Prozent zu kürzen. Für die Umsetzung barrie­re­freier Angebote werden zudem keinerlei Mittel mehr bereit­ge­stellt.
»Wir haben mit Einschrän­kungen gerechnet und dementspre­chend im Team bereits verschie­dene Einspar­mög­lich­keiten disku­tiert«, so Festi­val­leiter Christoph Terhechte, »jedoch sind wir über­rascht von den über­pro­por­tional starken Kürzungen. Für vergleich­bare Kultur­in­sti­tu­tionen sieht der Entwurf eine Verrin­ge­rung der Mittel von etwa 10% vor.«
Einschnitte in der Programm­pla­nung würden nicht ausbleiben. »Ange­sichts der unver­meid­baren Einspa­rungen bemühen wir uns intensiv, das Quali­täts­ni­veau des Festivals zu halten. Mittel­fristig werden wir aller­dings mit den Preis­ent­wick­lungen nicht mithalten können, sollten die Mittel­kür­zungen in der geplanten Höhe umgesetzt werden. Dies könnte DOK Leipzig ernsthaft beschä­digen«, betont Terhechte. (Dazu auch unser Podcast diese Woche, in dem wir mit Christoph Terhechte zum Thema sprechen).

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»Man kann einfach lospissen, irgend­je­mand stellt sein Bein schon drunter.« – Berliner Straßen­weis­heit, zitiert von Hannah Ehrlich­mann, Haupt­dar­stel­lerin von »Rote Sterne überm Feld«.

Wie eine Kampagne nach hinten losgeht, konnte man jetzt beim Film­fes­tival »Achtung Berlin« beob­achten. Das macht den Fall zu einem grund­sätz­li­chen Beispiel für das Funk­tio­nieren der digitalen Öffent­lich­keit.
Wir hatten letzte Woche darüber berichtet, wie selbst­er­nannte Akti­visten einen Film verhin­dern wollten, weil Rammstein-Musiker Till Lindemann in ihm eine Neben­rolle spielt. Davon einmal ganz abgesehen, dass sich das Festival wider besseres Wissen in eine Kampagne hat einspannen lassen und dadurch aus margi­nalen und vernach­läs­sig­baren Wort­mel­dungen einen Fall gemacht hat, über den die komplette über­re­gio­nale deutsche Presse berich­tete – und dabei glück­li­cher­weise »artechock« sogar in der »Frank­furter Allge­meinen Zeitung« zustim­mend zitiert wurde – abgesehen auch davon, dass einer der Haupt­an­kläger einen Vertrag mit der Plat­ten­firma von »Rammstein« hat und man sich in der letzten Woche manchmal fragen konnte, ob es doch gar nicht Dummheit war, sondern Infamie, die ihn antrieb, abgesehen also davon, zeigten sich hier auch alle anderen unguten Facetten unserer über­ner­vösen Empfind­lich­keits­ge­sell­schaft.

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Es war eine krasse Erfahrung, der aufge­zwun­genen »Diskus­sion« über den Film nach der Premiere am Sonntag im Grünen Salon der Volks­bühne zuzuhören.

Bei einem Film, den lauter Frauen gemacht haben, wird von lauter Frauen, die sich Femi­nis­tinnen nennen, nur über einen Mann gespro­chen.

Wir lernen, dass sich Festivals mit dem schwach­köp­figen Verhal­tens­kodex selbst die Probleme ins Haus holen.

Wir sehen, dass ein Festival auf Instagram zuerst die eigene Pres­se­mit­tei­lung postet, dann aber, als die Reaktion nicht wie erwartet ausfällt, weil nicht alle Insta-User dumm sind, und das Festival plötzlich kriti­siert wird, das Festival nicht nur die Kommen­tar­funk­tion abschaltet, sondern alle Kommen­tare löscht – und behauptet, das sei keine Zensur.

Wir erleben, dass Leute, die vorher wissen, dass Till Lindemann mitspielt und deswegen hingehen, eine Trig­ger­war­nung wollen.

Eine wich­tig­tue­ri­sche Anti-Lindemann-Fraktion mit Schaum vorm Mund nutzt den Namen des Sängers, um sich selbst in Szene zu setzen – und damit im übrigen nur Lindemann ins Spiel bringen und die Rammstein-Fans ins Kino. Das zu merken, sind sie aber zu dumm.

Abgesehen davon ist Rote Sterne kein Film über ihn; Lindemann ist hier gerade mal eine Minute von 135 Minuten im Bild. In sehr beson­deren Szenen, die mit der »Reizfigur«-Lindemann souverän spielen.

Das alles ist eine sehr überlegte Entschei­dung der femi­nis­ti­schen Regis­seurin Laura Laabs – die jetzt von männ­li­chen Femi­nismus-Vertei­di­gern erklärt bekommt, warum sie das nicht hätte tun sollen.

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»Kunst muss weh tun dürfen«, sagte Regis­seurin Laura Laabs bei der Premiere. Sie erklärte, warum sie gegen Trig­ger­war­nungen ist: »Trig­ger­war­nungen führen Kunst an sich ad absurdum.«

Als sie vom Festival bezie­hungs­weise den oppor­tu­nis­ti­schen Kino­be­trei­bern des Wolf-Kinos und des fsk, im letzteren Fall aus Angst vor linken »Akti­visten«, die ihre Gewalt­be­reit­schaft mangels Objekt am Kino ausleben, gezwungen wurde, vor »einem Darsteller ab Minute 50« zu warnen, ließ Laabs ergänzen:
»Es kommen im Film übrigens Neonazis vor, echte Nazis, SS-Uniformen, Richard-Wagner-Musik, ein Reichs­adler, Völker­mord, Krieg, Kinder sterben und Eltern überleben, die Vergan­gen­heit der RAF, die Vorgänge in Bad Kleinen, ein Windrad wird gesprengt, Tiere werden geschlachtet und gegessen, West­deut­sche benehmen sich realis­tisch, und derglei­chen mehr.«
Darob gab es schal­lendes Gelächter im fsk-Kino. Immerhin das!

Haupt­dar­stel­lerin Jule Böwe brachte bei der Diskus­sion im Grünen Salon die ganze Sache auf den wahr­schein­lich entschei­denden Punkt: »Viel­leicht bin ich naiv, aber ich verstehe nicht, wie es sein kann, was hier passiert: Sollen wir in Zukunft vor jeden, der von keinem Gericht verur­teilt wurde, eine Trig­ger­war­nung setzen? Also vor jeden unbe­schol­tenen Bürger?«

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Das Ergebnis war dann trotzdem positiv. Weil ein paar Leute die Nerven behielten, und weil Argumente gele­gent­lich doch über­zeugen. Die Kampagne bewirkte, dass plötzlich alle den Film sehen wollten, und alle Medien darüber schrieben. Und dann waren die Kritiken auch noch positiv.

Schließ­lich war auch die Jury überzeugt und gab dem Film vier Preise: Laura Laabs gewann den Preis für den Besten Film und das Beste Drehbuch. Carlos Vasquez bekam den Preis für die Beste Kamera und Ameri­ka­film den für die Beste Produk­tion.

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Noch fehlt die letzte offi­zi­elle Bestä­ti­gung, aber alles spricht dafür, dass Joe Chiallo (CDU) der neue Kultur­staats­mi­nister werden wird.

Ein Mensch ganz ohne Erfahrung in der Politik wird ein schwacher Minister ohne Hausmacht sein, außerdem ein Minister, der seit seiner kurzen Amtszeit als Berliner Kultur­se­nator vom kompletten Kultur­be­trieb inklusive dem CDU-nahen Kultur­be­trieb überaus kritisch beäugt wird.

Damit, dass sie dies nicht verhin­dert hat, beweist die SPD einmal mehr – wie schon bei der letzten Besetzung des gleichen Amtes mit Claudia Roth, dass ihr die Kultur überhaupt nicht am Herzen liegt, sondern am Hinter­teil vorbei geht, dass dies für sie ein unwich­tiger Neben­schau­platz der Politik ist und sie immer noch nicht erkannt hat, dass hier die Softpower der Zukunft liegt.

Leider ist der Hamburger Kultur­se­nator Carsten Brosda ein Solitär in dieser Partei.

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»So long, Rainer Rother« sagt die Deutsche Kine­ma­thek. Nach 19 Jahren verab­schiedet sich der Künst­le­ri­sche Direktor Rainer Rother. Am 1. Mai 2025 tritt der Film­his­to­riker in den Ruhestand.
Rother verant­wor­tete rund 50 Ausstel­lungen und inter­dis­zi­pli­näre Tagungen, wie »Hitler darstellen«. Die Inte­gra­tion des Fern­se­hens in den Aufga­ben­be­reich der Kine­ma­thek förderte er früh, das Filmerbe-Festival »Film Restored« gehört dank des Enga­ge­ments Rothers fest zur DNA der Kine­ma­thek.
Rother übergibt die Insti­tu­tion in einem Augen­blick des Übergangs und der Unsi­cher­heit: Im November wieder­eröffnet die Kine­ma­thek ihr Haus am neuen Standort im Berliner »E-Werk«. Die Nachfolge der künst­le­ri­schen Leitung übernimmt im Juni Heleen Gerritsen, deren Ernennung viele in der Branche über­raschte.

(to be continued)