»Vielleicht ist Gott ein Relativist?« |
||
Mehr als ein Sandalenfilm |
Alejandro Amenábar wurde 1972 in Chile geboren. Nach dem Pinochet-Putsch musste die Familie ins Exil gehen, und Amenábar wuchs in Madrid auf. Nach dem Studium in Madrid drehte er 1996 seinen ersten Spielfilm Tesis, der sieben Goyas gewann. Sein zweiter Spielfilm Abre los ojos folgte 1997. Seit dem Horrorfilm The Others (2001) gilt Amenábar als wichtigster spanischer Regisseur neben Pedro Almodóvar. 2004 behandelte Das Meer in mir das Thema Sterbehilfe. Jetzt kommt Amenábars neuer Film Agora – Die Säulen des Himmels ins Kino. Mit Alejandro Amenábar sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Sie sind ein ungemein wandlungsfähiger Regisseur. Auf Ihre Horrorfilme Open Your Eyes und The Others folgte das Sterbehilfe-Melodram Das Meer in mir. Danach hätte niemand von Ihnen einen Sandalenfilm erwartet. Woher kam die Idee für Agora?
Alejandro Amenábar: Es geht bei mir immer damit los, dass ich Urlaub mache. Da kommen mir die Ideen für meine neuen Filme. Der für mich interessanteste Aspekt an Agora ist der Konflikt zwischen Wissenschaft und religiösem Glauben. Er hat die zweitausend Jahre Astronomiegeschichte bis heute bestimmt. Noch vor vier Jahren habe ich mich
überhaupt nicht für Astronomie interessiert. Aber eines Abends während des Urlaubs konnte ich nicht schlafen, und blickte in den Nachthimmel. Und da sah ich die Milchstraße, als wäre es überhaupt das erste Mal. Das ließ mich nicht mehr los. Ich begann astronomische Literatur zu lesen. Ich entdeckte die Arbeiten und TV-Dokumentarfilme von Carl Sagan. Er beschäftigte sich mit der Frage von intelligentem Leben auf anderen Planeten und kalkulierte die Wahrscheinlichkeit, dass es
so etwas gäbe. Mir haben seine Überlegungen sehr eingeleuchtet, nach denen es sehr wahrscheinlich sei, dass es nicht nur irgendein Leben auch anderenorts geben könnte, sondern dass viel dafür spricht, dass einige dieser Zivilisationen der unseren sehr nahe stehen: Dass sie zwei Augen haben, Elektrizität, Fortbewegungsmittel, die unseren Autos ähnlich sind, etc. Mit Freunden unterhielt ich mich darüber die Möglichkeit von solchen anderen Zivilisationen.
Überraschenderweise für mich hielt kaum einer meiner Freunde die Möglichkeit von Leben jenseits der Erde für möglich.
Ich war mehr und mehr von dem Thema fasziniert, ich las und las.
artechock: Und so kamen Sie auf die Kosmologin Hypatia, die bisher nur Experten bekannt war, aber nun in Ihrem Film fast eine philosophische Actionheldin wird…
Amenábar: Genau! In den zweieinhalbtausend Jahren der Wissenschaftsgeschichte unseres kosmologischen, physikalisch-astronomischen Weltbildes, von Pythagoras über Kepler zu Einstein, gab es eine einzige Frau: Hypatia. Und sie wirkte an einem entscheidenden Moment der Geschichte: Dem Ende der antiken Welt mit ihren vielen Göttern, dem Beginn des vom Monotheismus des Christentums und dessen totalitärem Alleinvertretungsanspruch dominierten Mittelalters. Ein Sandalenfilm ist Agora nur geworden, weil diese interessante Frau eben in dieser Zeit lebte. Carl Sagan hat sie in der ersten Folge seiner Serie Cosmos erwähnt, er hat gesagt, wenn er zurück in der Zeit reisen könnte, würde er exakt in diesen Moment reisen: Ins Alexandria von Hypatia. Der Film ist durchaus eine Würdigung. Eine Würdigung dieser Frau, die sich sehr nahe an der historischen Wahrheit bewegt.
artechock: Weil sie die Fakten ohne Schönfärberei erzählen, geht die Geschichte auch nicht gut aus: Hypatia wurde von fanatischen Christen ermordet…
Amenábar: Ja, es ist die Geschichte einer Niederlage: Objektive Wissenschaft unterlag dem Furor der Religion. Aber offen gesagt: Ich mag die Vorstellung, dass jemand für seine Ideen stirbt. Dass sie es ernst meinte. Hypatia starb aus zwei Gründen: Zum einen, weil sie sich nicht taufen lassen wollte, zum anderen, weil sie eine Frau war. Eine einflussreiche Frau.
Ich liebe die Widersprüchlichkeit dieser Geschichte. Man kann in Agora natürlich einen antichristlichen Film sehen. Aber die Figur der Hypatia steht zugleich Jesus Christus so nahe, wie keine andere in dem Film: Sie ist offen, aufgeschlossen, human, am Ende wird sie gefoltert und für ihre Ideen getötet. Das ist die gute Seite des Christentums, die ich auch zeigen wollte. Zugleich ist dies ein Film gegen Fundamentalismus, gegen die Haltung, Andersdenkende für ihr Denken zu töten.
Hypatia war eine Aufklärerin: Sie war keine Atheistin, sondern glaubte an einen rationalen Gott: Sie hatte Christen als Schüler, Juden. Was klar ist: Sie wollte keine Christin werden. Sie starb lieber, als sich taufen zu lassen und zu Kreuze zu kriechen.
Diese Zeit und diese Welt hat sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun. Wir dachten, wir würden einen historischen Film machen, aber tatsächlich haben wir einen Film über die Gegenwart gedreht. Zumal die Kosmologen Alexandrias auch im Vergleich zu den monotheistischen Religionen eine tolerantere, pluralere Auffassung hatten – Kosmologie war ja auch ein Zweig der Philosophie, keine Religion. Die kosmologische Hauptthese lässt sich sehr einfach zusammenfassen: Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll, wie das die Religionen implizit tun.
artechock: Gerade scheint die Religion ins Autorenkino zurückzukehren: Ob die neuen Filme von Haneke, von Trier, Dumont oder Jessica Hausner – immer steht auf die eine oder andere Art Religion im Zentrum. So auch in Agora. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Amenábar: Überhaupt nicht, mich wundert diese Koinzidenz auch. In meinem Fall ist die große Rolle, die Religion in Agora spielt, fast schon ein Zufall. Ich wollte ursprünglich etwas ganz anderes: Ich wollte keinen Film über Religionen machen, sondern einen Film über Kosmologie – allerdings aus spiritueller, philosophischer Perspektive. Wenn wir heute an Astronomie denken, dann denken wir als erstes an Physik, an Umlaufbahnen, Formeln und mathematische Gleichungen. Für mich hat Astronomie aber auch einen sehr spirituellen Aspekt. Wir erkennen uns durch sie als Teil des Universums. Die Erfahrung möchte ich auch dem Publikum vermitteln.
Was dann geschah, als wir für das Drehbuch die historischen Ereignisse recherchierten, und nach den interessantesten Figuren unter den Wissenschaftlern von Alexandria suchten, um schließlich zu wissen, auf wen wir uns konzentrierten, den Held unseres Films also, da fanden wir diese Frau, die Philosophin Hypatia. Wir begriffen, dass man über ihr Leben und ihr Zeitalter ein unglaublich interessantes Gesamtbild entwerfen können würde. Denn zu dieser Zeit, um das Jahr 400, steigt das Christentum gerade zur offiziellen Religion auf. Diese Wende markiert das Ende des Römischen Weltreichs und den Beginn des Mittelalters. Genau darum spielt Religion eine derart bedeutende Rolle.
artechock: Kosmologie – können Sie etwas genauer erklären, was sie darunter verstehen?
Amenábar: Ja. Es geht mir nicht um zeitgenössische Atomphysik, sondern um die antike Kosmologie, um den Versuch, das Wissen von der Welt in einer ganzheitlichenm trotzdem immer rationalen Theorie zusammenzufassen. Das musste dann die Sterne, den Weltraum, Naturwissenschaften, aber auch die Auffassung von den Göttern beinhalten. Im Verhältnis zu den seinerzeitigen monotheistischen Religionen hatten die antiken Kosmologen
eine tolerantere, pluralere Auffassung – Kosmologie war ja auch ein Zweig der Philosophie, keine Religion.
Die kosmologische Hauptthese lässt sich sehr einfach zusammenfassen: Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll.
Um die Brisanz dieses Satzes zu verstehen, muss man sich diesen berühmten Ausspruch von Einstein ins Gedächtnis rufen: »Gott würfelt nicht.« Klingt erstmal toll und sehr demütig. Aber der Satz war eigentlich nur Polemik gegen die Quantenphysiker. Im Gegenteil: Es ist im Prinzip die pure Anmaßung. Vielleicht spielt Gott sehr gern mit Würfeln. Vielleicht ist Gott ein Relativist. Wer sind wir, um das zu entscheiden? Wir sollten uns keinen Gedanken verbieten lassen. So hat Bohr später auch gegen Einstein argumentiert.
artechock: War es schwierig, das antike Alexandria wiederauferstehen lassen? Ihr Film ist rein europäisch finanziert, und im Vergleich zu Hollywood-Produktion mit knapp 50 Millionen sehr billig…
Amenábar: Wir haben uns alle möglichen Filme angesehen. Viele historischen Filme, die heute gemacht werden, haben durch die neuen digitalen Möglichkeiten mit CGI und so weiter, Perspektiven und Bewegungen, die absolut unmöglich sind. Das wollte ich nicht. Ich wollte die Zuschauer in die Position von unmittelbaren Augenzeugen versetzen. Es sollte nicht »schön« aussehen, sondern realistisch und ausdrucksstark. Ich wollte Authentizität. Die Geographie der Stadt sollte stimmen. Es war eine Großstadt: Laut, schnell, kalt und brutal. Ich wollte eine Sicht der Dinge bieten, die so zeitgemäß wie irgend möglich ist – in ihrer Perspektive auf die historisch wissenschaftlichen Vorgänge ebenso, wie in stilistischer und filmtechnischer Hinsicht – ohne aber die historischen Ereignisse zu verraten, oder nur als lose Folie zu benutzen.
artechock: Agora ist zwar ein historischer Film, aber er wirkt ungemein aktuell – politisch wie weltanschaulich: Man kann sagen, er handle von Fundamentalismus, in dieser Welt der Spätantike finde ich viele Gemeinsamkeiten zu unserer Welt: Eine multikulturelle Gesellschaft, verschiedene Religionen im Wettstreit miteinander, zugleich enorme Fortschritte in den Wissenschaften, die unser Weltbild verändern…
Amenábar: …viel Chaos…
artechock: Kann man sagen, ja…
Amenábar: Tatsächlich gibt es unglaubliche Ähnlichkeiten zwischen heute und jener Epoche: Eine sehr sehr fortgeschrittene Kultur, die sich schnell verändert, die mit Traditionalismus und Restaurationen zu kämpfen hat. Die klügeren Menschen und Wissenschaftler sind Heiden, Religionen sind ein Phänomen der Armen und Ungebildeten, der Unterschichten. Die traditionellen Religionen erleben zugleich eine gewisse Dekadenz, einen
Verfall – wie das Christentum heute.
Ich will die Ähnlichkeiten im Film evident machen. Ich möchte, dass die Zuschauer, wenn sie meinen Film sehen, einen Schritt zurücktreten, und sich selber in dieser anderen Welt erkennen. Aus der Distanz gilt: So sehr haben wir uns nicht verändert. Aus einer Marsmenschen-Perspektive wäre das leicht zu erkennen.
Ich versuche mich selbst in meinen Geschichten immer zu ihrem Teil zu machen. Ich habe mich gefragt: Wo hätte ich gestanden? Wäre
ich ein Christ geworden? Hätte ich für meine Überzeugungen getötet?
artechock: Es scheint klar, dass Sie sich in diesem Fall mit der Heldin identifizieren, die von Rachel Weisz gespielt wird?
Amenábar: Das stimmt. Ja!
artechock: Also sind Sie ein Atheist? Sie kritisieren Religion als solche?
Amenábar: Nun ich kritisiere jede Art von religiösem Fanatismus. Und jede Form von Gewalt, die von Religionen ausgeht – auch die, die keine Waffen braucht, sondern gedankliche Gewalt, intellektueller Terror, der zum Beispiel gegen die Gedankenfreiheit und gegen die Freiheit der Wissenschaften gerichtet ist. Ich habe keinerlei Problem, über Religion und Glauben zu diskutieren. Oder über transzendentale Fragen. Die Probleme
beginnen dort, wo Menschen sich gegen Vernunft entscheiden, wo sich beginnen, den Tatsachen Zwang anzutun. Da ist es bis zur rohen Gewalt nicht mehr weit.
Das ist der eigentliche Inhalt von Agora: Er ist ein Statement gegen jede religiöse oder kulturelle oder politische Gruppe, die sich an irgendeinem Punkt entschließt, ihre Ideen mit Gewalt durchzusetzen. Ich denke, dass ich alle
Religionen in meinem Film fair behandle.
Es gibt auch innerhalb der Religionen – im Film, wie in der Wirklichkeit – immer Menschen, die moderat sind, die vermitteln wollen, die ihren Verstand benutzen. Wie Hypatia.
artechock: Hypathia mag ja vergleichsweise modern gewesen sein, aber sie war doch ein Kind ihrer Zeit: Man war human und liberal, aber man hatte Sklaven…
Amenábar: Die spätrömischen Jahre Alexandrias waren einer der hellsten, aufgeklärtesten Momente in der Zivilisationsgeschichte unseres Planeten. Die gebildeten Menschen dieser Zeit beschäftigen sich mit Philosophie, Astronomie, Poesie, Ethik, es gab ungemeine wissenschaftliche Fortschritte, Bürgerrechte für viele und eine relative Gleichberechtigung unter den Geschlechtern. Aber auch diese Leute hatten ihren blinden Fleck: Sie hatten Sklaven. Natürlich scheint das für uns sehr widersprüchlich. Aber selbst ein kluger Mensch wie der Philosoph Aristoteles war ein Verteidiger der Sklaverei. Einmal habe ich im Film Aristoteles zitiert: »Sklaven sind wie Tiere« schreibt er.
Es gibt daran nichts zu verteidigen. Aber wir sollten es uns auch andererseits nicht zu einfach machen: Es gibt heute in unserer Welt auch Sklaven. Sie heißen nur anders. Sie arbeiten bei Läden wie McDonalds, in chinesischen Fabriken für Waren, die bei uns in Billigshops landen sollen, oder bei uns zuhause als Putzfrauen – ihre Lage ist auch nicht grundsätzlich besser, als die antiker Sklaven.
artechock: Wo wir schon bei den Gemeinsamkeiten mit unserer Gegenwart sind: Sehen Sie solche Parallelen auch zu dem Untergang des Römischen Reiches, den Agora beschreibt?
Amenábar: Nun, die USA sind gewiss das Römische Imperium unserer Zeit. Natürlich erleben wir eine Krise: Nicht nur wirtschaftlich, sondern – viel wichtiger! – auch politisch und kulturell. Wir spüren, dass wir irgendwohin treiben. Wir glauben auch, dass es Zeit für Veränderungen ist. Weil ich Optimist bin, glaube ich nicht ernsthaft, dass wir in ein neues dunkles Mittelalter zurückfallen. Aber wir spüren doch alle, dass vieles gerade nicht gut läuft, dass wir Rückschläge erleben, und mit vielen Entwicklungen nicht zufrieden sein können.
artechock: Gibt es bestimmte persönliche Erfahrungen, die von Ihrer Seite eingeflossen sind? Man könnte an die aktuellen Debatten über religiösen Fundamentalismus denken? An die Terroranschläge in Spanien? Aber auch die Geschichte Ihrer Heimat kommt einem in den Sinn: Immerhin liegt der blutige Bürgerkrieg erst zwei Generationen zurück, die heute Alten haben noch persönlich erlebt, wie auch Religion zum Mittel des Kampfes wurde…
Amenábar: Ja, mit diesen Assoziationen liegen sie ganz richtig: Ich zeige einen antiken Bürgerkrieg, und natürlich habe ich da an den spanischen gedacht. Der Bürgerkrieg war ein Krieg um Religion.
Wir haben uns beim Schreiben überlegt: Was hätten wir gemacht?
artechock: Ist Agora ein optimistischer oder ein pessimistischer Film? Sie erwähnen am Ende den Astronom Johannes Kepler, der über 1000 Jahre später Hypatias Theorien bestätigte. Sie erhält also postum recht. Aber man könnte auch sagen, sie sei die Verliererin des Films?
Amenábar: Der Film zeigt die besten und die schlechtesten Seiten des Menschen. Ich denke Agora ist zunächst mal die Geschichte einer Niederlage. Der Niederlage der Vernunft. Die Vernunft sollte Bestand haben, und selbstverständlich versuche ich, immer optimistisch zu bleiben. Und ich versuche zu glauben, dass wir uns in unseren unruhigen Zeiten
keine Rückschritte erleben, uns nicht zurück in vergangene, längst überwundene Epochen flüchten.
Andererseits: In den USA bestreiten 40 Prozent der Bevölkerung die Evolutionstheorie. Das überrascht und erschreckt mich. Aber am Ende wird sich die Vernunft durchsetzen. Ich vertraue der Neugier. Wir wollen Antworten finden. Das wird Bestand haben.
artechock: Was war für Sie als Filmemacher die größte Herausforderung an Agora?
Amenábar: Das Geld für so ein Riesenprojekt zu beschaffen. Und sicherzugehen, dass wir dann unser Budget nicht überziehen.
Ich wollte verantwortungsvoll mit dem Geld umgehen, und den Zuschauern so viel wie möglich bieten: Eine Zeitreise ins antike Alexandria mit einem vergleichsweise begrenzten, aber optimal verwendetem Budget.
artechock: Ich finde es funktioniert sehr gut: Wie mit einem Fernrohr in die Vergangenheit zu blicken. Was an Ihrer Arbeit auffällt: Jeder Film ist ganz anders, als die Vorgänger. Ein Werk wie Agora steht automatisch im Vergleich mit Werken wie den großen Sandalenfilmen Hollywoods… Wie haben Sie sich vorbereitet?
Amenábar: Ja, ich habe mir zur Vorbereitung alle möglichen Historienfilme über das alte Rom angesehen: Spartacus, Ben Hur, Gladiator, Der Untergang des
Römischen Reiches und Cleopatra. Auch die Kostüm-Filme von David Lean.
Aber ab einem bestimmten Punkt in der Arbeit musste ich mich wieder von diesen Einflüssen befreien: Ich habe versucht, mir eine Zeitreise vorzustellen: Als ob ich mit meinem heutigen Wissen mit der Kamera in diese Vergangenheit reisen dürfte.
Was die Film-Architektur angeht, insbesondere das Bild dieses antiken Alexandria: Es wurde geradezu eine Obsession von mir, alles so
realistisch wie möglich zu gestalten. Es gibt eine Art Biographie der Stadt. Wir wissen zum Beispiel genau, wie das berühmte Bibliotheksgebäude aussah, wo es lag.
artechock: In dieser Hinsicht hat der Film fast die Qualität eines Dokumentarfilms…
Amenábar: Ja. Kino hat manchmal genau diese Eigenschaft: Es bringt dem Publikum etwas wieder bei, was es vergessen hat. Ich habe nichts gegen Erziehung, ich möchte meinem Publikum etwas vermitteln. Die digitalen Techniken funktionieren in dieser Hinsicht wie ein Türöffner. Aber sie verschließen auch einiges: Viele Filme tendieren zu völlig unglaublichen Kamerabewegungen, die Bilder sind übergroß, übermäßig bevölkert mit Menschen. Es geht vor allem um Masse: Massenaufmärsche – das sieht man gerade in Kostümfilmen. Aber das ist reine historische Fantasy: Es gab seinerzeit gar nicht so viele Leute. Verglichen mit einer heutigen Metropole war das antike Alexandria eine Kleinstadt.
Da sind die Kinobilder einfach irreal. Und man sieht den kleinen Menschenpunkten dieser digitalen Bilder in ihren dauernden ameisenhaften Bewegungen auch an, dass es Computerprogramme sind, die sie zum Leben erwecken. Auch die Kamerabewegungen sind völlig ausgedacht. Damit macht man dem Publikum mutwillig klar: Das, was ihr da seht ist gefälscht. Das alles finde ich unsinnig.
Ich habe versucht, mit Agora zu etwas mehr Realismus zurückzukehren, zu etwas mehr Bescheidenheit. Ich wollte das Publikum nicht betrügen. Die Grenze zwischen Aufnahme und digitaler Reproduktion sollte auch immer sichtbar bleiben, nicht verwischt werden. Das gilt zum Beispiel auch für das Spiel der Darsteller: Sie sollten wirklich mit dem Set interagieren. Bei diesen Blue- oder Green-Box-Passagen anderer Filme spürt man meiner Ansicht nach immer: Hier stimmt etwas nicht.
artechock: Das Geld kommt ganz und gar aus Europa?
Amenábar: Ja.
artechock: Das zeigt ja auch, was in Europa möglich ist. Man braucht kein amerikanisches Geld um Kostümfilme zu drehen.
Amenábar: Es ist alles eine Frage des Willens und der Prioritäten.
artechock: Es gibt auch einen inhaltlichen Unterschied zu den klassischen Hollywood-Kostümfilmen: Dort werden die Hauptfiguren fast immer christianisiert, oft sind es Kämpfer, die zu Quasi-Pazifisten mutieren. Hier sind eher die Bösen und die ambivalenten Charaktere Christen. Die Heldin ist dagegen eine Atheistin, die das Christentum als Fundamentalismus bekämpft. Andererseits gibt es auch keine Figur, die dezidiert antichristlich ist. Die findet man eher im Subtext.
Amenábar: Jede Figur hat eine eigene Biographie. Wir wissen, dass sich die historische Hypatia konstant geweigert hat, sich taufen zu lassen. Obwohl ihre besten Freunde Christen waren. Wir wollten Ungerechtigkeit zeigen. Das Christentum war in der Antike die Religion der Unterklassen. Christentum war eine fundamentalistische Revolte gegen den Rationalismus der Oberklasse, ein Sklavenaufstand.
Dieser Mönchs-Orden, den ich
zeige, die Palabanani, der sich in eine Armee verwandelt, begann als eine Gruppe, die sich um die Armen kümmert.
artechock: Sie erinnern uns heutige an die Revolutionsgarden im Iran, oder gar an die SS…
Amenábar: Ja, das sollen sie auch. Ich wollte in Agora nicht wie so viele andere Sandalenfilme nur von den Christen als Opfern erzählen. Christen waren auch Täter. Es ist nicht nötig noch einen x-ten christlichen Erbauungsfilm zu drehen, in denen Christen gefoltert werden, sich in Märtyrer verwandeln.
Solche Filme gibt es, und das ist auch in
Ordnung. Aber in einem späteren historischen Moment – und das zeige – ich, verlagerten sich die Gewichte: Die Christen bekamen die Oberhand, die Nicht-Gläubigen wurden nun Opfer einer Verfolgung, die oft noch radikaler und brutaler war, als die Christenverfolgung: Es war ein bildungs- und freiheitsfeindlicher Aufstand.
artechock: Die Macht korrumpiert die Menschen?
Amenábar: Ganz genau. Immer.
artechock: Vertrauen Sie trotzdem noch auf den Fortschritt? Was ist Ihre Perspektive auf die Geschichte, ihre Geschichtsphilosophie?
Amenábar: Die Geschichte ist eine Schleife. Keine exakte Wiederholung, aber ein paar Schritte vor und ein paar Schritte zurück. Etwas mehr vor, als zurück vielleicht.
artechock: Haben Sie einen Lektüretip? Für historisch Interessierte?
Amenábar: »Alexandria in Late Antiquity: Topography and Social Conflict« von Christopher Haas. Das habe ich gehörig ausgeschlachtet. Es ist sehr detailliert. Und auch die TV-Dokumentarfilme von Carl Sagan sind sehr empfehlenswert. Davon habe ich viel profitiert.
artechock: Was meinen Sie, was alle Ihre Filme über die Unterschiede hinweg verbindet? Worum geht es Ihnen überhaupt?
Amenábar: Tod ist mir sehr wichtig. Und wie der Tod das Leben berührt. Dann Wahrheitssuche: Alle meine Figuren – und ich hoffe auch ich selber – versuchen, irgendeine Wahrheit herauszufinden. Was immer sie ist und was immer es kostet. Und in meinen letzten drei Filmen wird Religion immer wichtiger.
artechock: Und stilistisch? Was möchten Sie als Filmemacher erreichen? Was sollen Filmhistoriker mal über Sie schreiben?
Amenábar: Oh, schwere Frage! Als ich auf der Filmhochschule war, wollte ich einfach mit diesem Beruf meine Miete verdienen. Ich hatte die Einstellung eines Söldners. Ich wollte nicht die Welt verändern. Mit den Jahren wurde das Filmemachen aber immer mehr eine Form, mich selbst auszudrücken und mit der Welt zu kommunizieren.
artechock: Meinen Sie, dass Ihre Filme eine stilistische Gemeinsamkeit haben?
Amenábar: Kino ist für mich natürlich eine Kunst. Meine Art Geschichten im Kino zu erzählen, ist aber sehr traditionell. Ich werde die Geschichte der Filmästhetik in keiner Weise verändern. Ich mag Genres und ihre Formeln. Was meine Filme vielleicht ein wenig unterscheidet, und speziell macht: Ich mag Metaphern, um aufzuklären. Meine letzten Filme starten immer mit sehr anspruchsvollen Absichten. Sie wie hier: Ich wollte nicht weniger, als die Geschichte der Astronomie erzählen. Aber ich wollte es sehr verständlich und einfach tun. Also: Das Schwere einfach machen – das ist die Gemeinsamkeit. Wären meine Filme unverständlich und kryptisch, wäre ich sehr unglücklich.
artechock: In welchem Verhältnis stehen Gefühl und Verstand in Ihren Filmen?
Amenábar: Dies ist ein Film über Ideen. Aber aus Ideen können auch Gefühle entstehen. Wenn man Vernunft nur als kalt, unflexibel und als Gegensatz von Emotionen verstünde, wäre das doch eine sehr eingeschränkte Sicht der Dinge.
artechock: Werden auch ihre nächsten Filme von Ideen handeln?
Amenábar: Einstein wäre der Stoff für so einen tollen Spielfilm!