24.12.1998

»Laßt uns aus der Geschichte lernen, und einander vergeben«

Bille August neben der Filmkamera
Bille August beim Dreh von Les Misérables
(Foto: Columbia Pictures)

Bille August über Les Misérables

Ein weih­nacht­li­ches Interview mit Bille August über Liebe und Vergebung, Nelson Mandela und Augusts neuen Film Les Miséra­bles, der morgen startet. Das Gespräch wurde Mitte Oktober von Rüdiger Suchsland geführt, und hier selbst­ver­s­tänd­lich ungekürzt (wie meistens!) und (wie immer!) ganz unma­ni­pu­lativ wieder­ge­geben.

artechock: Ist es nicht ein riskantes Abenteuer einen Film über einen Roman zu machen, der bereits Dutzende von Malen verfilmt wurde, den als Musical 40 Millionen Menschen gesehen haben. Wen inter­es­sieren Victor Hugos Les Miséra­bles noch? Welches Publikum schwebt Ihnen überhaupt vor?

Bille August: Den Roman kannte ich vorher gar nicht. Ich habe in der Schule ein paar Ausschnitte gelesen, aber das war es dann auch. Ich war viel zu jung, um wirklich zu begreifen, um was es ging. Und das Musical habe ich nie gesehen. Aber die Geschichte hat – soviel ich weiß – nicht viel mit dem Buch zu tun. Dann hat mir das Studio das Drehbuch von Rafael Yglesias gesendet, und ich war von seiner Kraft faszi­niert. Es ist eine der eindring­lichsten Liebes­ge­schichten, die ich je gelesen habe. Und eine Geschichte über die Notwen­dig­keit von Vergebung. Vergebung ist sicher das Haupt­thema. Unser Film ist, so scheint mir, sehr nahe an dem, was Victor Hugo wollte: Eine Apologie der Liebe, der größten Kraft der Menschen, und der Vergebung. Sie ist – das mag ich so an der Geschichte – ja die erste soge­nannte chase-story (Verfol­gungs­ge­schichte), die je geschrieben wurde, über einen Poli­zisten und ein unschul­diges Opfer, wie es Verjean in der Story ist. Aber die ganze chase-story hat nur die Funktion zu beweisen, das Liebe und Vergebung so einzig­artig sind. Es stimmt natürlich, daß es schon eine ganze Menge Verfil­mungen des Stoffes gibt. Aber als ich das Script gelesen habe, empfand ich das trotzdem als sehr moderne Geschichte. Denn es ist ein univer­selles Thema: In unserer heutigen Welt gibt es mehr Konflikte, als jemals zuvor. Und die Kluft zwischen Reich und Arm ist größer denn je. Die Aussage, daß wir einander vergeben und gemeinsam überleben müssen, ist aktuell genug. Jean Verjean hat Jahre im Gefängnis verbracht. Und er ist geläutert. Als Politiker will er seine Ideen in die Tat umsetzen. Wenn man sich heute umsieht: Nelson Mandela ist für mich ein moderner Jean Verjean. Er hat Südafrika gerettet. Auch er hat begriffen, daß sein Land nur durch Vergebung überleben kann. Er hat keinerlei Rache­ge­fühle. Wir müssen aus der Geschichte lernen. Wir sollten niemals die Vergan­gen­heit vergessen, aber wir sollten beginnen, aus den Geschichts­büchern profi­tieren. Wenn wir sehen, was in Jugo­sla­wien passiert ist, und immer noch passiert: Immer geht es um Rache, darum, was irgend­je­mandes Großvater irgend­je­mandes anderem Großvater angetan hat – das ist so unsinnig ! Rache setzt sich immer fort. Irgend­wann wird sie wieder ausbre­chen. Irgend­einer muß aufstehen, und sagen: Ok, laßt uns das alles vergessen, laßt uns aus der Geschichte lernen, und einander vergeben. Und das versucht mein Film auch zu sagen.

artechock: Ist das für sie ein christ­li­cher Gedanke, oder geht es um anderes?

August: Es ist auch etwas Christ­li­ches darin. Aber ich bin selbst nicht religiös. Mir geht es um Dinge, die alle angehen, unab­hängig von Religion.

artechock: Ihr 19.Jahr­hun­dert wirkt sehr zeitgemäß. Haben Sie die Figuren moder­ni­siert?

August: Ich habe mit dem Dreh­buch­autor viel darüber disku­tiert, ob man die Geschichte auch in der Gegenwart spielen lassen könnte. Aber das hätte viele logische Probleme aufge­worfen. Schließ­lich geht es um einen Mann, der in seinem Leben ein einziges Verbre­chen, einen Diebstahl, begeht, und dafür eine fast lebens­läng­liche Strafe erhält. Das wäre heute so nicht mehr möglich. Auch nicht, daß er Bürger­meister wird, und alle über seine Vergan­gen­heit täuschen kann. Also entschieden wir: Lassen wir es in der ursprüng­li­chen Zeit spielen, aber versuchen wir die Menschen so modern erscheinen lassen, wie es noch gerade möglich ist, ohne irgend­einen Mist zu machen. So ließen wir die Kostüme, die Kulissen und alles, was man sieht, sehr authen­tisch, und moder­ni­sierten die Gefühle, die Verhal­tens­weisen der Menschen.

artechock: Sie haben die meiste Zeit in der Tsche­chi­schen Republik gedreht. Warum?

August: Wir fuhren nach Frank­reich, wo die Geschichte spielt, nach Paris. Aber es ist nahezu unmöglich, in Paris einen Kostüm­film zu drehen. Und außer wenigen Szenen konnten wir im Prinzip überall drehen. Die Geschichte heißt Les Miséra­bles, also sollte es schon wirklich elend aussehen, so wie die armen Gegenden West­eu­ropas im 19.Jahr­hun­dert eben aussahen. Und es ist eines der besten Dinge am Kommu­nismus, daß sie sich kaum Neubauten leisten konnten, und die alten Gebäude stehen ließen. So fanden wir eine fast ideale Umgebung vor.

artechock: In Ihren anderen Filmen geht es ebenfalls um sozi­al­re­vo­lu­ti­onäre Ideen und Bewe­gungen. Ist es dieses Thema, daß diese sonst sehr verschie­denen Geschichten mitein­ander verbindet?

August: Natürlich inter­es­sieren mich zuerst einmal Menschen. In allen meinen Filmen geht es um Bezie­hungen zwischen Menschen und um Gefühle, und darum, was mit Menschen in unserer Gesell­schaft passiert. Darum inter­es­sieren mich auch soziale Aspekte und bis zu einem gewissen Grad die Frage, wie Politik die Menschen mani­pu­liert, und wie sie in deren Leben eingreift. Aber dezidiert poli­ti­sche Filme mag ich überhaupt nicht. Die sind genauso mani­pu­lativ und korrupt. Aber Menschen in ihrem sozialen Kontext inter­es­sieren mich sehr. Und ganz konkret handelt Victor Hugos Geschichte natürlich von sehr armen Leuten, die versuchen, ihre Armut zu über­winden, und eine Würde zu bekommen. Und sie handelt außerdem von der Zeit der Juli­re­vo­lu­tion in Frank­reich. Aber so etwas ist in einem Film nur inter­es­sant, wenn es direkt etwas mit dem Leben der Figuren zu tun hat. Durch die Tochter der Haupt­figur, die einen Revo­lu­ti­onär liebt, wird die Revo­lu­tion zu einem direkten Teil seines Lebens. Auf diese Art kann man das machen. Wenn es eine emotio­nale Bedeutung hat. Was ich an der Geschichte wirklich mag, ist das sie sehr straigth vorwärts erzählt ist, nicht zu intel­lek­tuell. Schließ­lich geht es um Emotionen und große Lebens­fragen: Liebe, Rache, Opfer. Das mag ich an Victor Hugo: Er schreibt über große Themen, aber sehr nach­voll­ziehbar und eingängig.

artechock: Wie schätzen Sie selbst Ihren Film ein: Ist das ein Film eher europäi­schen Zuschnitts, oder ein Hollywood-Drama. Mir scheint die Geschichte zu kompli­ziert um Holly­woods Styling zu entspre­chen. Und auch wie Uma Thurman gezeichnet ist, als arme Prosti­tu­ierte, die wort­wört­lich im Dreck lebt, das scheint mir alles etwas zu wenig hollywood-like. Wie schätzen Sie selbst Ihren Film ein?

August: Der Film hat einen inter­na­tio­nalen Stil. Die Ameri­kaner können das schon akzep­tieren, und der Film ist dort gut gelaufen. Ein Riesen-Block­buster ist das natürlich nicht. Allzu intel­lek­tuell anspruchs­voll ist der Film nicht. Ich finde ihn sehr straight vorwärts erzählt, in gewisser Weise richtig simpel. Aber natürlich nicht Main­stream.

artechock: Wie ist der Titel in den USA?

August: Auch Les Miséra­bles.

artechock: Wirklich? Auf Fran­zö­sisch?

August: Ja. Ich glaube der Titel wurde in der ganzen Welt beibe­halten.

artechock: Mit Dreh­buch­autor Rafael Yglesias, der auch schon für Roman Polanski und Peter Weir das Script schrieb, arbeiten Sie jetzt schon wieder zusammen? Was ist das für ein neues Projekt?

August: Es heißt Scott and Amundsen, und handelt von diesem span­nenden Wettlauf zum Südpol im Jahr 1912. Bernd Eichinger ist der Produzent. Nach Fräulein Smillas Gespür für Schnee werde ich also wieder in der Polar­re­gion drehen. Die Arbeit an diesem Thema hat auch in der Zeit ange­fangen, als ich Smilla gedreht habe. Die Arktis hat mich faszi­niert. Noch nie hatte ich wie in diesen Wochen das Gefühl, wenigs­tens ein bißchen näher daran zu sein, zu verstehen, was Ewigkeit bedeutet. Wenn man in dieser enorm drama­ti­schen Land­schaft ist, fühlt man sich als Mensch plötzlich ganz winzig. Die einzige Möglich­keit, überhaupt in dieser völlig wüsten Land­schaft zu überleben, ist Respekt vor der Natur, ein tiefer Respekt vor all dem, was immer Natur ist. Man versteht dort seine Rolle als Mensch im Universum.

Mich faszi­niert dieser Teil der Welt sehr. Dann habe ich all die Bücher gelesen über die Entde­ckung und Eroberung dieser Gegend. So kam ich auch auf Scott und Amundsen. Eine unglaub­liche Geschichte. Was daran besonders inter­es­sant ist, ist folgendes: Scott war britisch, sehr britisch. Man muß ihn natürlich vor seinem Hinter­grund sehen: Vikto­ria­ni­sches Zeitalter, Impe­ria­lismus, sehr arrogant. Er entschied, als erster zum Südpol zu kommen. In der Vorbe­rei­tung mißach­tete er alle Ratschläge der Eskimos. Er dachte sich: was haben diese Primi­tiv­linge schon für eine Ahnung. Scott war ein Kind seines Landes, er reprä­sen­tiert das Denken eines ganzen Jahr­hun­derts in England: Das es Menschen gibt, die einfach überlegen sind, und das ihnen im Prinzip die Welt gehört, und sich alles kontrol­lieren läßt. Ich will gar nicht Scott als Person kriti­sieren, eher seine ganze Gene­ra­tion, das impe­ria­lis­ti­sche Denken und diese Art von Arroganz. Scott starb bekannt­lich bei der Expe­di­tion. Weil ihm der Respekt vor der Natur fehlte. Er war zu gierig. Außerdem war Scott Mili­tär­of­fi­zier. Er hatte die volls­tän­dige Verant­wor­tung für das, was mit seiner Expe­di­tion passiert ist. Denn er gab die Befehle, und niemand hatte das Recht, sie in Frage zu stellen. Er war gar nicht in der Lage, auf irgend­eine Empfeh­lung zu hören. Auf dem Weg zum Pol gab es viele Möglich­keiten, umzu­kehren und sein Leben zu retten. Aber er war zu ehrgeizig und arrogant, um das überhaupt in Betracht zu ziehen. Und auf der anderen Seite haben wir den Norweger Amundsen mit großem Respekt für die Natur, insbe­son­dere die Polar­re­gion. Amundsen war ein sehr beschei­dener Mann. Und ein guter Leader: Voller Zurück­hal­tung, er hörte viel zu, versuchte an alle Infor­ma­tionen heran­zu­kommen, die er erhalten konnte, und gab keine Befehle, sondern allen­falls Ratschläge. Amundsen hat es geschafft.

artechock: Also die Message Ihrer Filme ist: Mehr Respekt haben?

August: In gewisser Weise schon, ja. Wir müßen verstehen, was unsere Position auf der Erde ist, wir müssen Milde zeigen, und Respekt für alle Menschen, und unsere Umwelt. Wir sollten uns nicht überlegen fühlen. Es ist ein Ausdruck von Unreife, daß wir uns immer so wichtig nehmen, und hoch über allem anderen plazieren müssen, anstatt Respekt vor anderem Leben zu haben.

artechock: Hätten Sie nie Lust, einen Action­film machen?

August: Oh, dafür bekomme ich viele Angebote. Die meisten Action­filme finde ich sehr lang­weilig. Ich sage gar nicht, daß sie schlecht sind, und viele Regis­seure sind ganz faszi­niert von Explo­sionen und aller Art von Pyro­technik. Aber es ist einfach nicht mein Ding.

artechock: Noch einmal zurück zu Les Miséra­bles: Der Bad Guy, Inspektor Javert, den Geoffrey Rush spielt, ist auch so eine Art vikto­ria­ni­scher Charakter, wie Scott. Mir erschien er nicht ausschließ­lich böse. Er reprä­sen­tiert auch Gerech­tig­keit, natürlich in einer sehr spezi­ellen, radikalen Form. Eine jako­bi­ni­sche Gerech­tig­keit, im Stil von Robess­pierre.

August: Ja, auch er glaubt an Law and Order und bestimmte Werte. Er ist für mich eher ein Kenneth Starr. Er könnte jeden Bürger nehmen, und beschließen, ihn zu verfolgen. Und dann findet er Jean Valjean, der aus seiner Sicht alle betrogen hat, der berühmt ist, und wie Kenneth Starr stürzt er sich mit allen Mitteln auf diese eine Person. Kenneth Starr unter­höhlt den Boden der ameri­ka­ni­schen Demo­kratie, nur um einen perversen Begriff von Gerech­tig­keit in die Tat umzu­setzen. Ohne Respekt vor der Inte­grität einzelner Menschen. Er ist besessen von Law and Order. Ja, beide sind sehr ähnlich.

artechock: Und wie erklären Sie dann das Ende? Inspektor Javert bringt sich um. Kapi­tu­liert da diese Kenneth-Starr-Gerech­tig­keit?

August: Es gibt eine Situation: Valjean hat die Möglich­keit, Javert zu töten. Der Mann, der ihn Jahr­zehnte lang verfolgt hat, der ihn zurück ins Gefängnis bringen will, der sein Leben zerstört hat, ist in seiner Hand. Aber er verschont ihn, er zeigt Mensch­lich­keit und Vergebung: »Du bist frei und kannst gehen.« Als Javert das geschieht, erkennt er: Menschen können sich ändern, sie können an sich arbeiten. Er sieht Güte und begreift: Vergebung ist möglich. Da ist etwas mit Javert passiert. Und darum verschont er Valjean seiner­seits, als der ihm kurz darauf umgekehrt in die Hände fällt. Aber damit hat er selbst ein Verbre­chen begangen. Und er hat immerzu alle bestraft, die jemals ein Verbre­chen begangen haben, darum bestraft er auch sich selbst. Er muß den Preis bezahlen (für die Freiheit, die er sich genommen hat).

artechock: Sehr prin­zi­pi­en­fest. Das heißt dann also doch, daß das Prinzip, auf dem sein ganzes Dasein beruht, noch bis in den Tod hinein funk­tio­niert. Auch im aller­letzten Moment. Da sind sich Javert und Valjean im Grunde sehr ähnlich.

August: Ja, das mag ich an diesen Figuren. Sie sind wie Nordpol und Südpol, wie Ying und Yang, da ist eine große Nähe zwischen ihnen. Und das ist natürlich auch ein Teil der Obsession, die Javert als Verfolger für sein Opfer empfindet: Etwas in Valjean zieht ihn stark an.

artechock: Aber Valjean konnte sein Leben ändern. Er war 19 Jahre im Gefängnis, danach war er ein anderer Mensch. Warum kann sich Javert nicht ebenfalls ändern.

August: Weil er nie „seinen“ Bischof getroffen hat [Anm. d.Red.: Die Haupt­figur Valjean beginnt ein neues Leben, weil sie durch einen verge­benden Bischof 'bekehrt' wird.]. Aber ganz am Ende der Geschichte trifft er ihn in Gestalt von Valjean. Und ändert sich. Das ist der Höhepunkt der ganzen Geschichte, auf diesen Moment kommt es an. Er begreift, daß Liebe und Vergebung exis­tieren. Aber er kann sich selbst diesen Irrtum nicht vergeben. Darum bringt er sich um. Die Sieger in diesem Film sind Liebe und Vergebung. Das ist der ganze Punkt.

artechock: Finden Sie selbst, daß man so „gut“ handeln sollte?

August: In Südafrika ist das geschehen. ... [LÄNGERE PAUSE] ... Mehr kann ich nicht sagen... Wie ich schon gesagt habe: Es gibt so viele Konflikte. Irgend­je­mand muß den Teufels­kreis durch­bre­chen, ich würde mir wünschen, daß ihn irgend­einer durch­bre­chen könnte. Ich meine: Das ist sehr sehr sehr kompli­ziert. Zu seinem Gegner zu gehen, und zu sagen: Ok, Leute, laßt uns aufhören. Jetzt gleich.

artechock: Das klingt sehr christ­lich. Man muß sich selbst aufgeben.

August: Ja, das ist der einzige Weg, sonst setzen wir endlos die Geschichte fort. Meine Furcht ist: Die Zahl der Krisen in der Welt steigt, sie geht nicht etwa zurück, sondern wächst und wächst. Und ich meine: In Südafrika ist das möglich gewesen. Und in Chile nach Pinochet auch [Anm. d.Red.: Das Interview wurde -wie erwähnt- Mitte Oktober geführt]. Die Leute haben gesagt: Ok, Du hast meinen Bruder getötet, aber wenn ich jetzt Dich töte, gibt mir das sein Leben nicht zurück. Wir wollen keine Rache, das gab es lang genug. Laßt uns daraus lernen. Das ist natürlich sehr, sehr kompli­ziert.

artechock: In Chile war es ja eigent­lich ein bißchen anders, da wurde die Demo­kra­ti­sie­rung von Außen erzwungen.

August: Ja, das stimmt, aber trotzdem (»Yes, that’s true, but anyway«).

artechock: Würden Sie gerne 'mal einen Film in Jugo­sla­wien drehen, über Vergebung?

August: Nein. Aber es ist immer die Story. Wenn ich ein Script lese, und das Gefühl habe: Das ist bedeutend, das hat eine gewisse Dimension, dann möchte ich es machen. Dann werde ich verrückt danach. Ich kann nicht sagen: Die und die Umgebung inter­es­siert mich. Es muß ein gutes Drama sein.

artechock: Es muß ein gutes Drama sein, es muß eine gute Story sein, aber es darf nicht zu politisch sein?

August: Nein, ich mag nur keine tradi­tio­nellen „poli­ti­schen Filme“. Ich habe einfach noch keinen einzigen gesehen, bei dem ich mir nicht mani­pu­liert vorkam.

artechock: Was ist denn eigent­lich so schlimm an Mani­pu­la­tion? Finden Sie nicht, daß Film auf die eine oder andere Weise immer mani­pu­lativ ist? Sie möchten doch offenbar die Zuschauer auch mani­pu­lieren, mehr zu vergeben.

August: Ja ! ... Aber was Filme ... Wenn sie mit konkreten poli­ti­schen Themen zu tun haben ... Ich mag es in einem Film nicht, wenn versucht wird, so direkt die Realität zu mani­pu­lieren, wissen Sie. Ich finde, es ist besser... Auch in Les Miséra­bles geht es selbst­ver­s­tänd­lich um poli­ti­sche Themen. Aber es ist dann auch wieder Fiction. Wir versuchen nicht zu behaupten, einen politisch korrekten Film zu machen. Das ist Fiction. Aber natürlich ist es immer auch eine Mani­pu­la­tion.

artechock: Wenn Sie sich völlig frei einen Filmstoff aussuchen könnten, ein belie­biges Thema, welches würden Sie dann wählen?

August: Es ist total verrückt: Ich lese so viele Scripts, ein bis zwei Dreh­bücher bekomme ich am Tag. Wenn ich mich selbst vergesse, dann weiß ich: Das ist eine gute Geschichte. Es ist mein Instinkt. Wenn ich emotional berührt bin, und es auch moralisch Sinn macht.

artechock: Mit welchen Schau­spie­lern würden Sie gern drehen. Haben Sie da bestimmte Träume?

August: Das ist immer von den Rollen abhängig. Wenn ich die Geschichte lese, dann sehe ich jemanden vor mir. So fängt es an.

artechock: Sie sind also keiner, der immer wieder die gleichen Schau­spieler nimmt, wie Martin Scorsese zum Beispiel

August: Wissen Sie Scorseses Universum ist etwas so Spezi­elles: Es ist so verbunden mit New York, mit italie­ni­schen Einwan­de­rern in New York. Und er erzählt immer wieder die gleiche Geschichte, mehr oder weniger.

artechock: Manchmal macht er auch so etwas wie Kundun.

August: Ja, stimmt. [LACHT].

artechock: Fühlen Sie sich als univer­sel­lerer Regisseur, als einer, der nicht immer die gleiche Geschichte erzählt?

August: Es muß eine Heraus­for­de­rung sein. Ich möchte nie zurück gehen. Als ich Pelle der Eroberer gemacht habe, bot man mir von überall solche Geschichten an, man hielt mich für einen Spezia­list. Ich habe alles abgelehnt. Es muß etwas anderes sein. Als ich Smilla gemacht habe, wollte ich endlich einmal etwas machen, das in der Gegenwart spielt. Ich habe so viele Kostüm­filme gedreht. Dann hatten wir mit dem Projekt so viele Probleme, aber das ist eine andere Geschichte. Ich versuche mich immer wieder zu stimu­lieren.

artechock: Die meisten Ihrer Filme sind Lite­ra­tur­ver­fil­mungen. Gibt es dafür einen bestimmten Grund. Sind Sie mehr Leser, als Filme­ma­cher? Terry Gilliam hat neulich gesagt: »Ich möchte, daß die Leute mehr lesen«.

Bille August: Das sage ich überhaupt nicht. Das sind alles nur Zufälle. Ich wünschte mir, Les Miséra­bles wären ein Origi­nal­dreh­buch. Man fragt mich das immer wieder. Aber es ist alles nur ein Zufall. Und ich würde auch sagen: Man sollte bei einem berühmten Buch erst einmal eine Weile warten, bevor man es verfilmt.

artechock: Aber lesen Sie das Buch nicht immer vorher? Oder doch?

August: Nein, nein. Bei Les Miséra­bles las ich dieses fantas­ti­sche Script, und dachte während­dessen immer: Nein, nicht schon wieder eine Lite­ra­tur­ver­fil­mung. Aber am Ende sagte ich zu mir selbst: Zum Teufel auch, ich liebe die Geschichte, es ist eine wichtige Geschichte, sie hat soviel mit unserer Gesell­schaft zu tun, und ich muß sie einfach erzählen. Aber es ist eben nicht so, daß ich ganz auf Literatur und ihre Verfil­mung versessen sei.

artechock: Manche hassen ja Lite­ra­tur­ver­fil­mungen geradezu, weil sie die Bilder zerstören, die man sich als Leser im Kopf macht.

August: Ja, ich weiß.